68er – was wir wirklich woll(t)en

Zwischen Aktivismus und Hedonismus: Was haben junge Leute für Perspektiven in einer Gesellschaft, in der am liebsten alle „forever young“ wären? Über ihre Zukunft zu sprechen scheint paradox. Träfe das dann nämlich wirklich zu, wäre die künftige Gesellschaft schon in den Merkmalen sichtbar, die ihre gegenwärtige Jugend charakterisieren.

Man müsste solche Merkmale – beispielsweise politische Skepsis oder Aktivismus, Karriereorientierung oder Hedonismus – nur verlängern, um ein Bild der nächsten Zukunft zu bekommen. Die Zukunft der Jugend wäre dann nicht viel mehr als ihre entfaltete Gegenwart. Entsprechend werden die berühmten „Jugendstudien“, Umfragen also unter Schülern und Studenten, gern mit sorgenvollen Blicken darauf gelesen, ob die aus der gegenwärtigen Jugend herausdestillierte Zukunft den „Alten“ auch wünschenswert erscheinen kann.

Der Versuch, die Jugend zu charakterisieren und das Ergebnis dann für zukunftsträchtig zu erklären, trifft jedoch auf eine grundsätzliche Schwierigkeit. Als Jugend wird erst seit zweihundertfünfzig Jahren ein prominenter Übergang im Lebenslauf von Individuen bezeichnet. Zuvor gab es, kurz gefasst, Kindheit und Erwachsensein, aber keinen eigenständigen Zeitraum dazwischen. Der Übergang in die Rollen der Erwachsenen erfolgte für jüngere Mitglieder der Stände früh, das Tempo der Sozialisation war hoch. Im Roman „La Princesse de Clèves“ der Madame de La Fayette wird 1678 das Erstaunen darüber notiert, dass eine Frau in ihren Zwanzigern überhaupt noch die Aufmerksamkeit eines Mannes zu finden vermochte.

Trennung von Familie, Schule und Arbeit

Das ändert sich, wenn es Jugend gibt. Oder besser: wo es Jugend gibt, denn es existieren nach wie vor Weltgegenden, in denen sehr früh geheiratet wird, die Bildungsphasen kurz sind und wenig Romantik auf dem Status der Jugendlichen liegt. Im Westen und in den urbanen Zentren jedoch erfolgt der Eintritt in das Erwachsenendasein schon lange nicht mehr über eine Schwelle, sondern durch einen weiten Raum hindurch und in einer ganzen Reihe von Stationen. Die Gründe dafür liegen vor allem in der Trennung von Familie, Schule und Arbeit. Der Bildungsbedarf moderner Gesellschaften ist hoch, der Nachwuchs wird nicht einfach im Nahfeld seiner Herkunft sozialisiert, sondern für Aufgaben erzogen, die lange Zeit unbestimmt bleiben.

Jugendlich sein heißt darum trotz der Drängelei von Bildungspolitikern: warten müssen und warten dürfen. Zwischen Müssen, also dem allmählichen Erwerb von Zertifikaten, und Dürfen, dem Nutzen von Freiräumen zu ermäßigten normativen Tarifen, sieht sich darum jede Jugend in einer ambivalenten Zwischenlage. Historisch ist sie immer länger geworden. „Der moderne Mensch verbringt einen erheblichen Teil seines Lebens als Jugendlicher“, formulierte der Soziologe Friedrich Tenbruck schon vor gut einem halben Jahrhundert. Die derzeitigen Definitionen dieser Altersphase reichen vom zwölften bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr und darüber hinaus.

Bildung heißt Suche

Jugendliche können, was Änderungen ihres Verhaltens angeht, darum rigoroser sein, ohne dass es ihnen vorgeworfen werden kann. Wenn von einem Lebenslauf Konsistenz erwartet wird, ist Jungsein ein Entschuldigungsgrund dafür, von solchen Erwartungen temporär abzuweichen. „Was soll aus mir werden?“, lautet die jugendliche Frage, aber die Gesellschaft gibt darauf keine konkrete Antwort mehr. Die Rücksicht auf entsprechende Versuchshandlungen betrifft viele Gebiete, vom Beruf über die Religion und das Geschlecht bis zu den politischen Einstellungen oder der Einstellung zu Gewalt. Die ebenfalls um 1800 aufkommende Gattung des Bildungsromans nahm sich dieser Besonderheit von Jugendlichen an, erst durch Probehandeln erwachsen zu werden und idealerweise durch eigene Einsicht oder durch Anpassung („Entsagung“) feste Verhaltensweisen auszuprägen.

Für die Prognostik, die sich an gegenwärtige Jugendliche anschließt, ist das fatal. Denn wenn jung sein unbestimmt sein heißt, lässt sich aus Umfragen unter Jugendlichen oder dem Versuch, ihnen den Puls zu fühlen, nicht viel gewinnen. Rückblicke machen diese Schwierigkeit vielleicht plausibel. Wer hätte etwa in den Zwanzigjährigen von 1968 schon die Vierzigjährigen von 1989 erkannt? Und welche heute Fünfzigjährigen könnten eine gerade Linie von ihrer Jugend in ihre gegenwärtige Situation ziehen?

Das zwingt dazu, die Frage nach der Zukunft der Jugend anders zu stellen. Zum einen muss gefragt werden, ob es spezifische Umstände des Aufwachsens gibt, die heutige Jugendliche von früheren unterscheiden. Zum anderen sind die Folgerungen aus dem Ideal des Jungseins selbst zu betrachten, das in modernen Gesellschaften gepflegt wird.

Beide Fragen hängen miteinander zusammen. Denn eine Besonderheit des Jungseins ist es seit Langem, ständig auf Deutungen zu treffen, was es mit diesem Zustand auf sich hat. Einerseits sollen auch Jugendliche erwachsen werden, und sie sehen sich auf eine Welt zulaufen, in der für sie Wahlen, Führerscheine, Berufe, Ehen und Scheidungen, jede Menge Verträge und womöglich Ersparnisbildung oder Migrationszwänge vorgesehen sind. Sie leben insofern im Zustand des „noch nicht, aber bald“.

„Alt“ ist zumeist eine Fremdbezeichnung

Andererseits wird ihnen zugerufen, dass sie ihr Jungsein nutzen sollen und dass Jugend ein privilegierter Status ist. Die Konsumgüterindustrie ist hier das stärkste Beispiel. Sie hat die Jugendlichen, zunächst in den westlichen Wohlfahrtsstaaten, dann weltweit, als hoch ansprechbare Käufergruppe entdeckt, die durch Konsum sich an ihre „Identität“ herantastet. Sie hat aber auch die für solche Industrien erfreuliche Erfahrung gemacht, dass die entsprechenden Festlegungen die jugendliche Identität weit überdauern. Man konnte die Rolling Stones, lustige Taschenbücher mit Enten oder Jeans nicht nur an Jugendliche verkaufen, sondern auch an dieselben älter werdenden Personen immer wieder aufs Neue. Hinzugekommen sind also die Anstrengungen auch von älteren Personen, sich Jugendlichkeit zu erhalten. Weltweit sind die Menschen daher immer länger jung. „Alt“ ist zumeist eine Fremdbezeichnung.

Eine Art Nostalgie in Bezug auf die eigene Jugend kann so ohne kulturpessimistischen Unterton tatsächlich ausgelebt werden. Früher, als wir jung waren, muss nicht alles besser gewesen sein, denn wir sind gar nicht gezwungen, hier eine Verlusterfahrung zu machen. Aus dem Früher sind wir ja nur biologisch heraus. In gewisser Hinsicht ist, wer so fühlt, tatsächlich „forever young“, auch wenn seit Dorian Gray die Hypotheken dieser Einstellung bekannt sind. Die kulturelle Jugendlichkeit hat sich also immer stärker von der Lebensphase abgelöst. Dass die Lebenserwartung in vielen Regionen stark angestiegen ist, tut ein Übriges. Es werden Leute, die sechzig sind, als jung angesprochen, Mittdreißiger gelten mancherorts als Nachwuchs.

Aber nicht als Jugendliche. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der die Unterscheidungen „jung/alt“ und „jugendlich/erwachsen“ nicht mehr übereinstimmen. Zur Zukunft der Jugend gehört es darum, dass sie sich in Zeiten zurechtfinden muss, in denen viele Erwachsene sich selbst als unbestimmt und unausrechenbar geben. Oder fit. Oder ganz nah am Puls der Zeit. Oder für alles Mögliche aufgeschlossen. Es fehlt auf vielen Gebieten ein autoritatives Gegenüber, es fehlt eine Vertretung des Status quo. Alle sind dynamisch. Die Jugend wird inzwischen, mit einem Buchtitel formuliert, in einer jugendlichen Gesellschaft erwachsen.

Die Behauptung, Jugend sei eine Phase des Sturm und Drangs, der Revolution, des Aufbegehrens, verstrickt sich darum in das Problem, dass es sich hierbei um gut eingeführte Beschreibungen handelt. Pubertät ist aber kein Programm, sondern eine Krise. Sie wird nicht geringer, wenn die Erwachsenen die meisten Symbole, die Protest ausdrücken, sich längst angeeignet haben, vom Veganismus über den Rap bis zu verwegenen Kleidern. Weshalb also sollten Jugendliche im Jahr 2021 Haltungen übernehmen, von denen behauptet wird, es seien die Haltungen ihrer Eltern gewesen, als diese ihrerseits Jugendliche waren? Die Jugendlichen werden herausfinden, dass das eine Lüge ist. Aber auch dieser Befund wird ihnen bei ihren Freitagsdemonstrationen gegen passive Klimapolitiken nichts nützen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auf die Aneignung ehedem jugendtypischer Symbole und Verhaltensweisen durch Erwachsene ein immer schnellerer Verbrauch an populärwissenschaftlichen Generationenbehauptungen antwortet. Seit 1968 sind gut fünfzig Jahre vergangen, aber in ihnen soll es fünf bis sieben Generationen gegeben haben: von den 68ern selbst und den gerade entdeckten Boomern, die kurz vor 1968 geboren wurden, über die Generation X und Golf bis zu Y und Z, um nur die bekanntesten Bezeichnungen zu nennen. Zugleich kommen im Bereich der Mode, der Musik und des historischen Kitsches immer mehr Retrowellen auf. Die Frage „Papa, wie war es in den Achtzigern?“ zeigt dann, zusammen mit der Vermutung, dass es bestimmt „cool“ gewesen sein muss, zu welch eigenartigen Musterbildungen es hier kommen kann: Die Abgrenzung von den Boomern erfolgt durch Interesse an deren Jugend.

Es verschwindet also so gut wie nichts. Ein weiterer wichtiger Aspekt gegenwärtiger Jugend hängt damit zusammen: das Aufwachsen nicht nur mit dem Internet, sondern mit Smartphones. Bei den Zwölf- bis Achtzehnjährigen ist eine Ausstattung von 95 Prozent ermittelt worden, drei Viertel aller Zehnjährigen haben ein solches Gerät. Das ist nicht irgendeine Technologie. Sie archiviert nicht nur alles, sondern verstärkt bei vielen einen Zug, den Jugend seit jeher hatte: die Erlebnisorientierung. Oder um es etwas unfreundlicher in den Worten des Schweizer Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers zu sagen: „Es fällt schwer, in der unausgesetzten Nutzung des iPhones keine Nichtsnutzigkeit zu erkennen.“ Jede Jugend vertut, sofern die historischen Umstände es zulassen, viel von der Zeit, die sie hat. Der vorzugsweise Gebrauch von Kontaktmedien, Bildwelten und absorbierenden Internetspielen zu solchem Zeitvertreib mag im weiteren Lebensverlauf dann den Unterschied zwischen denen verschärfen, die sich vom sozialen Druck, der in diesen Geräten inkorporiert ist, wieder zu lösen wissen, und allen anderen.

Musikindustrie, Kleidermode, Tourismus und englische Sprache

Man kann dem Zeitvertreib durchaus die Möglichkeiten gegenüberstellen, mittels Internet Wissen über die Welt zu erwerben. Dann fällt als eine Besonderheit dieses Wissenserwerbs auf, dass das Internet stärker den Gewinn von Antworten als die Entwicklung von Fragen kultiviert. Es wird einstweilen mehr das Finden und das Sichzurechtfinden, weniger das Suchen geübt. Die Schulen mit ihren Lernprogrammen steuern dem meistens nicht entgegen. Im Gegenteil behandeln sie die Jugendlichen wie kleine Erwachsene, die rechtzeitig auf das Referatehalten und Präsentieren und das Aktuelle vorbereitet werden sollen, noch bevor sie wissen, was bisher geschah, oder überhaupt eine Ahnung von den Inhalten ihrer Referate haben.

Die Dominanz des Findens gegenüber dem Suchen passt zu einer Welt, in der sich weder die iPhones selbst noch die meisten anderen digitalen Geräte, von Weckern bis zu Automobilen, mehr „öffnen“ lassen, um ihr Inneres zu erkunden und ganz handgreiflich Fragen zu stellen. Natürlich kann auch über Chips, Programmiersprachen, Algorithmen ein Wissen erworben und ausprobiert werden. Doch wenn der Eindruck nicht täuscht, verändert sich das Weltverhältnis, wenn die Objekte den meisten, die sie neu kennenlernen, als zunächst und zumeist abgeschlossen gegenübertreten.

Eine weitere Qualität der gegenwärtigen Vernetzungstechniken liegt ebenfalls darin, eine Eigenschaft zu verstärken, die Jugend seit jeher hatte: nämlich tendenziell weltweite Jugend zu sein. Durch Musikindustrie, Kleidermode, den Tourismus und die englische Sprache sind die Jugendlichen an die Weltkultur angeschlossen. Wer Jugendliche in den Wohlstandsgebieten fragt, wo sie noch nicht gewesen seien, erhält als Antwort die Namen von Kontinenten, so als sei es nicht selbstverständlich, noch nie in Amerika oder Australien gewesen zu sein. Die jugendlichen Subkulturen, von Musikszenen bis zum ökologischen Engagement, hängen entsprechend nicht in nationalen Grenzen fest. Zugleich haben sie sich stark multipliziert. Die Möglichkeiten, sich zeitweise zu verkleiden, zu tanzen und zu spielen oder zu protestieren, sind ungeheuer angestiegen.

Das führt zur Frage nach dem einheitlichen Erfahrungsraum. Wenn es tausend Szenen gibt, in denen große Teile der Jugend sich in ihrer Freizeit verabreden, verblassen die Gemeinsamkeiten diesseits der Tatsache, irgendeiner Szene anzugehören. Gegen Erwachsene durchgesetzt werden müssen solche Mitgliedschaften vielerorts auch nicht mehr. Das führt zu einem Ausprobieren dessen, was Erwachsene überhaupt noch als Zumutung empfinden. Ganz folgerichtig werden sie als Erwachsene angegriffen. Man hält ihnen vor, der Jugend eine Welt zu hinterlassen, die großen Krisen ausgesetzt sein wird.

Das ist selbstverständlich keine neue Situation, sondern die Situation jeder Jugend in der Moderne. Wenn dennoch heute stärker als früher das Interesse der Jugend artikuliert wird, liegt das nicht an einer stärkeren Krisenhaftigkeit oder an besseren prognostischen Mitteln, sondern an der Demographie. Die Zukunft der Jugend wird in vielen Regionen vermutlich darin bestehen, knapp zu sein. Das gilt numerisch wie politisch. In zehn Jahren werden in Deutschland Personen, die älter als sechzig Jahre sind, die Hälfte aller Wahlberechtigten ausmachen. Unschwer zu sagen, wer unter diesen Umständen im Konfliktfall die besseren Durchsetzungschancen haben wird. Zugleich erscheint die Finanzierung der Altersrente nach heutigen Modellen unter solchen Bedingungen immer fragwürdiger.

Frühes Bekümmertsein

Umgekehrt wird die Nachfrage nach jungen Arbeitskräften stark steigen. Jedenfalls in den Arbeitsmärkten, in denen Maschinen entweder die Arbeit nicht übernehmen können oder in denen die Maschinen, die sie übernehmen können, programmiert werden müssen. In manchen Sektoren, etwa in den medizinischen Berufen und in der IT-Branche, zeichnet sich das schon jetzt ab. Das frühe Bekümmertsein von Jugendlichen, was ihre berufliche und finanzielle Zukunft betrifft, geht womöglich auf den Eindruck zurück, den diese eigenartige Konstellation auf sie macht: das Gefühl der Verhandlungsstärke aufgrund von Knappheit, gemischt mit dem Gefühl der Verhandlungsschwäche und drohenden Abgabenlast aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Anzahl.

Dies alles sind selbstverständlich relativ statische Beschreibungen. Sie setzen beispielsweise nicht nur bleibenden Frieden, sondern auch mäßige Mobilität von Arbeitskräften voraus, sowohl was die Zu- wie die Abwanderung angeht.

Da das Verhältnis von heutiger Jugend und den Alten der Zukunft sich in einem Zeitrahmen von zehn bis dreißig Jahren abspielen wird, ist es keine Vertröstung, zu sagen: Niemand kann die technologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Situationen überblicken, in denen die heutigen Sorgen dann entweder Wirklichkeit geworden sind oder Schnee von gestern. Die beschworenen Generationenkonflikte sind ungewiss. Was sie abschwächen könnte, wäre Skepsis gegenüber der Schlüsselgewalt der Altersfrage selbst. Jede Jugend weiß oder ahnt zumindest, dass sie älter und sogar alt werden wird. Umgekehrt waren alle Erwachsenen jung und sollten sich daran erinnern, wenn sie Meinungen über die Jugend abgeben oder, besser, mit ihr sprechen.

Juni 2021 | Allgemein, Essay, Junge Rundschau, Politik, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren