Immer für ein Stückchen Maskerade gut. H.C. Artmann

Es dürfte eines der schillerndsten Selbstporträts der neueren Literaturgeschichte sein, das H. C. Artmann 1964 seinem schwedischen Tagebuch voranstellte: „Meine heimat ist Österreich, mein vaterland Europa, mein wohnort Malmö, meine hautfarbe weiß, meine augen blau, mein mut verschieden, meine laune launisch, meine räusche richtig, meine ausdauer stark, meine anliegen sprunghaft, meine sehnsüchte wie die windrose, im handumdrehen verdrossen, ein freund der fröhlichkeit, im grunde traurig …“

 

Ein stimmungsbuntes Feuerwerk, an dessen Ende der Dichter noch eine Sentenz aus dem Ärmel schüttelt, die Wahlspruch über seinen Werken und Taten prangen könnte: „a gesagt, b gemacht,
c gedacht, d geworden. Alles was man sich vornimmt, wird anders als man sichs erhofft …“ Denn nicht nur seine Leser, auch sich selbst wollte der heitere Melancholiker stets aufs Neue überraschen. Darum führte er ein wanderlustiges Poetenleben, quer durch Europa und längs durch die Literaturgeschichte.

„Das Suchen nach dem gestrigen Tag oder Schnee auf einem heißen Brotwecken: Eintragungen eines bizarren Liebhabers“, so der in jeder Hinsicht unzeitgemäße Titel des Journals aus Malmö, war das erst dritte Buch des Anfang 40-jährigen, der in Insider-Kreisen dennoch längst Legendenstatus besaß. Als H. C. Artmann viele, viele Lyrik- und Prosabände, Theaterstücke und Übersetzungen, Anekdoten und Ehrungen später im Dezember 2000 in seiner Heimatstadt Wien verstarb, verlor die deutschsprachige Literatur einen ihrer Größten, da waren sich ausnahmsweise einmal alle einig.

[H. C. Artmann: Übrig blieb ein moosgrüner Apfel. Insel Verlag, Berlin 2021. 97 Seiten, 14 €.
H. C. Artmann: ich bin abenteurer und nicht dichter. Aus Gesprächen mit Kurt Hofmann. Amalthea, Wien 2021. 240 Seiten, 25 €.]
Michael Horowitz: H. C. Artmann – Bohemien und Bürgerschreck. Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2021. 208 Seiten, 22 €.]
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Um die Umstände seiner Geburt hingegen rankt sich mythischer Efeu; gepflanzt, gehegt und gepflegt vom Dichter selbst, kultiviert von treuen Wegbegleitern. Die offizielle Version lautet, dass Hans Carl Artmann am 12. Juni 1921 im 14. Wiener Gemeindebezirk das Licht der Welt erblickte – ein Sonntagskind. Es zirkulieren allerdings auch Angaben, die das auf keiner Karte verzeichnete St. Achatz am Walde, das Jahr 1621 und die Taufnamen Hieronymus Caspar Laertes anführen. Der Freund und Herausgeber Klaus Reichert war sich gar sicher, erste aktenkundige Erwähnungen eines gewissen Hrothgar Culhwch Artmann bereits „A. D. 1099 auf Lindisfarne“ belegen zu können.

Lust am Maskenspiel

Fragen nach der eigenen Biografie beantwortete Artmann mit Lust am Maskenspiel, die im Gegensatz zu den mittlerweile ebenso gängigen wie gähnend langweiligen Autorinszenierungen stets auf mehr verwies als nur sich selbst. Denn hinter jeder Persona, die Artmann sich erfand, steht stellvertretend ein Stil, dessen Register er spielend bedienen konnte.

So schlüpfte er, gerne auch durch das richtige Outfit und die passende Barttracht unterstrichen, in die verschiedensten Rollen, war Privatdetektiv, Werwolfjäger oder Ballonreisender in Begleitung eines sprechenden Bären auf dem Weg von Californien nach Crain. In manchen Fällen vielleicht eher selbst- denn trittsicher bewegte er sich in einer Vielzahl von Sprachen und deren historischen Entwicklungsstufen und übersetzte leidenschaftlich, sei es religiöse Dichtung der Kelten oder Carl von Linné. Was dabei am Ende originalgetreu wiedergegeben wurde oder seiner Fabulierkunst geschuldet ist, steht auf einem anderen Blatt.

Der Sohn eines Schuhmachers wuchs in einer Nachbarschaft auf, in der viel Tschechisch und Ungarisch zu hören war. Bereits als Jugendlicher begann er auf eigene Faust Assyrisch und Malaiisch zu studieren, die romanischen Sprachen gehörten ohnehin zum guten Ton. Im Krieg – er wurde1940 eingezogen – rettete ihm ein Wörterbuch sogar das Leben: Es lenkte eine Kugel, die ihn ansonsten tödlich verwundert hätte, ab in den Oberschenkel.

In der Obhut guter Feen

Das zerfledderte Exemplar hat sich in seinem Nachlass erhalten. Verbürgt sind auch, wenngleich bislang nicht im Detail, Artmanns mehrfache Desertionen aus der Wehrmacht. Überlebt hat der junge Mann Strafbataillonsbewährung und drohendes Todesurteil nur mit Glück, Raffinesse und der Obhut guter Feen, wie er selbst wohl sagen würde.

Zu dichten begann er erst danach; mit Arbeitslosenhilfe, Gelegenheitsjobs und der Unterstützung seiner Mutter hielt er sich über Wasser. „Wenn man begeistert von einer Sache ist, dann jammert man nicht“, konstatierte er später – und schob sogleich nach: „Wenn man’s überlebt.“ Die freie Zeit jedenfalls nutzte er, schrieb emsig, knüpfte Kontakte, entdeckte Barock und Expressionismus wieder, importierte moderne spanische Poesie und den Surrealismus. Dem national-restaurativen Traditionsbewusstsein der österreichischen Nachkriegsliteratur stellte er einen Privatkanon der Entlegenen und Vergessenen entgegen.

Auf fruchtbaren Boden fiel das bei Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Gerhard Rühm. Gemeinsam provozierte man die Gemüter eines Publikums, das sich nicht scheute, diese sogenannte Wiener Gruppe und ihre Geistesverwandten in kulturfaschistischer Reinform als „Ent-Artmänner“ zu diffamieren, die vergast gehörten. Durchaus dieselben Leute fielen Artmann wenige Jahre später um den Hals, als er 1958 mit dem Mundartband „med ana schwoazzn dintn – gedichta r aus bradnsee“ Debüt und Durchbruch in einem feierte.

Moribunde Miniaturen

Das Buch erlebte bis heute unglaubliche zwölf Auflagen. Dabei sind die enthaltenen Gedichte so makabre wie moribunde Miniaturen aus der Wiener Halbwelt. Zwar findet sich auch manches zarte Liebesgedicht, doch die wahren Hits handeln vom „blauboad“, einem frauenmordenden „ringlschbüübsizza“, einem Ringelspielbesitzer, also Schausteller und Jahrmarktsbudeninhaber. Artmann revolutionierte nicht nur inhaltlich die oftmals piefige Dialektdichtung, er verpasste ihr auch eine phonetische Umschrift, die sich für hochdeutsche Augen zunächst wie Kauderwelsch liest, im Vortrag allerdings fast von selbst versteht.

Es gehört zum Fluch des Erfolgs, dass Artmann das Etikett „volksnaher Dialektdichter“ nicht mehr loswerden sollte. Wien jedenfalls beengte ihn bald, er suchte das Weite, bereiste den Kontinent und seine Sehnsuchtsorte von der iberischen Halbinsel bis zur irischen See, ließ sich geraume Zeit in Schweden nieder und schlug in den 1960er Jahren mehrfach seine Zelte im damaligen West-Berlin, in der Kleiststraße 35, auf. In fast jedem Interview sprach er von der Etappe in der geteilten Stadt in höchsten Tönen: „Berlin, das ist die schönste Zeit für mich gewesen, die ich mir vorstellen kann. Schweinernes und Lesungen, Blutwürst und Happenings, tausend Freunde rundherum und geschrieben wurde in Berlin auch sehr viel.“

In Berlin schrieb Artmann mit den Gedichtsammlungen „Hirschgehege & Leuchtturm“ sowie den „Landschaften Hauptwerke der deutschsprachigen Lyrik“ nach 1945: „ich bin ein polares gestirn ich koste hundert dollars / eine eisbärin hat mich geboren winternachts glitzernd // ich kaufe meine pelze in den besten läden alaskas / ich sage guten frost beim einkauf sie geben ihn mir“.

Düpiertes Publikum

Wie in Wien stieß Artmann das Berliner Publikum vor den Kopf. Als er in einer Lese-Reihe gemeinsam mit Friederike Mayröcker und Ernst Jandl auftrat, gestand der Tagesspiegel tags drauf, sich nicht sicher zu sein, „ob man einer Komödie oder der Séance einer Sekte beiwohnte“.

1968 wurde es ihm in Berlin dann zu hitzig. 1972 ließ er sich am Rande Salzburgs nieder, gründete noch einmal eine Familie und wurde fast schon sesshaft. In Salzburg ist auch der Residenz Verlag beheimatet, der sich in Artmanns zweiter Lebenshälfte um das Werk besonders verdient machte. Hier erschienenen sein persönliches Lieblingsbuch „Unter der Bedeckung eines Hutes“ (1974) und der satzzeichenlose Erinnerungsband „Nachrichten aus Nord und Süd“ (1978), die Wiederbelebung der Naturlyrik „Aus meiner Botanisiertrommel“, (1975), die Urmythen aus „Die Sonne war ein grünes Ei“ (1982) und das „Register der Sommermonde und Wintersonnen“ (1994).

Auch Preise wurden Artmann nun endlich zugesprochen, inklusive der Ehrendoktorwürde der Salzburger Universität, die ihn zum Dr. h. c. H. C. Artmann deklarierte, ein Titel ganz nach seinem Gusto. 1997 erreichte ihn dann auch die Kunde vom Georg Büchner-Preis; ein paar Jahre zu spät, um das Preisgeld sinnvoll zu verprassen, merkte der Geehrte schelmisch an. Seine letzte Zeit verbrachte Artmann zumeist wieder in Wien, übersetzte mit seiner Frau Rosa Pock die Stücke von Carlo Goldoni und empfing allerhand Besuch als Kompensation für eine nun doch einsetzende Gebrechlichkeit.

Biografie: ein Husarenritt

Auf eine Biografie, die das Husarenstück zu vollbringen hat, Artmanns Privatmythologie auf Herz und Nieren zu prüfen, ohne ihr den Zauber zu nehmen, müssen wir noch ein Weilchen warten. Angekündigt war das kühne Unternehmen im Residenz Verlag für dieses Jahr, doch die Pandemie machte auch vor den Archiven nicht halt und die adäquate Recherche unmöglich. Nun soll das Buch planmäßig zu Artmanns 102. Ehrentag erscheinen, was Artmann selbst sicherlich ein Lächeln abgerungen hätte.

Derweil kann die interessierte Leserschaft auf zwei Wiederauflagen ausweichen: Michael Horowitz’ Portrait „H. C. Artmann – Bohemien und Bürgerschreck“ sowie eine Reihe von Interviews, die der ORF-Journalist Kurt Hofmann unter dem Titel „ich bin abenteurer und nicht dichter“ zusammengestellt hat. Die jeweiligen Originalausgaben wurden leicht überarbeitet, was bedauerlicherweise auch bedeutet, dass nun einige schöne Fotos fehlen. Horowitz schildert vor allem die dichterischen Anfänge, ihm gelingen vitale Einblicke in Wiens Kunstszene um 1950.

Dabei geht ihm vor Begeisterung der Ton an mancher Stelle durch. Hofmann hingegen lässt den Dichter selbst zu Wort kommen, sogar seine Fragen sind aus dem Buch getilgt. Das schadet jedoch nicht, Artmanns Erinnerungsfragmente und die ihnen anbei gestellten Werkausschnitte stehen wunderbar für sich.

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Eine kleine Blütenlese hat auch Clemens J. Setz zusammengestellt, von Christian Thanhäuser illustriert. Wunderbares findet sich hier, wie dieses Haiku aus den 1980ern: „kartoffelblüten / und verregneter jasmin / sind sie geschwister?“ Insgesamt entspricht die Auswahl allerdings eher Setz’ Poesieverständnis, als dass sie Artmanns Bandbreite repräsentiert, was das Nachwort des Herausgebers bestätigt.

Trotzdem ein hübsches Geschenk im Geiste der Insel-Bücherei, in der es erschienen ist. Mehr braucht es nicht zu sein, schließlich sind Artmanns „Sämtliche Gedichte“ (Jung und Jung, 2003) und seine „Gesammelte Prosa“ (Residenz, 2016) weiterhin zu haben. Zu empfehlen sind beide, denn Gattungsgrenzen gab es für Artmann höchstens, um leichtfüßig über sie hinweg zu gehen.

Juni 2021 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Senioren | Kommentieren