… lesen Sie hier die Besprechung eines Buches, das man so bislang noch nie zu lesen bekommen hat: fakten- und facettenreich, basiert es sowohl auf persönlicher Erfahrung als auch konsequent durchgehaltener – im vorliegenden Fall primär historischer – Analyse. Die Rede ist von einem neuen Äthiopien-Buch – eines der wenigen in letzter Zeit auf dem deutschen Buchmarkt – der Autorin Marie-Luise Kreuter und des Co-Autoren Rolf P. Schwiedrzik-Kreuter: „Äthiopien – von innen und außen, gestern und heute“.

Wer sollte dieses Buch zur Hand nehmen? Diese Frage beantworten die Autoren zunächst selbst in der ausführlichen Einleitung, in der die 11 Kapitel resümierend dargestellt werden; es geht ihnen um eine „interessierte Leserschaft, die mehr über Äthiopien wissen will, als Reiseführer und Hochglanzbücher“ kund tun; wobei es ihnen darum geht, breitere und tiefer greifende Hintergründe zu diesem Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit aufzuzeigen, immerhin einem Land das mitunter als die „Wiege der Menschheit“ bezeichnet wird. Die Leser müssen sich bei der Lektüre nicht allzu sehr in fachwissenschaftliche Einzelaspekte verlieren, Interesse für Geschichte sollte aber schon mitgebracht werden.

Äthiopien – Wiege der Menschheit? Ja, in dem Sinne, als es neben Südafrika, Kenia, Tansania zu der (afrikanischen) Weltregion gehört, in der die sog. Hominisation stattgefunden haben soll. Das ist lange her, nämlich ca. 1,8 Mio. Jahre. Damit sind wir jedoch in einer Vorzeit, die nicht im Fokus des wegen seines integralen Blicks auf Historie und aktuelle Situation des Landes wie auch die spannende Darstellung der Fakten und Vorgänge verdienstvollen Buches steht, das sich auf eine Auswahlbibliographie von fast 130 Quellenwerken und über 1000 Verweise stützt.

Die Autorin lenkt den Blick des Lesers nach einer ausführlichen Darstellung der Geschichtsverständnisse in Äthiopien, die man am besten zweimal lesen sollte, auf einzelne historische Phasen, die ihr von Bedeutung erscheinen.  Die historische Exegese beginnt im Wesentlichen mit dem 14.Jahrhundert  der äthiopischen Kaiserzeit. Die weitere Entwicklung Äthiopiens wird dann in 8 Themenschwerpunkten  abgehandelt, bevor der Co-Autor die deutsche bzw. internationale Entwicklungszusammenarbeit mit dem „Partnerland“ aufgreift und einer resümierenden Bewertung unterzieht.

Im historischen Teil werden frühere Ereignisse und gesellschaftliche Konflikte des Landes teils in Bezug auf die Religionen, Ethnien und Geographie aufgegriffen, sodass die Leser den heutigen Vielvölkerstaat Äthiopien in seinen gesellschaftlichen und politischen Dimensionen besser einordnen können. Dass Äthiopien ein phasenweise rüde kolonisierendes  und  kolonisiertes Land war, wird dabei nicht außer acht gelassen.
So beschäftigt sich ein Kapitel mit der italienischen Invasion gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts und der damals zunächst  erfolgreichen Gegenwehr der Äthiopier (Schlacht von Adwa 1896) sowie mit dem italienisch-äthiopischen Krieg 1935/36 und dessen damaliger Rezeption in Deutschland.
Es folgt eine Darstellung der Rolle des Judentums in Äthiopien („Beta Israel“), das bis heute Gegenstand kontroverser Forschung geblieben ist – z.B. in der Anerkennungsfrage oder was den tatsächlichen Ursprung der äthiopischen Juden angeht.
Wegen ihrer  aktuellen Bedeutsamkeit ist auch die nachfolgende Abhandlung über das Verhältnis von Christentum und Islam in Äthiopien interessant, wobei der „Westen“, also Europa und insbesondere England, Frankreich, Italien und Portugal früher nicht gerade rühmliche Rollen gespielt haben, indem sie den Konflikt immer wieder verschärften. Erst mit der Revolution von 1974 konnten sich die Muslime des Landes wenigstens formal als befreite Menschen zu fühlen beginnen, sehen sich jedoch in neuerer Zeit dem „Generalverdacht“ des Fundamentalismus bzw. extremistischen Islamismus ausgesetzt.
Die äthiopische Regierung übernahm – auch aus eigenem Interesse – eine aktive Rolle im geopolitisch bedeutsamen Kampf der USA (unterstützt von Europa) gegen die „Achse des Bösen“ und marschierte 2006 in Somalia ein. Schon zuvor war der „politische Frühling“ in Äthiopien nach den verlorenen Wahlen 2005 innenpoltisch durch über 200 Tote bei Demonstrationen, Massenverhaftungen von Oppositionellen und Prozesse erstickt  worden.
„Geographisch“ geht es dann weiter mit einer Untersuchung der Funktion des Blauen Nils und seiner Nebenflüsse in Geschichte und Gegenwart. Während heute der Blaue Nil als eine Art „Hoffnungsträger“ für Wirtschaft und Wohlstand des durstigen Landes angesehen werde, sei er im Volksmythos früherer Zeiten stark in Konkurrenz zum Anrainer Ägypten gesehen worden, wobei auch die Kolonialmacht England eine gierige Rolle spielte (oktroyierte Wassernutzungsverträge). So wundert es nicht, dass der bedeutende Fluss – mythisch überhöht – zeitweise als „Verräter“ angesehen wurde, der sein Volk verdursten lässt.
Der historische Teil endet mit der Geschichte einer einstmals großen Immigrantengruppe, den Armeniern, die seit Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt ins Land strömten. Osmanen und Türken hatten den Armeniern über Jahrzehnte stark zugesetzt (bis hin zum Völkermord), sodass die vielfältigen Fluchtbewegungen der Armenier auch Äthiopien erreichten, bis es ab 1974 schließlich wieder zu Abwanderungen der armenischen Handwerker und Händler in der Folge der Militärherrschaft des Derg kam und nur eine kleine Gemeinde blieb.

In einer so dichten Präsentation der „äthiopischen Landes- und Gesellschaftskunde“ darf am Ende nicht ein Blick auf das deutsch-äthiopische Verhältnis fehlen, an dem nach 1945 beide deutsche Staaten, BRD und DDR, partizipierten.  Nach einer Darstellung der ca. 100-jährigen bi- bzw. trilateralen Beziehungen stellt die Autorin fest: Nach Mengistu Haile Mariams Sturz in 1991 „wurde Äthiopien Schwerpunktland der deutschen Entwicklungs-zusammenarbeit des wiedervereinigten Deutschland. Auch hier lässt sich offiziell eine hervorragende Zusammenarbeit konstatieren, in den Niederungen des Alltags sieht das Bild etwas anders aus.“

Von diesen Niederungen kann der Co-Autor als langjähriger Mitarbeiter der früheren Entwicklungsorganisation GTZ (seit Januar 2011 GIZ) sichtlich bzw. hörbar ein Lied singen, war er doch über 7 Jahre lang in Äthiopien als EZ-Berater und Trainer aktiv und erlebte dabei alle Höhen und Tiefen solcher „Mühen der Ebene“. Zum Ausdruck bringt Schwiedrzik-Kreuter dies mittels einer komprimierten Auswertung von 33 Interviews  deutscher und äthiopischer Kollegen und Kolleginnen aus dem Arbeitsumfeld, wobei besonders die beiderseitigen interkulturellen Anstrengungen und Differenzen deutlich werden. Eine abschließende Wertung fokussiert das als Mammutprogramm titulierte Engineering Capacity Building Programme, für das der Autor bis 2007  im Einsatz war. Dabei geht er auch mit sich selbst und anderen in die Lehre: „“Wichtig wäre es, ein offenes Ohr zu behalten und mehr zuzuhören, sich mit vielen zu vernetzen, gegenseitiges Coaching und Dialogformen zu entwickeln, mit denen man das herausfinden kann, worauf es ankommt, was wirklich aussichtsreich ist und funktionieren könnte….“
Sic! Auch in diesem Sinne ist das reich bebilderte Buch eine spannende und empfehlenswerte Lektüre.

„Äthiopien – von innen und außen, gestern und heute“. 428 S. 49 Farbabb. 220 mm
Verlag/Jahr: BOOKS ON DEMAND 2010
ISBN: 3-8391-9534-9 (3839195349) 
Neue ISBN: 978-3-8391-9534-5 (9783839195345)
Rezension von Fritz A. Feder

Jan. 2012 | Allgemein, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren