Wo man auch hinsieht: Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Die streng rationale Philosophie scheint da ein probates Gegenmittel. Wäre da nur nicht diese Tradition, die selbst den Verdacht nährt, dass nichts ist, wie es scheint.
Antike Geographen bezeichneten die auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel lebenden Menschen als „Antipoden“, als „Gegenfüßler“.
Von uns aus gesehen, steht die Welt der Antipoden auf dem Kopf. Alles ist im wörtlichen Sinne „ver-kehrt“.
Aus der Sicht der Antipoden allerdings verhält es sich genau umgekehrt: Wir sind es, die auf dem Kopf stehen. So ist das Verhältnis der Antipoden ein gegensätzliches, zugleich jedoch auch symmetrisch.
Verschwörungstheorien und Philosophie als Antipoden
Philosophie und Verschwörungstheorien sind solche Antipoden. Philosophen und Verschwörungstheoretiker nehmen beide für sich in Anspruch, durch die Oberfläche der Erscheinungen vorzustoßen in ein verborgenes Reich der Wahrheit, in deren Licht plötzlich alles Sinn ergibt. Beide begreifen dies als einen Akt der Selbstbefreiung aus den Denkfesseln des gewöhnlichen Bewusstseins. Beide rechnen damit, wegen ihrer höheren Einsicht von gewöhnlichen Menschen für verrückt und gefährlich erklärt zu werden.
Ist das nicht genau die Geschichte, die Platons Höhlengleichnis erzählt? Und nimmt die Philosophie nicht selbst verschwörungstheoretische Züge an, wenn sie uns davon überzeugen will, dass die Dinge, die wir wahrnehmen, sich in Wirklichkeit innerhalb unseres Kopfes befänden, dass es keine Materie, sondern nur Geist gebe, oder umgekehrt: Dass das Ich und der freie Wille Illusionen seien?
Wer hält die Menschen im Unwissen?
Einen entscheidenden Unterschied freilich gibt es. Verschwörungstheorien laden die Schuld für den Illusionscharakter des gewöhnlichen Bewusstseins bei imaginären äußeren Feinden ab. Andere sind schuld: die Illuminaten, die geheime Weltregierung, außerirdische Reptilien. Für die Philosophie hingegen ist die Unmündigkeit, aus der – nach Kant – der Gebrauch des eigenen Verstandes den Ausgang weist, wesentlich selbstverschuldet. Wir können niemanden für unsere Irrtümer haftbar machen als uns selbst.
Auch bei Platon ist das letztlich so. Dennoch lässt sein Höhlengleichnis den verschwörungstheoretischen Verdacht wenigstens zu. Denn die in der Höhle Eingesperrten haben sich nicht selbst dort gefesselt. Wer brachte sie in diese Lage? Sokrates schweigt sich darüber aus. So spukt der Verschwörungsverdacht als unheimlicher Schatten durch die Philosophiegeschichte.
Täuschender Dämon, wütende Sklaven
Descartes erwägt die Möglichkeit eines täuschenden, bösen Dämons und kriegt ihn nicht mehr in die Flasche zurück. Nietzsche wittert hinter der universalistischen Moral eine Verschwörung ressentimentgeladener Sklaven. Und Heidegger fabuliert über die Machenschaften des „rechnenden“ jüdischen Geistes, der die Seinsfrage in der Vergessenheit hält.
Der Keim dieses Ungeistes liegt in der Philosophie selbst. Eingehegt wird er nur insofern, als die platonische Erzählung von Anfang an durch eine Gegenerzählung durchkreuzt wurde. In ihr will die Philosophie die Welt, die sich uns zeigt, nicht überwinden, sondern bewahren.
Gegengift: Philosophie als Überblick statt Durchblick
Ludwig Wittgenstein erklärte, nicht das Aufdecken des Verborgenen, sondern das Ordnen des Vor-aller-Augen-Liegenden sei das methodische Ideal der Philosophie. Sie trägt nur Erinnerungen an das zusammen, was niemand bestreitet. Doch mittels der kunstvollen, übersichtlichen Anordnung des Wohlbekannten zeigt sie dann, dass recht verstanden gar keine Fragen mehr offen sind: Überblick anstelle des vermeintlichen Durchblicks.
„Die eigentliche Entdeckung ist die“, so schreibt Wittgenstein, „die die Philosophie zur Ruhe bringt“. Statt den metaphysischen Drang zur Flucht aus der Alltäglichkeit anzuheizen, bringt die philosophische Therapie ihn zum Verschwinden. Genau darin entwindet sie sich der Antipodenschaft mit dem Verschwörungsdenken und gewinnt ein Gegengift – auch gegen den verschwörungstheoretischen Gifttropfen in sich selbst.