Wie, als wenn in den Evangelien nichts gegen die Pharisäer stünde. Es war einmal, und das ist noch nicht so lange her, dass ein pensionierter Bischof die Tagung einer Evangelischen Akademie unter heftigem Protest verließ, weil ein geladener Referent die Möglichkeit sakraler Kunst heute bezweifelte. Er mag ja vielleicht – wie weiland vor den Schreiterschen Fensterentwürfe für Heiliggeist in Heidelberg gewarnt worden war – davor gewarnt worden sein …
… sich mit Solchen einzulassen, die nicht gegen diese Entwürfe unterschreiben wollten: als hätte der kritische Gedanke kein objektives Fundament, sondern wäre subjektive Verfehlung.
Menschen dieses Typus vereinigen die Neigung, sich, nach Borchardts Worten, ins Recht zu setzen, mit der Angst, ihre Reflexion zu reflektieren, als glaubten sie sich selber nicht ganz. Sie wittern heute wie damals die Gefahr, das, was sie das Konkrete nennen, an die ihnen verdächtige Abstraktion wiederum zu verlieren, die aus den Begriffen nicht ausgemerzt werden kann. Konkretion dünkt ihnen durchs Opfer verheißen, zunächst einmal das intellektuelle. Ketzer tauften den Kreis „die Eigentlichen“. ‚Sein und Zeit‘ war damals noch längst nicht erschienen. Wie Heidegger in dem Werk Eigentlichkeit schlechthin, existentialontologisch, als fachphilosophisches Stichwort einführte, so hat er energisch in Philosophie gegossen, wofür die Eigentlichen minder theoretisch eifern, und dadurch all Jene gewonnen, die daauf vage ansprechen. Entbehrlich wurden durch ihn konfessionelle Zumutungen. Sein Buch erlangte seinen Nimbus, weil es als einsichtig beschrieb, als gediegen verpflichtend vor Augen stellte, wohin es den dunklen Drang der intelligentsia vor 1933 trieb. Zwar hallt bei ihm und allen, die seiner Sprache folgten, abgeschwächt der theologische Klang bis heute nach. Denn in die Sprache sind die theologischen Süchte jener Jahre eingesickert, weit über den Umkreis derer hinaus, die damals sich als Elite aufwarfen. Unterdessen aber gilt das Geweihte der Sprache von Eigentlichen eher dem Kultus der Eigentlichkeit als dem christlichen, auch, wo sie aus temporärem Mangel an anderer verfügbarer Autorität sich diesem angleichen. Vor allem besonderen Inhalt modelt ihre Sprache den Gedanken so, dass er sich dem Ziel von Unterwerfung anbequemt; und dies selbst dort – und erst recht – wo er ihm zu widerstehen meint. Die Autorität des Absoluten wird gestürzt von verabsolutierter Autorität. Der Faschismus war – nicht nur – die Verschwörung, die er (auch) war, sondern entsprang in einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Es war die von Unmenschen gesprochene Sprache, die ihm Asyl gewährte; in ihr äußert sich auch heute und immer noch das fortschwelende Unheil so, als wäre es das Heil.
Ja, es wird hierzulande immer noch ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen – und mehr noch geschrieben; als Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins nämlich, edel und anheimelnd in einem. Untersprache als Obersprache. Sie erstreckt sich von der Philosophie und der Theologie – nicht nur Evangelischer – Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Vertretern der Wirtschaft und, minder zwar, der Verwaltung. Während er überfließt von der Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins, ist er unterdessen so standardisiert wie die Welt, die er vorgeblich verneint; teils ist er das zu tun in der Lage wegen seines Massenerfolgs, aber auch, weil er seine Botschaft nur durch seine offenbartenBeschaffenheit automatisch setzt und sie dadurch absperrt von der Erfahrung, die ihn beseelen soll. Er verfügt über eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter. Eigentlichkeit selbst ist dabei nicht das vordringlichste; eher beleuchtet es den Äther, in dem der Jargon gedeiht, und die Gesinnung, die ihn latent speist. Als Modell reichen fürs erste existentiell, „in der Entscheidung“, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung aus; der Liste ließen sich nicht wenige unterminologische Termini verwandten Toneshinzufügen. Einige haben sich derart gefärbt, wie das noch von im von Benjamin unschuldig benutzteim Grimmschen Wörterbuch nachgewiesene Anliegen. Auch Dichter der Neuromantik, die sich am Erlesenen sich vollsogen wie George und Hofmannsthal, schrieben ihre Prosa keineswegs im Jargon; dagegen manche ihrer Agenten, wie Gundolf. Die Worte werden zu solchen des Jargons erst durch die Konstellation, die sie verleugnen, durch die Gebärde der Einzigkeit jedes einzelnen davon.
Was das singuläre Wort an Magie verlor, wird ihm gleichwie durch Maßnahmen, dirigistisch angeschafft. Die Transzendenz des Einzelworts ist eine zweite, fabrikfertig gelieferte: Wechselbalg der verlorenen. Bestandstücke der empirischen Sprache werden in ihrer Starrheit manipuliert, als wären sie solche einer wahren und geoffenbarten; die empirische Umgänglichkeit der sakralen Worte täuscht dem Sprecher und dem Hörer Leibnähe vor. Der Äther wird mechanisch verspritzt; die atomistischen Worte, ohne daß sie verändert wären, aufgeputzt. Durch das vom Jargon so genannte Gefüge erlangen sie vor diesem den Vorrang. Der Jargon, objektiv ein System, benutzt als Organisationsprinzip die Desorganisation, den Zerfall der Sprache in Worte an sich. Manche von ihnen mögen in anderer Konstellation ohne Blinzeln nach dem Jargon verwendet werden; „Aussage“, wo man prägnant, in der Erkenntnistheorie, den Sinn prädikativer Urteile bezeichnet, „eigentlich“ – freilich bereits mit Vorsicht-, auch als Adjektiv, wo Essentielles von Akzidentellem unterschieden, „uneigentlich“, wo Gebrochenes gemeint ist, Ausdruck, der nicht unmittelbar dem Ausgedrückten angemessen sei; „Radioübertragungen traditioneller, in Kategorien der lebendigen Aufführung konzipierter Musik sind grundiert vom Gefühl des Als ob, des Uneigentlichen“[1]. „Uneigentlich“ steht dabei kritisch, in bestimmter Negation eines Scheinhaften. Der Jargon jedoch operiert Eigentlichkeit, oder ihr Gegenteil, aus jedem solchen einsichtigen Zusammenhang heraus. – Gewiß wäre keiner Firma das Wort Auftrag vorzurechnen, wo ihr einer erteilt wird. Aber derlei Möglichkeiten bleiben eng und abstrakt. Wer sie überspannt, steuert einer blank nominalistischen Sprachtheorie zu, der die Worte austauschbare Spielmarken sind, unberührt von Geschichte. Diese wandert jedoch in jedes Wort ein und entzieht ein jedes der Wiederherstellung vermeintlichen Ursinns, dem der Jargon nachjagt. Was Jargon sei und was nicht, darüber entscheidet, ob das Wort in dem Tonfall geschrieben ist, in dem es sich als transzendent gegenüber der eigenen Bedeutung setzt; ob die einzelnen Worte aufgeladen werden auf Kosten von Satz, Urteil, Gedachtem. Demnach wäre der Charakter des Jargons überaus formal: er sorgt dafür, daß, was er möchte, in weitem Maß ohne Rücksicht auf den Inhalt der Worte gespürt und akzeptiert wird durch ihren Vortrag. Das vorbegriffliche, mimetische Element der Sprache nimmt er zugunsten ihm erwünschter Wirkungszusammenhänge in Regie. „Aussage“ etwa will darin glauben machen, die Existenz des Redenden teile sich zugleich mit der Sache mit und verleihe dieser ihre Würde; ohne diesen Überschuß des Redenden, läßt er durchblicken, wäre die Rede schon uneigentlich, die reine Rücksicht des Ausdrucks auf die Sache ein Sündenfall. Demagogischen Zwecken ist dies Formale günstig. Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken. Eigentlich: kernig sei, daß der ganze Mensch rede. Dabei geschieht, was der Jargon selbst stilisiert ins „Sich ereignen“. Kommunikation schnappt ein und wirbt für eine Wahrheit, die durchs prompte kollektive Einverständnis eher verdächtig sein müßte. Die Gestimmtheit des Jargons hat etwas von Augurenernst, beliebig verschworen mit jeglichem Geweihten.
Dass, unabhängig vom Kontext wie vom begrifflichen Inhalt, Jargonworte klingen, als wenn sie etwas alleweil Gültigeres sagten, als das, was sie bedeuten sagten, muss mit dem Terminus Aura bezeichnet werden dürfen. Wohl eher nicht zufällig hat ihn Benjamin im gleichen Augenblick eingeführt, da, was er darunter dachte, seiner eigenen Theorie zufolge der Erfahrung zerging. Sakral ohne sakralen Gehalt, gefrorene Emanationen (also Modellen des „Hervorgehens“ von etwas aus seinem Ursprung, der es aus sich selbst hervorbringt), sind deutlich Stichwörter des Jargons der Eigentlichkeit, sind Verfallsprodukte der Aura. Diese paart sich mit einer Unverbindlichkeit, die sie inmitten der entzauberten Welt disponibel oder, wie es wohl in paramilitärischem Neudeutsch hieße, einsatzbereit macht. Die „Dauerrüge wider die“ (immer noch – und weiterhin Adorno) „Verdinglichung, die der Jargon darstellt, ist verdinglicht“ … „Auf ihn paßt Richard Wagners gegen schlechte Kunst gerichtete Definition des Effekts als Wirkung ohne Ursache. Wo der heilige Geist ausging, redet man mit mechanischen Zungen. Das suggerierte und nichtvorhandene Geheimnis aber wird so öffentlich. Wer es nicht hat, braucht nur zu reden, als ob er es hätte, und als hätten die anderen es nicht. Die expressionistische Formel „Jeder Mensch ist auserwählt“, die in einem Drama des von den Nationalsozialisten ermordeten Paul Kornfeld steht, taugt nach Abzug des falschen Dostojewsky zur ideologischen Selbstbefriedigung eines von der gesellschaftlichen Entwicklung bedrohten und erniedrigten Kleinbürgertums, was ihm jedoch nicht soll dienen dürfen als Entschuldigung für ein auch so Sein. offene-uni.de