Im April war Deutschland im grünen Baerbock-Rausch. TV-Magazine und Titelseiten großer Zeitschriften kürten sie zum neuen Superstar der Republik, die politischen Herzen flogen ihr massenweise zu, in Umfragen überholten die Grünen sogar die Union. Da CDU und CSU noch zankten und die SPD irgendwie aus der Zeit gefallen schien, wirkte Annalena Baerbock schon als gefühlte Bundeskanzlerin einer neuen Greenlounge-Republik.
Doch im Mai dreht sich plötzlich die Stimmung. Erst die Debatte um Boris Palmer, dann die grüne Basis-Initiative zur Streichung des Wortes Deutschland im Wahlprogramm, Meldungen über zweifelhafte Großspenden, undurchdachte Forderungen für ein Ende von Kurzstrecken- und Billigflügen, schließlich die zu spät gemeldeten Nebeneinkünfte trüben die anfängliche Euphorie. Sofort bröckeln die Umfragezahlen, Journalisten schauen auf einmal kritischer hin und die Öffentlichkeit wird skeptisch, ob sie wirklich schon kanzlerreif ist.
Die so rasch von totaler Begeisterung zur näselnden Kritik kippende Stimmung lässt vermuten, dass der „Baerbock-Zug“ bald entgleisen könnte – so wie vor vier Jahren der Wahlkampfzug von Martin Schulz nach anfänglicher Euphorie gründlich von der Bahn kam. Und wie 2017 entgleist der Wahlkampfzug auch deshalb, weil das Anfangstempo zu scharf war. Schulz wurde 2017 mit ultimativen 100 Prozent auf dem Parteitag gewählt, linke Medien überschlugen sich in Begeisterung, 10.000 neue SPD-Parteieintritte wurden gemeldet – doch wenn der Höhenflug zu stürmisch ausfällt, ist auch der Absturz gewaltiger, das eine provoziert das andere geradezu.
Dieser Ikarus-Effekt droht deshalb jetzt auch Annalena Baerbock, sie ist der Sonne der medialen Bescheinung zu nahe gekommen, nun droht sie darin zu verglühen. Der alte Journalistenspruch „Wir fahren mit Politikern gerne den Aufzug hinauf, aber noch lieber hinunter“, findet in Baerbock ein Fallbeispiel.
Was den Einen im Frühjahr noch als „erfrischend jung“ entzückte,
gilt im Sommer auf einmal als „völlig regierungsunerfahren“
Wieso weiß sie nicht, wer die soziale Marktwirtschaft in Deutschland durchgesetzt hat? Hat sie eigentlich schon einmal irgendetwas regiert? Aus der SPD wird das böse Bonmot von „Jugend forscht fürs Kanzleramt“ verbreitet.
Skandälchen wird den Wahlkampf nicht entscheiden
Auch die Integrität der Kandidatin wird auf einmal angezweifelt. Hat sie ihren Lebenslauf nicht unbillig geschönt und frisierte Angaben zu ihrem Bachelorabschluss und zum Völkerrechtsstudium gemacht, das keines war? Und fliegen die Grünen nicht besonders viel, obgleich sie das Vielfliegen verbieten wollen? In zahlreichen Internetforen wird Baerbock darum wüst beschimpft und lächerlich gemacht. Diese Attacken sind zusehends unfair und verunglimpfend, die über ihr Studium zudem falsch. Auch Baerbock hat Respekt verdient. Und sie hat Stärken auf ihrer Seite – sie ist klug, scheint zumindest sachkundig, redegewandt und ist geschmeidig sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung. Sie hat eine klare politische Haltung, sie ist die (sic) einzige Frau im Wettbewerbsfeld, sie verkörpert eine neue Generation und wäre obendrein die erste Mutter im Kanzleramt.
Doch die Frage der Integrität wiegt bei einer grünen Kanzlerkandidatin schwerer, weil die Grünen den hohen Ton der Moralität pflegen und zur politischen Waffe haben werden lassen. Wenn Baerbock also der Bundestagsverwaltung ungewöhnlich hohe Sonderzahlungen ihrer eigenen Partei verspätet gemeldet hat, dann wirkt das medial wie die Nadel, die den moralischen Ballon zum Platzen bringt.
Die Kommentarlage ist entsprechend verheerend:
„Gefährlicher Fehler“ („Spiegel“), „Autsch, Frau Baerbock“ und „Ein Unding“ („Süddeutsche Zeitung“), „Sie stolpert über Nebeneinkünfte“ („Welt am Sonntag“), „Risse in der grünen Fassade“ („Wirtschaftswoche“), „Den eigenen Ansprüchen nicht recht geworden („Tagesspiegel“), „Doppelmoral“ („Handelsblatt“), „Instinktlos“ („Bild“-Zeitung).
Dennoch und trotz alledem wird dieses Skandälchen den Wahlkampf nicht entscheiden. Auch hier lohnt der Blick auf 2017, als Martin Schulz mit überhöhten Nebeneinkünften aus dem Europaparlament in Schlagzeilen und Schwierigkeiten geriet. Daran scheiterte er nicht. Sehr wohl aber an der strategischen Frage, ob Deutschland eine rot-rot-grüne Regierung haben solle. Schulz unterschätzte den breiten Widerstand im deutschen Klein- und Großbürgertum gegen eine „solch scharfe Linksregierung“. Mit diesem Thema verlor er zunächst die Landtagswahl im Saarland, wo er Rot-Rot-Grün offensiv thematisierte, und schließlich die Bundestagswahl. Es waren die rot-rot-grünen Schienen, auf denen der Schulz-Zug entgleiste.
Vor dem gleichen Dilemma steht nun auch Baerbock. Soll sie sich die Option auf eine grün-rot-rote Koalition mit der SED-Nachfolgepartei offenhalten oder nicht? Ein Teil ihrer linken Basis träumt davon, den größeren Teil der bürgerlichen Neugrünenwähler verschreckt es. Sie könnte das Problem abräumen und eine solche Koalition kurzerhand ausschließen, demotiviert damit freilich den linken Parteiflügel. Tut sie aber das nicht, wird Grün-Rot-Rot wie 2017 das große Mobilisierungsmoment für CDU und CSU im Sommer. Nicht die Bachelorarbeit oder Nebeneinkünfte von Annalena Baerbock sind das Hauptproblem des grünen Wahlkampfs. Es ist die Sorge vor Grün-Rot-Rot – genau wie bei Martin Schulz 2017.