Die Furcht vor Überfremdung treibt Blüten in Deutschland. Weisen muslimische «Parallel- und Gegengesellschaften» die Zukunft? Erweckungserlebnisse sorgen unter Beobachtern für kulturkämpferisches Grübeln.
Wohin er sich dieser Tage auch wendet, bang fällt des Apokalyptikers Blick auf die Migranten. Entweder die Deutschen sterben demnächst alle an der Vogelgrippe. Oder aber es kommt so böse, wie die Warner vor islamischer Fremdherrschaft meinen. Opfer von Zuwanderung – der gefiederten aus der Luft oder der menschlichen – wäre Deutschland in beiden Fällen. Sollten also brave Teutonen verschont bleiben von der absehbaren Verwandlung des Virus H5N1 ins Pandemische, wird es ihnen über kurz oder lang ergehen wie Asterix in Gallien: Während ganz Deutschland von gebärfreudigen Muslimen besetzt ist, halten die schrumpfenden Reste der deutschstämmigen Bevölkerung auf den Dörfern die Stellung. In den Metropolen mögen sich hier und da einige «deutsche Viertel» ausmachen lassen, in denen die Sprache Goethes (der ja von den Jenaer Muslimen auch schon als einer der Ihren gekürt wurde) noch nicht verklungen, der Geist des Grundgesetzes noch nicht der Scharia gewichen und nicht jede christliche Kirche in eine Moschee verwandelt ist. Ein Leben in Parallel- und Gegengesellschaften wäre das dann, ähnlich dem, wovor Provinz- und Bundespolitiker im multikulturellen Berlin schon um die Jahrtausendwende warnten. Nur daß es künftig nicht die Ausländer zur Ghettobildung triebe, sondern Alteingesessene.

Parolen und Ängste

Schade, daß wir nicht die Gaben eines Jonathan Swift besitzen, um dieses Szenario sarkastisch auszumalen. Satire böte keine schlechte Tinte, um den zurzeit verstärkt ausgerufenen «Kampf der Kulturen» hineinzutunken. Andererseits liefe die Überzeichnung Gefahr, für bare Münze genommen zu werden. Schließlich ist man ja auch vielfach bereit, die aggressiven Parolen islamistischer Wirrköpfe als repräsentative Meinungsäußerungen der muslimischen Welt anzusehen. Auf den Websites der ums deutschnationale Wohl besorgten Autochthonen fungieren jene Parolen als Beleg dafür, wie begründet die eigenen Ängste sind. Nachrichten von Katholiken aus einer Gemeinde in Duisburg, denen türkische Gläubige die andere Straßenseite gewiesen haben sollen, da der Bürgersteig vor der örtlichen Moschee islamisches Territorium sei, wechseln sich ab mit zitierten Drohungen des Schlages «Wir gebären euch kaputt», angeblich geäußert von Damen mit Kopftuch. – Zur Minderheit im eigenen Land zu werden, verheißt einen Schrecken ohne Trost, denn bei diesem Heimatverlust stirbt auch die Hoffnung, irgendwann zurückkehren zu können – eine Illusion, die ein Migrant immerhin noch hegen mag.
Aufgeschreckt durch ein Erlebnis mit seinem Sohn, den junge Türken beim Fußballspielen ein «Christenschwein» gerufen haben, hat Botho Strauss kürzlich den Heimatverlust gleichsam als Zangenbewegung beschrieben: Zum einen werde der «zur Mehrheit tendierende Anteil der muslimischen Bevölkerung von Amsterdam und anderen Metropolen» eine Kraft, welche «unsere Toleranz bald nicht mehr» brauche. Zum anderen mache die profane Moderne aus Menschen wie seinem christlichen und heimatverbundenen Sohn ohnehin eine Minderheit. «Es wird ihm», schreibt Strauss, «sein inneres Hab und Gut eher streitig gemacht von den Zwängen der Anpassung, der Vorteilssucht und des Karrieredenkens als von den Strenggläubigen des Propheten.»

Tal der Wölfe

Gegenüber der funktionalistischen, typisch westlichen Entheiligung der Welt hat die islamische Orthodoxie ihre Vorzüge – auf diese Pointe bei Botho Strauss wird noch zurückzukommen sein. Vorher aber sei zur Abrundung des Bildes, das die deutsche Kulturkonflikt-Debatte zurzeit bietet, der türkische Film «Tal der Wölfe» eingeschoben. In Deutschland beschert der Streifen manchem Feuilletonisten das Nämliche, was schon dem Kulturelegiker Strauss widerfuhr: ein Erweckungserlebnis. Dafür sorgen anstelle der «Christenschwein» rufenden Jugendlichen auf dem Fußballplatz nun türkische Familien im Kino, die jubelnd die Erdolchung eines imperialistischen Amerikaners gutheißen, antisemitischen Klischees frönen und dem türkischen Nationalismus die Zügel schießen lassen. Düster sinnierte ein (sic! blonder) junger Mann unter dem Eindruck des Kinobesuchs, «welche Integrationsprobleme ich und all die viel Jüngeren in einigen Jahrzehnten bekommen».

Soziologische Provokation

In den Abgesängen auf den Multikulturalismus bricht eine Wut auf, die Migranten «endlich» einmal Mores zu lehren, nachdem man laut eigener Einschätzung bis hierher stets Laisser-faire habe walten lassen. Hier klingt die Stimme einer Pädagogik durch, die auf anderem Terrain, dem der Familie und der Schule, seit geraumer Zeit das Grenzensetzen predigt. Botho Strauss pflegt andere Töne. Wenn bei ihm im Konflikt der Werte die westliche Gesellschaft zu unterliegen droht, dann nicht, weil es ihr an Härte fehlt, sondern an Geist, Traditionsstolz, Religion, Emphase, sozialer Wärme.

Hierarchien der sozialen Verantwortung,

Der Islam erscheint Strauss als Mekka der Bindungskräfte, und die als Parallel- und gegengesellschaft geschmähte muslimische Enklave in europäischen Großstädten nennt er eine «Vorbereitungsgesellschaft» und schreibt: «Sie lehrt uns andere, die wir von Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit abhängiger sind als von der eigenen Familie, den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich- Gültigkeit, die Regulierung der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt in Not und Bedrängnis.»
Vorbereitung verweist auf Zukunft. Allein schon terminologisch erhebt Strauss die islamische Gesellschaft zum wegweisenden Modell. Das ist nicht nur eine publizistische, das ist eine soziologische Provokation. Für Systemtheoretiker hieße das: Sie müßten ihre Vorstellung von «Weltgesellschaft» gravierend modifizieren, wenn nicht verwerfen. Als weltgesellschaftliche Trends auf der Basis globaler Kommunikation und funktionaler Differenzierung gelten: Auflösung familiärer Produktion, Abhängigkeit des Lebens von Technik, Übertragung von Erziehung und Ausbildung auf Schulen und Universitäten, Verflechtung internationaler Organisationen, Industrialisierung und Verstädterung, um nur einiges zu nennen.

Seien wir entschiedene Vertreter des Konzepts «Weltgesellschaft», und verstehen wir uns überdies als kulturelle Komponenten einer Idee der Menschenrechte und der Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Umso wichtiger werde es in der Weltgesellschaft, daß Kulturen nicht aggressiv-missionierend auftreten, andernfalls sei ihnen eine Führungsrolle versagt.

Islamischer Fundamentalismus käme in einem solchen Konzept allenfalls als Nachtseite der Weltgesellschaft unter, nicht als Modell. Doch könnte sich nicht vielleicht ein moderater Islam dem Universalgesetz der funktionalen Differenzierung fügen und gleichwohl seine Bindungswärme erhalten? Oder läßt, und das wäre der Ausbruch aus dem Stahlgehäuse der Moderne, ganz im Gegenteil seine soziale Temperatur den weltgesellschaftlichen Funktionalismus schmelzen?

Jürgen Gottschling

Okt. 2006 | Allgemein, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren