Während der Zertifizierung der Wahlergebnisse im US-Kongress kommt es am Mittwochabend deutscher Zeit zu gewaltsamen Massenprotesten einer großen Menge teils bewaffneter Trump-Anhänger. Es gelingt dem Mob, in das Kapitolgebäude einzudringen. Der Kongress wird evakuiert. Laut Polizei sterben vier Personen, weitere werden verletzt. Die Menschenmassen waren von einer Kundgebung Trumps Richtung Regierungsgebäude losgezogen. Arthur Landwehr aus dem ARD-Studio in Washington D.C. sieht in dem beispiellosen Geschehen einen letzten Beweis dafür, dass Trumps Fähigkeiten nicht zu unterschätzen sind. Er putsche seine Anhänger „mit größter Präzision und demagogischem Können“ auf.
„Bild Live“ schreibt von einem „Anschlag auf das Herzstück der Demokratie“ und zieht vorsichtig Parallelen zu den „Querdenker“-Protesten in Deutschland, die vor einigen Monaten in den Reichstag gelangen wollten.
Unfassbare Tiefpunkte der Trump-Präsidentschaft
Der Kontrast zwischen dem Senatsrennen in Georgia, wo gerade erstmals ein schwarzer Mann in den Senat gewählt wurde, und den gewalttätigen Protesten zeigt in verdichteter Form das Ausmaß ihrer Zerrissenheit in diesem Land – die Tatsache, dass die Protestierenden die Polizei überwinden konnten, bezeichnet die „New York Times“ als klaren Beweis für „white privilege“ und zieht Parallelen zu den polizeilich deutlich strenger regulierten Black-Lives-Matter-Protesten. Wenn diese (so NYT) gewalttätig wurden, habe sich Biden zudem gegen seine Basis gestellt, Trump hingegen stachle die Gewalt nun noch an.
Beide Politiker melden sich am Abend zu Wort: Der designierte US-Präsident Joe Biden (twittercom) bezeichnet das Geschehen als „Aufruhr“ und „Belagerung“ und fordert Präsident Trump zu einer Stellungnahme auf. Dessen Videobotschaft ist gespickt von den üblichen Falschbehauptungen des Wahlbetrugs. Nachdem er den Mob dazu aufruft, nach Hause zu gehen, lässt er sie noch wissen: „Wir lieben euch. Ihr seid etwas ganz Besonderes.“
Barack Obama erhebt in seinem Statement schwere Vorwürfe gegen Trump, die republikanische Partei und ihr „mediales Ökosystem“, deren „Fantasie-Narrativ“ sich immer weiter von der Realität entfernt habe. Auch Ex-Präsident Bush meldet sich zu Wort und stellt fest: „So werden Wahlergebnisse in einer Bananenrepublik angefochten.“
Amerika ist krank
Es leidet an den Wunden gesellschaftlicher Spaltung –
und der Mafioso im Weißen Haus hat vier Jahre lang Salz in diese Wunden gerieben. Das Ergebnis haben wir gestern gesehen: Angestachelt von einer Hetzrede Donald Trumps, der seine Wahlniederlage partout immer noch nicht eingestehen will, stürmte eine Meute das Parlamentsgebäude des Kapitols, wo gerade das Ergebnis der Präsidentschaftswahl bestätigt werden sollte. Sie randalierten, griffen Polizisten an, schrien Beleidigungen, vier Menschen wurden erschossen.
Das also ist das Erbe des schlechtesten Präsidenten,
den Amerika je hatte – Bilder aus Washington:
Ein hasserfülltes, vergiftetes Land, in dem die Gewalt alle paar Wochen eskaliert. Kenosha, Los Angeles, Madison, Minneapolis, nun Washington: eine Spur der gesellschaftlichen Verwüstung.
Zu keinem Zeitpunkt hat Donald Trump getan, was ein Staatsmann hätte tun müssen: die Gemüter beruhigen, die rivalisierenden Lager zusammenführen und versöhnen. Stattdessen hat er sich mit dem geifernden Mob verbündet, hat ihn immer weiter angestachelt, hat täglich Lügen und Verschwörungstheorien verbreitet und in verschwurbelten Andeutungen zur Gewalt aufgerufen. Eine Mehrheit der republikanischen Wähler glaubt heute ernsthaft, die Wahl sei gefälscht worden oder zumindest nicht ganz korrekt verlaufen – dabei gibt es keinen einzigen Beleg dafür. Millionen Menschen haben sich von dem Pinocchio-Präsidenten und seinen rückgratlosen Claqueuren in der republikanischen Partei ins Bockshorn jagen lassen – und das Ergebnis ist eine brutale Attacke auf das Parlament. Von einem „beispiellosen Angriff auf die Demokratie“ hat der gewählte Präsident Joe Biden gestern Abend gesprochen, in zwei Wochen soll er den Trumpschen Scherbenhaufen übernehmen.
Der Sturm auf das Kapitol
Der lässt erahnen, was in den kommenden Monaten noch alles auf Amerika zukommen kann. Auch wenn Trump nun das Weiße Haus räumen muss, ist er ja nicht weg. Er ist immer noch da. Er wird weitermachen mit seinen Twitter-Tiraden, er wird weiter lügen, Hass säen und frustrierte Bürger aufwiegeln. Er wird weiter Salz in Amerikas Wunden streuen. Das ist das Einzige, was er wirklich gut kann, und er kann es so perfide wie kein anderer.
Eine Demokratie im Schockzustand
So sieht sie aus, die Amtsbilanz eines narzisstischen Populisten. Wir sollten uns dieses Drama genau ansehen. Und gewarnt sein (NZZ). Auch wir in Europa sind nicht gegen das Virus des Populismus gewappnet, erst recht nicht inmitten einer Pandemie von historischem Ausmaß: Erinnern wir uns noch an den Angriff der Corona-Leugner auf das Reichstagsgebäude in Berlin? Oder an die AfD-Abgeordneten, die den „Querdenker“-Chaoten die Tür zum Bundestag öffneten, wo diese dann Abgeordnete und einen Minister bedrängten?
Lange her, nicht vergleichbar, nicht so schlimm? Täuschen Sie sich bitte nicht. Die Feinde der Demokratie werden immer frecher, auch hierzulande. Der Rechtsstaat muss ihnen entschlossen entgegentreten. Und aufrechte Demokraten müssen sich gegen ihr Gift immunisieren. Das ist mindestens ebenso wichtig wie eine Impfung gegen Corona.