Am 16. März 1937 erreichte Walter Benjamin im Exil in Paris ein Brief seines Freundes Max Horkheimer. Es war die Zeit, in der sich Benjamin tief in Fragen von materialistischer Geschichtsschreibung und die Möglichkeiten der Kunst verstrickte.
In diesem Zusammenhang schrieb Horkheimer, die Idee der „Unabgeschlossenheit“ sei „idealistisch“ – also nicht materialistisch –, „wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist“. Denn, so schreibt der Philosoph weiter: „Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen.“
Benjamin notierte zu Horkheimers Brief, dass „die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft“ sei, sondern „nicht minder eine Form des Eingedenkens“. Des Geschehenen eingedenk zu sein, das ist für Benjamin die Aufgabe materialistischer Geschichtsschreibung, und er wendet sich damit gegen einen teleologischen Begriff des Fortschritts, denn: „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. (…) Die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern das Leben hier.“
Welche Hölle ihm, der Welt und speziell den Juden Europas bevorstand, konnte Benjamin zu jener Zeit nicht ahnen, und es in Gänze zu ertragen blieb ihm erspart. Am 26. September 1940 nahm er sich in Portbou in den Pyrenäen das Leben, um seinen Landsleuten nicht in die Hände zu fallen.
Gegen das Verstummen
Auf einen anderen Freund Benjamins, Theodor W. Adorno, geht die Formulierung zurück, dass ihnen als kritischen Theoretikern im Exil, als Juden auf der Flucht und als Kommunisten inkognito nur die Hoffnung bliebe, dass ihr Denken wie eine Flaschenpost eines Tages jemanden erreiche.
Benjamins Flaschenpost, der Gedanke einer Geschichtsauffassung, die dem Vergangenen eingedenk bleibt, kam schon zur etwa gleichen Zeit unbekannterweise bei einem Empfänger an. 1938 war das Jahr, in dem ein 18-jähriger deutschsprachiger Jude in Czernowitz mit dem Dichten begann. Drei Jahre später wurden der junge Paul Antschel und seine Eltern von den die Bukowina besetzenden Truppen Deutschlands und Rumäniens ins Ghetto verbracht; 1942 wurden die Eltern deportiert und einige Monate später ermordet. Paul Antschel, dessen Geburtstag sich am 23. November zum 100. Mal jährt, verließ 1945 seine Heimat und ließ sich 1948 in Paris nieder. Unter dem Namen Paul Celan wurde er der bedeutendste Dichter deutscher Sprache nach Auschwitz.
Nach Auschwitz, ja, denn Celan kam von der Wunde, die die Deutschen ihm geschlagen hatten, nie los. Seine Dichtung war – der Vergangenheit eingedenk.
In der Todesfuge von 1945, dem mit Abstand bekanntesten seiner Gedichte, wird das bereits ersichtlich. In der Bundesrepublik, wo das Gedicht Schullektüre und das „Auschwitz-Gedicht“ par excellence wurde, blieb es oft unverstanden. Von Metaphern war die Rede, und mitunter versuchten Schulklassen, die Struktur des Gedichts mit jenem der musikalischen Fuge zu vergleichen. Aber Celan meinte all das wirklich. Das „Grab in den Lüften“, es war für die Jüdinnen und Juden real, „wir schaufeln, wir schaufeln“, das war Celans Tätigkeit im Arbeitslager; der Tod ist tatsächlich ein „Meister aus Deutschland“.
In diesem Gedicht gelang Celan etwas, das über Jahre hinweg der Kern seiner Lyrik bleiben sollte. Es ist das, was Benjamin als „dialektisches Bild“ beschrieben hat. Denn Celan und Benjamin, die sich nie begegneten (wenngleich Celan freilich Benjamin später gelesen hat), sie treffen sich im Erinnern. Dieses Erinnern ist nicht kontemplativ. Benjamin: „Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wende des Eingedenkens.“ Und dieses Erwachen, das ist für Benjamin ein Moment des dialektischen Umschlags, hier wird Erkenntnis – und durch sie materialistische Kritik – möglich. Das Erwachen findet indes nur blitzhaft statt, in einem Bild. Und er fügt hinzu, wo diese Bilder anzutreffen sind, „der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache“.
Man kann sagen: die Sprache Paul Celans
Als dieser 1960 den Georg-Büchner-Preis verliehen bekam, nutzte er die Gelegenheit, nichts weniger zu entwerfen als eine Theorie der Poesie nach Auschwitz. In dem als Meridian-Rede bekannt gewordenen Vortrag setzte er die Dichtung gegen die Kunst; eine implizite Antwort auf das Diktum Adornos, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“. Dem widersetzt sich Celan, indem er das Gedicht der Sphäre der Kunst entreißt (durch die es jedoch hindurchgehen muss).
Deutlich wird das an seiner Entwicklung des Begriffs der Atemwende anhand zweier Episoden aus dem Werk Büchners. In Dantons Tod ruft Lucile Desmoulins im Angesicht der Hinrichtung: „Es lebe der König!“ Eine Huldigung des Ancien Régime durch eine Revolutionärin? Nur scheinbar. Celan hebt hervor, dass es sich vielmehr um einen Akt der Ich-Behauptung durch das Absurde handelt. „Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den ‚Draht‘ zerreißt, (…) es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.“
Einen anderen Schritt geht Büchners Lenz, als er an einem 20. Januar durchs Gebirge geht. „… nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte“, zitiert Celan und macht hierin Lenz’ „Es lebe der König!“ aus: „Es ist ein furchtbares Verstummen.“ Dieses Verstummen, das ist die Atemwende. Und die Atemwende ist das dialektische Bild, „worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ (Benjamin).
„Für heute und immer“
Die Erwähnung der Lenz-Passage hat einen doppelten Boden. Der „20. Januar“ des Lenz wurde viele Jahre später zu dem Tag, an dem die Wannsee-Konferenz stattfand. „Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her?“, fragt Celan. Diese Atemwende, das ist Dichtung. Denn: „Das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.“ Dichtung existiert also immer nur als Widerstand gegen das Verstummen. „Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht.“
Dass das Gedicht spricht, dass es das Gespräch sucht – und Celan hegt die Hoffnung, dass es einen „anderen“, gar einen „ganz anderen“ zu erreichen vermag –, darin liegt der historisch-widerständige Aspekt der Poesie. Lyrik ist überhaupt nur kritisch denkbar. Oder, wie es die Literaturwissenschaftlerin Marlies Janz ausdrückte: „Als Sprache, die dem Verstummten gleichsam abgerungen ist und insofern durch ihr bloßes Dasein schon gegen eine Realität Einspruch erhebt, deren Inhumanität die Subjekte zum Verstummen zwingt, ergreift das Gedicht nach Celans Ausführungen Partei für eine humane Realität.“
Dieser Gedanke der Vergangenheit, die nicht vergeht, nicht vergehen kann, derer der Dichter eingedenk bleibt, war der tragende Gedanke der Geschichtsphilosophie Benjamins. Er gebiert eine Dialektik des Noch-Nicht und des Immer-Noch, aus der ebenjene blitzhaften Momente entstehen können, die für Benjamin ein „Erwachen“ und für Celan eine „Atemwende“ waren. Das als dialektisches Bild gelungene Gedicht wird zum Schibboleth, zum Erkennungszeichen und Schlüssel, der die Hoffnung auf die Erlösung ermöglicht, gerade weil das Leid unvergessen bleibt. Im Gedicht In Eins bringt Celan dies in der ersten Strophe sehr konkret zur Sprache: „Dreizehnter Feber. Im Herzmund / erwachtes Schibboleth. Mit dir, / Peuple / de Paris. No pasarán.“ Auch hier: ein Datum. Dass den Daten in Celans Werk eine tragende Bedeutung zukommt, darauf hat Jacques Derrida in seiner 1984 in Seattle gehaltenen Rede „Schibboleth. Pour Paul Celan“ hingewiesen, die später als Buch erschien. Hinter diesem 13. Februar verbergen sich der Wiener Aufstand gegen den Austrofaschismus von 1934, der Spanische Bürgerkrieg und die Beerdigung der Toten einer Demonstration gegen den Algerienkrieg, wenige Tage bevor Celan diese Zeilen schrieb.
In der berühmtesten der 18 Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, die Benjamin kurz vor seinem Tod abgefasst hat, beschreibt er ein Bild Paul Klees, den Angelus Novus, als „Engel der Geschichte“. Das Aquarell, das in Benjamins Besitz war und in Celans Geburtsjahr entstand, zeigt eine geflügelte Figur, „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Der Engel hegt den Wunsch, die Toten zu erwecken, „aber ein Sturm weht vom Paradiese her“, und „dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt“. Dieser Blick, den Benjamin hier am Engel der Geschichte beschreibt, ist der Blick Paul Celans.
Benjamin und Celan teilten den Blick auf das Leid als Grundlage für die Hoffnung. Darin tritt eine säkularisierte Form jüdischen Denkens zutage. Das Judentum wartet stets und vergisst niemals.
Doch was Benjamin und Celan trennt, ist die historische Erfahrung der Shoah. Für Benjamin weht der Sturm des Fortschritts „vom Paradiese her“. Das messianische Moment bleibt für ihn der Erlösung verhaftet, einem irgendwie zu erwartenden Endpunkt der Geschichte – in dieser Hinsicht blieb er Marxist.
Celan jedoch konnte keine Erlösung finden. Die Atemwende, das sind Wendepunkte, doch sie bleiben das: Punkte. Die Dichtung half dem Dichter, zu leben, doch die große, historische Lösung, die war für den Gepeinigten nicht zu sehen. 30 Jahre nach Benjamins Freitod stürzte Paul Celan am 20. April 1970 vom Pont Mirabeau in die Seine. Die Erschlagenen mögen „wirklich“ erschlagen sein – doch: „Setz deine Fahne auf Halbmast, / Erinnrung. / Auf Halbmast / für heute und immer.“
Titel zum Gedenkjahr
Weil das Gespräch über Literatur und Philosophie eines ist, das niemals endet, sind auch zum Gedenkjahr für Benjamin und Celan neue Publikationen erschienen:
Bereits im Frühjahr kamen Celans Zerrissenheit von Helmut Böttiger, über des Dichters paradoxes Verhältnis zu deutschen Rechten und Linken, sowie Todesfuge. Biografie eines Gedichts von Thomas Sparr heraus.
Bei Suhrkamp erschien unterdessen eine neue Gesamtausgabe der Gedichte Celans, die den Forschungsstand nicht nur bündelt, sondern übertrifft (Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, 1.262 S., 34 €).
Im selben Haus wurde die schon 2014 auf Englisch publizierte Benjamin-Biografie der US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael W. Jennings und Howard Eiland herausgebracht. Das umfassende Buch hat definitiv das Zeug zum Standardwerk (Benjamin. Eine Biographie, 1.021 S., 58 €).