Zählen Bilder – und genau so muß das wahrgenommen werden dürfen – mehr als Taten? Oder aber, wird stattdessen jede sachliche Debatte zum Streit skandalisiert? Und, schadet dies dann unserer Demokratie? Medien und Leser stehen vor enormen Herausforderungen. Will die Öffentlichkeit solcherlei „Polit-Rodeo“ wirklich sehen? Bitte. Lesen Sie:
Nur mal eben zum Beispiel
Erinnert sich noch wer an den „Schulz-Zug?“ Anfang 2017 beschleunigte er wie ein Katapult von null auf hundert, um innerhalb weniger Wochen vom Gleis zu geraten und als lahme Ente ins Ziel zu kommen, noch bevor er aufs Abstellgleis geschoben wurde. Auf- und Abstieg waren surreal: Schulz konnte gar nicht so viel richtig machen, wie ihm anfangs als Heilsbringer zugeschrieben wurde, und er machte längst nicht so viel falsch, wie dann heruntergeschrieben wurde.
Extremfall zwar, warf er dennoch grundlegende Fragen auf: Wie will man in hochdifferenzierten Gesellschaften auf einer solchen Achterbahn der Medienhypes noch eine überlegte, kohärente und einigermaßen vorausschauende, sprich: angemessene Politik machen?
Als Virtuosin dieser Berg- und Talbahn hat sich Angela Merkel erwiesen, deren überragende Fähigkeit darin liegt, sich durch nichts in Aufregung versetzen zu lassen, sondern mit ruhiger Hand das Krisengeschäft des Tages zu betreiben, während sie dem nominellen politischen Gegner das Wasser abgräbt. Der Preis dieser Methode liegt freilich im Verzicht auf inhaltliche Strategie und in der permanenten Bereitschaft zur abrupten Kehrtwende. Und selbst Merkel ist von den Aufs und Abs der zugeschriebenen Popularität nicht frei: Im Februar (damals, noch vor Corona …) war sie in der ermittelten Meinungsgunst ziemlich unten, bevor sie in der Krise auf neue Höhen stieg.
Jetzt steht ihre Nach-Nachfolge im CDU-Vorsitz und damit die nicht ganz unwichtige Frage an, wer mit einiger Wahrscheinlichkeit die deutsche Regierung der zwanziger Jahre führen könnte.
Statt aber zu fragen, welcher Kandidat welche politische Strategie für das Land anzubieten hat, geht es in der Medienöffentlichkeit um Hochglanzbilder (hier: Merkel und Söder Auf dem Herrenchiemsee), um einzelne Sätze aus Talkshows und um sofort ermittelte Beliebtheitswerte, bei denen man sich nur fragt, ob es dabei auch um irgendein Sachargument geht.
Anfangs saß Armin Laschet im Schulz-Zug. Als die Pandemie ausbrach, hieß es, er sei im Rennen um den CDU-Vorsitz praktisch uneinholbar. Dann wurde seine Haltung als Gegenposition zu Merkel stilisiert, die in der Meinungsgunst wieder zugelegt hatte, er reagierte in einer Talkshow unsouverän, und schon ging es bergab.
Unterdessen stieg Markus Söder auf wie eine Rakete. Er präsentierte sich als starker Mann an der Seite der Kanzlerin, mit der er sich in Herrenchiemsee inszenierte wie weiland Franz-Joseph und Sissi (wenn die Bayern diesen historisch inkorrekten Vergleich erlauben). Und die Medien hatten in Herrenchiemsee ebenso wie kurz darauf in Düsseldorf nur im Blick, ob die Kanzlerin ein verbales Taschentuch fallen ließ, um einem der Prätendenten ihre besondere Gunst zu erweisen – als könnte sie ihren Nachfolger im Kanzleramt designieren. Demokratischer Wettbewerb und politische Substanz? Fehlanzeige.
Triviale Äußerungen werden
zu Eilmeldungen hochgejubelt
Stattdessen gebieten die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie, das Rad immer noch eine Umdrehung weiter zu drehen. Annegret Kramp-Karrenbauer hat einmal zu Recht die Erfahrung beklagt, dass sie nach einem Interview ein gutes Gefühl hatte, komplexe Probleme differenziert erklärt zu haben – bis eine unterkomplex reißerische Überschrift alles zunichte machte. Und wie oft werden triviale Äußerungen von Politikern zur Eilmeldung hochgejubelt. Politprofis machen sich diese Effekte zu Nutze und inszenieren sich entsprechend – bis sie dann doch einmal aus dem Sattel fallen. Ausnahme: Angela Merkel, siehe oben.
Will aber die Öffentlichkeit dieses Polit-Rodeo wirklich sehen? Oder doch lieber ernsthafte Politik? Was die Öffentlichkeit angeblich wolle, ermitteln Umfragen, die permanent, zu allem und zu jedem erhoben werden. Dabei sind die Fragestellungen allzu oft erbärmlich unterkomplex, wenn nicht tendenziös. Das gilt nicht zuletzt für die notorischen Beliebtheitswerte – Images und Stimmungen, die reichlich wenig mit politischer Substanz zu tun haben. Aber sie machen, jedenfalls präjudizieren sie Politik: gegenüber Umfragewerten sind politische Argumente kraftlos. Der Journalist Markus Feldenkirchen hat in seiner „Schulz-Story“ über den Wahlkampf 2017 aus nächster Nähe berichtet, wie Politiker von den fast täglichen Umfragewerten getrieben sind.
Was Demoskopen über Wähler sagen, das jedenfalls ist nicht gut für die Demokratie. Am schlimmsten habe ich in Erinnerung: „Wähler mögen keinen Streit“ – auch der gilt ganz pauschal, egal, ob es sich um persönliche Schlammschlachten oder um argumentative Sachauseinandersetzungen handelt. Nach den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie wird folglich jede sachliche Meinungsverschiedenheit zum „Streit“ skandalisiert, denn der hat ja Nachrichtenwert.
Geschlossenheit schadet der Demokratie
Logische Konsequenz von Politikern – in der Regel jedenfalls – liegt darin, zur „Geschlossenheit“ aufzurufen – und durch diesen Appell zur Friedhofsruhe den Streit erst recht aufzustauen, der sich im Zweifelsfall von der politischen Bühne weg an die Ränder und außerhalb der Parlamente verlagert, siehe Flüchtlingspolitik und Corona-Demonstrationen. Der demoskopiegetriebene Politikerreflex der Geschlossenheit schadet der Demokratie.
Anliegen einer lebendigen Demokratie, die von Öffentlichkeit lebt, muss es daher sein, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Die Agora ist nicht der Ort für grabesstille Geschlossenheit, sondern des lebendigen Meinungsstreits. Vernünftige Debatten, in denen unterschiedliche Meinungen und Argumente miteinander ringen, um zu einem besseren Ergebnis zu kommen – das ist die Idee der Demokratie und das Erbe der Aufklärung, die auf die Befreiung aus den Fängen dysfunktionaler Mechanismen aktueller Aufmerksamkeitsökonomien warten.
Diese Aufgabe stellt sich allen: einer Politik, die nicht ständig auf die Medienwirkung schielt; der Demoskopie, die den Meinungsmarkt nicht ständig mit unterkomplexen Zahlen flutet; Journalisten, die nicht jede Meinungsverschiedenheit zum Skandal hochjazzen, sondern als Element demokratischer Meinungsbildung begrüßen – und einer Öffentlichkeit, die nicht so ist, wie die Demoskopie ihr einredet zu sein, sondern sehr genau zu unterschieden weiß zwischen persönlichem Streit, den niemand braucht, und sachlicher Auseinandersetzung, dem Lebenselixier der Demokratie.
Demokratie? Steht vor einer Bewährungsprobe
Europa steht vor strategischen Weichenstellungen und elementaren Herausforderungen. Dabei steht es im Wettbewerb mit politischen Systemen, die keine Rücksicht auf die Standards liberaler Demokratien nehmen. Manche liebäugeln mit dem chinesischen System, weil es so schön effektiv ist und Flughäfen fertigstellt, die in Berlin noch immer nicht eröffnet sind; oder sie haben Verständnis für den kraftvoll autoritären Wladimir Putin – egal was mit Uiguren oder Dissidenten passiert.
Im 20. Jahrhundert hat sich die Demokratie gegen alle Anfechtungen durch vermeintlich effektivere totalitäre Systeme behauptet. Aber das war und ist kein Automatismus. Wenn der „European Way of Life“ sich auch im 21. Jahrhundert selbst behaupten will, dann braucht die Demokratie keine unterkomplexe „Geschlossenheit“, sondern offene Debatten über Konzepte und Strategien für den weiteren Weg.
Gebraucht wird eine neue Aufklärung – und die braucht alle:
Politik, Medien und Öffentlichkeit.