Grenzüberwachung und Empathie mit Menschen in Not müssen kein Gegensatz sein – unter diesem Motto wirbt der Migrationsforscher Gerald Knaus, in Deutschland bekannt geworden als „Erfinder“ des EU-Türkei-Abkommens, seit Jahren für seine Ideen. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben – und wer Flüchtlingspolitik oder Migrationsbewegungen für wichtig hält, sollte es unbedingt lesen.

Knaus verbindet zeitgeschichtliche Streiflichter zur neueren Geschichte des Asyls, die oft eine Geschichte von dessen Verweigerung war, mit konkreten Vorschlägen dafür, wie sich Europas Grenzen sichern ließen, ohne den Kontinent in eine brutale Festung zu verwandeln. Dabei widerlegt er sowohl „linke“ wie „rechte“ Mythen der Migrationsdebatte. Aber Knaus dekonstruiert Schlagworte und Vorurteile nicht um einer genüsslich zelebrierten Rechthaberei willen. Selbstgefällige Fundamentalkritik ist seine Sache nicht. Was alles nicht funktioniert oder nicht zutrifft, zeigt er nur deshalb, weil er praktikable Auswege mit Aussicht auf politische Durchsetzbarkeit anbieten will.

Dabei geht er stets von der offenkundigen Zerbrechlichkeit des Konstrukts universaler Menschenrechte aus. Er warnt davor, die asylrechtlichen Errungenschaften im Europa der Nachkriegszeit für irreversibel oder gar alternativlos zu halten. Als Beispiel für nicht zu Ende gedachte Beiträge zur Migrationsdebatte zitiert Knaus unter anderem aus dem Buch „Realitätsschock: Zehn Lehren aus der Gegenwart“ des Autors Sascha Lobo, der darin orakelt: „Migration wird weder mit Gewalt noch mit Geld gestoppt werden können.“ Migration, so Lobo, lasse sich nämlich nicht aufhalten, auch nicht durch Abschreckung und Zäune: „Die Wahrheit ist, Migration lässt sich nicht verhindern, auch nicht gewaltsam.“

Knaus hält das Bild von der Unaufhaltsamkeit der Migration für ein gefährliches Klischee. Für ihn sind Lobos Ausführungen Teil einer Kaskade von „populären Trugschlüssen“ oder Wahrnehmungen, „die oberflächlich plausibel klingen, aber nicht plausibel sind.“ Die Frage, ob man Grenzen schließen könne, stelle sich nämlich nicht – natürlich könne man: „Nicht technisches Unvermögen oder irgendein Naturgesetz der Migrationsphysik hält Regierungen davon ab, größere Migrationsbewegungen zu stoppen, sondern ihre Werte und die Interessen, die sie verfolgen.“ Seien Staaten bereit zur Gewalt, könnten sie fast jede Zahl von Migranten abwehren.  Die Frage laute deshalb, wie sich verhindern lasse, dass in Gesellschaften Stimmungen entstehen, die eine Politik menschenverachtender Grenzschließungen mehrheitsfähig machen.

Dem möglichen Einwand, die Lehren des Zweiten Weltkriegs hätten einen grundlegenden Wandel bewirkt, hält er aktuelle Beispiele entgegen, so aus Australien. Das Land wollte 2011 mit der malaysischen Regierung vereinbaren, dass Malaysia ab einem Stichtag Bootsflüchtlinge aus Australien aufnehmen und ihnen auf eigenem Boden von den Vereinten Nationen betreute Asylverfahren ermöglicht. Als Gegenleistung werde Australien Schutzbedürftige direkt aus Malaysia aufnehmen, so die Idee, die das Prinzip des EU-Türkei-Abkommens vorwegnahm. Doch die damalige Labour-Regierung war im Parlament auf Australiens Grüne angewiesen, und die lehnten das Abkommen ab, da es nicht alle Asylbewerber in Malaysia einschloss. Die angeblich zynische „Malaysia-Lösung“ scheiterte. Australiens Grüne und „Human Rights Watch“ jubelten. Die Zahl irregulärer Einreisen per Boot nach Australien stieg danach drastisch, und unter dem wachsenden Druck der Wählerschaft öffnete die Labor-Regierung die zuvor als unmenschlich verworfenen, wahrlich grausamen Migranten-Gefangenenlager auf den Inseln Nauru und Manus wieder. Die Lösung „Kontrolle und Empathie“, obschon nicht perfekt, hatte gegen die Lösung „Kontrolle ohne Empathie“ verloren und wird heute von einer überwältigenden Mehrheit der australischen Parlamentarier, von der Bevölkerung sowie von den Gerichten gedeckt. Kritik der australischen Zivilgesellschaft verpufft.

Plädoyer für einen „Abschieberealismus“

Mit Blick auf solche Beispiele Knaus´ warnt Knaus: „Es genügt nicht, auf unschuldig leidende Menschen zu verweisen, um einen Politikwechsel herbeizuführen, solange der kritisierten Politik keine mehrheitsfähige Alternative entgegengesetzt wird.“ Offene Grenzen, so Knaus, seien keine realistische Alternative, da sie nirgends mehrheitsfähig sind. Nicht „Keine Grenzen“ müsse das Motto sein, sondern „keine unmenschlichen Grenzen.“ Ohne mehrheitsfähige Vorschläge und bei drohendem Kontrollverlust an Grenzen (oder auch nur dem Eindruck davon) setzten sich langfristig jedoch stets radikale Abschottungsoptionen durch wie in Australien. Politische Mehrheiten für die Aufnahme von Fremden, so ließe sich Knaus´ Fazit resümieren, schafft man nicht auf Twitter oder durch Forderungskataloge. Mehrheiten müssen gewonnen werden, und dazu reichen Appelle an das Gewissen oder Hinweise auf die rechtliche Lage nicht aus – zumal das Gewissen abstumpfen, Gesetze sich ändern und Gerichte auf Dauer nur Recht durchsetzen können, das auf einem gesellschaftlich-politischen Konsens beruht. So auch im Asylrecht und bei der Flüchtlingskonvention von 1951 samt ihren Nachfolgeabkommen.

Auch deshalb plädiert Knaus für einen „Abschieberealismus“: Abschiebungen funktionierten nämlich nur, wenn die Länder kooperieren, in die abgeschoben werden soll. Das tun sie, wenn sie einen Anreiz dazu haben. Druck allein reicht selten aus. Nötig sei eine „Migrationsdiplomatie“ mit den Herkunfts- und Transitländern. Knaus hat bei seinen Recherchen den westafrikanischen Staat Gambia besucht und resümiert: „Abschieberealismus bedeutet anzuerkennen, dass es ohne Kooperation mit und Interessen von Herkunfts- und Transitstaaten keine erfolgreiche Abschiebepolitik geben kann.“ Am Fall Gambia erläutert er, was praktikabel sei: Als Teil einer Einigung könne Deutschland etwa die Zahl der jährlichen DAAD-Stipendien erhöhen und Gambiern, die sich in ihrer Heimat, womöglich mit deutscher Unterstützung, als Fachkräfte ausbilden lassen, Möglichkeiten zur legalen Einreise bieten.

So hätte das westafrikanische Land etwas gewonnen und folglich etwas zu verlieren, weshalb der gambischen Regierung eine Bedingung gestellt werden könne: Sobald das legale jährliche Einreisekontingent steht, müsse Gambia alle Staatsbürger, die weiterhin irregulär in Deutschland ankommen, umstandslos zurücknehmen, sollten deren Asylbegehren abgelehnt werden: „Gambia und Deutschland sollten sich verständigen, dass ab einem Stichtag jeder verurteilte Straftäter und jeder, der danach aus anderen Ländern der EU nach Deutschland kam und ausreisepflichtig wurde, direkt nach Gambia abgeschoben werden kann.“ Würden auch andere betroffene EU-Mitglieder wie Spanien oder Italien solche Abkommen mit afrikanischen Staaten schließen, also im Austausch für strikte Abschiebekooperation legale Einreisequoten festlegen, „würden Anreize für weitere irreguläre und tödliche Migration über Marokko, den Atlantik und Libyen verschwinden“, mutmaßt Knaus. Er zeigt auch, wo „Abschieberealismus“ seit Jahren praktiziert wird: Nachdem Kubas Staatschef Fidel Castro 1994 angekündigt hatte, seine Polizei werde niemanden mehr aufhalten, der die Insel verlassen wolle, wuchs die Zahl der irregulären kubanischen Migranten in den Vereinigten Staaten stark.

Präsident Bill Clinton ließ sie nach Guantanamo bringen, doch der Zustrom riss nicht ab. Tausende kamen täglich. Bis Washington schließlich zusagte, mindestens 20.000 Kubanern im Jahr die legale Einwanderung zu ermöglichen, wenn Kuba dafür ab einem Stichtag alle Landsleute zurückzunähme, die trotzdem noch irregulär einzureisen versuchten. Die Zahl der Kubaner, die das Meer überquerten, sank danach von 38.560 im Jahr 1994 auf 525 im Jahr darauf. Dazu Knaus: „Abschiebungen Ausreisepflichtiger funktionieren, wenn Partnerstaaten ein Interesse daran haben zu kooperieren und wenn es sich um strategische Abschiebungen nach einem Stichtag handelt.“ Natürlich ergeben sich aus solchen Ideen Fragen – etwa danach, ob durch Abkommen dieser Art nicht auch in afrikanischen Staaten, aus denen bisher kaum irreguläre Migration in die EU stattfindet, Begehrlichkeiten geweckt werden. Doch der Status quo, bei dem praktisch alle, die irregulär aus Afrika nach Europa kommen, trotz abgelehnter Asylbegehren bleiben können, ist offenkundig auch keine Lösung.

Wer dieses Buch mit seinen vielen handfesten Ideen ebenso wie den Warnungen vor Irrwegen liest, wundert sich nicht mehr, dass Ministerpräsidenten wie Winfried Kretschmann oder Armin Laschet, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die Führung des BAMF und viele andere die Beratung von Knaus suchen. Knaus nimmt solche Einladungen gerne an, denn es steht viel auf dem Spiel: „Die Grundlage der moralischen Neugründung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausrichtung staatlicher Politik an der Menschenwürde jedes Einzelnen“ schreibt er. Um diese Grundlage zu sichern, seien Lösungen nötig, „die Mehrheiten überzeugen. Nicht irgendwann, sondern jetzt.“

Okt. 2020 | Allgemein, Essay, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren