Alfred Nobel: Vom Dynamit zum Namensgeber des Preises

Dieses Jahr schweigt sie zum siebten Mal – aber zum ersten Mal selbstverschuldet. Frédéric Mistral, Giusuè Carducci, Verner von Heidenstam, Miguel Ángel Asturias: Die Namen dieser Autoren dürften außerhalb ihrer Heimatländer allenfalls Spezialisten noch etwas sagen, und ob sie sonderlich gelesen werden, darf man bezweifeln.
Dass sie in den Jahren 1904, 1906, 1916 und 1967 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden sind, hat den Prozess des langsamen Vergessenwerdens sicherlich gebremst, aber nicht substantiell aufgehalten. Umgekehrt wird man sich an James Joyce, Marcel Proust, Italo Calvino oder Astrid Lindgren noch lange erinnern – jedoch hat keiner von ihnen den Preis je erhalten.

Die schwedische Akademie in Stockholm hat seit 1901 mehr als hundert Schriftsteller ausgezeichnet und dabei Entscheidungen getroffen, die vom ersten Moment an Kopfschütteln oder Begeisterung auslösten und die sich langfristig als hellsichtig oder ausgesprochen töricht erwiesen haben, je nachdem, ob man diese Entscheidungen aus ihrer Zeit heraus verstehen will oder als Fingerzeig auf Erscheinungen, die einmal Epoche machen würden.

Vorstellung einer Orientierung gebenden Institution

Die Vergabe aber lenkte jedes Mal eine gewaltige, zuletzt weltweite Aufmerksamkeit auf denjenigen, der den Preis erhielt, weil der Preis eine Aura besaß, die weit über den Literaturbetrieb hinausreichte, wohl auch über den Kreis derjenigen, die sich überhaupt für Literatur interessieren.

Diese Aura ist nicht zuletzt das Produkt einer Sehnsucht: In einer verwirrenden Moderne, „brüllend von Realitäten, an tausend Stellen Tatsachen ausschwitzend“ (Alfred Döblin, auch er kein Nobelpreisträger), war die Vorstellung einer Orientierung gebenden Institution, die selbstbewusst wie der Vatikan oder der UN-Sicherheitsrat ihre Entscheidungen fällt, groß, und während der Einfluss der anderen bröselte, hielt sich die Autorität der Akademie trotz allem Ärger über einzelne Preisträger erstaunlich lange.

Jetzt hat die von Skandalen und Querelen gebeutelte, nachgerade gelähmt erscheinende Akademie bekanntgegeben, die Vergabe des Literaturnobelpreises in diesem Jahr aussetzen und im kommenden Jahr dann zwei Preise vergeben zu wollen.
Ob das reicht, um die einstige Aura wieder erzeugen zu können, wo die schlichte Tatsache, dass auch dieses Gremium letztlich eine Jury aus Literaturkennern ist, wie es sie Hunderte gibt, überdeutlich geworden ist? Ob das Renommee des Preises künftig nicht vor allem darin wurzeln könnte, dass er mit umgerechnet 750 000 Euro äußerst hoch dotiert ist? Bereits sieben Mal wurde der Preis nicht vergeben, weil es der Akademie an einem „geeigneten Kandidaten“ gemangelt habe. Wie es aussieht, mangelt es in diesem Jahr an einer geeigneten Akademie.

Juni 2021 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren