Wir neigen dazu, Gefahren erst dann ernst zu nehmen, wenn sie nicht mehr zu übersehen sind – dies und das zum Beispiel: In einer Seniorenwohnanlage in Nordrhein-Westfalen sterben 50 Bewohner, in einem Pflegeheim in Schleswig-Holstein sind es 65. Bundesweit fallen 800 Menschen dem Coronavirus zum Opfer – an einem einzigen Tag. Die Zahl der Infizierten schnellt in die Höhe: 200.000, 250.000, 300.000. Viele Krankenhäuser können keine Patienten mehr aufnehmen, auf den Intensivstationen ringen Hunderte mit dem Tod. Im Englischen Garten in München, im Hamburger Stadtpark, im Berliner Tiergarten und am Frankfurter Mainufer stehen Notlazarette, an den Eingängen wechseln sich Kranken- mit Leichenwagen ab.
Die Bundesregierung hat den unbefristeten Notstand ausgerufen. In ganz Deutschland gilt eine strikte Ausgangssperre, alle Bürger dürfen ihre Wohnungen nur noch mit Passierschein und maximal eine Stunde täglich verlassen. In den Straßen patrouillieren Bundeswehrsoldaten und Polizisten. Wer die Regeln missachtet, wird festgenommen. Die deutschen Wirtschaftszahlen fallen ins Bodenlose, die Insolvenzmeldungen überschlagen sich. Zigtausende Angestellte verlieren ihre Arbeit, binnen Wochen wird das Werk ganzer Generationen vernichtet.
Obige Szenarien gab es zwar – noch – nicht!
Aber: So schlimm kann (und wird) es kommen, wenn wir im Kampf gegen das Coronavirus Fehler machen. Und wir sind gerade drauf und dran, das zu tun. Weil wir in eine gefährliche Falle tappen: den Leichtsinn. Gerade haben sowohl die Bundesregierung als auch die Ministerpräsidenten Lockerungen der Kontaktsperre beschlossen, hat ein gefährlicher Wettlauf begonnen: Jeden Tag kommt nun irgendein Politiker oder Wirtschaftsvertreter daher und fordert eine weitere Ausnahme für sein Bundesland, seinen Wahlkreis oder seine Branche. Man kommt mit dem Protokollieren kaum noch nach: CDU-Kanzlerkandidatenkandidat Armin Laschet profiliert sich als Freiheitskämpfer und sperrt neben Geschäften und Safariparks auch Möbelhäuser und Babymärkte wieder auf. Bundesministerin Franziska Giffey sorgt sich um Familien und möchte Spielplätze freigeben. Die Landesregierung in Rheinland-Pfalz hält es für eine gute Idee, Parteiveranstaltungen abzuhalten und Einkaufszentren zu öffnen. Schleswig-Holsteins Landesfürst Daniel Günther läutet die Urlaubssaison ein und möchte „den Tourismus wieder hochfahren“. Und, was Wunder wittern und twittern Fluglinien ihre Chance und überlegen, wie sie Passagiere befördern können, notfalls halt mit Maske, aber bitte in vollbesetzten Maschinen. Und, da können sich natürlich auch die Bundesliga-Vereine sich nicht lumpen lassen und tüfteln an der Rückkehr in den Geisterspielbetrieb. FDP-Schlachtross Wolfgang Kubicki nutzt die Gunst der Stunde und bläst zum Halali auf die Kanzlerin: Die „maßt sich in der Corona-Krise Regelungskompetenzen an, die sie nicht hat“, wettert er gen Merkel:
Die Kanzlerin nämlich hat die Diskussionen über weitergehende Lockerungen der Beschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus außergewöhnlich scharf kritisiert. Nach Informationen aus Teilnehmerkreisen machte sie am Montag in einer Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums deutlich, wie unzufrieden sie sei, dass die Botschaft vorsichtiger Lockerungen in einigen Ländern zu „Öffnungsdiskussionsorgien“ geführt habe. Dies erhöhe das Risiko eines Rückfalls sehr stark.
Mit Verlaub: Recht – meinen wir – hat sie …
Folgen solcher Lockerungsübungen sind allerorten zu besichtigen
Man trifft sich wieder mit Freunden, hockt grüppchenweise im Park, feiert Corona-Partys, drängt sich durch die Einkaufsstraßen, plant Kurzreisen. Die Politik macht den Sound, die Leute machen was draus, und alle gemeinsam machen den Fehler.
Es geschieht, wovor Virologen seit Wochen warnen
Der Ausgangssperre überdrüssig, stürzen sich viele Bürger in die Sorglosigkeit, die geradewegs in die zweite Corona-Welle münden kann. Anders als zu Beginn der Pandemie wären diese Ausbrüche jedoch nicht auf einzelne Orte wie Heinsberg oder Tirschenreuth beschränkt. Inzwischen hat sich das Virus im ganzen Land verbreitet, die zweite Welle könnte daher binnen Tagen die gesamte Deutschlandkarte rot einfärben. Die Zahl der asymptomatischen Fälle liegt einer Studie aus England zufolge bei 42 Prozent. Viele Menschen tragen also das Virus in sich, ohne dass sie unter Husten, Fieber oder Lungenschmerzen leiden, sind aber dennoch ansteckend.
Und, aber: Alle anderen Infizierten sind an dem Tag, bevor die Symptome einsetzen, am stärksten ansteckend. Kerngesunde Infizierte bergen für ihre Mitmenschen also das größte Risiko.
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?
Kanzlerin Merkel hat die Gefahr all dieser Fakten erkannt und die Bevölkerung gestern in untypischer Deutlichkeit zur Vorsicht gemahnt: „Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen, sondern müssen wachsam und diszipliniert bleiben. Denn die Situation, die wir jetzt haben, ist trügerisch. Die Folgen der jetzigen Lockerungen werden wir erst in 14 Tagen sehen: Es wäre jammerschade, wenn wir sehenden Auges in einen Rückfall gehen.“
Und dann der Hieb gegen Laschet, Giffey, Günther und Co: „Es kann auch ein Fehler sein, dass man zu schnell voranschreitet.
Die „Öffnungsdiskussions-Orgien“ erhöhten das Risiko eines Rückfalls“.
Klare Kante, klare Worte – aber kommen sie auch an?
Es sieht nicht danach aus, dass die Kanzlerin ihren Kurs der Vorsicht weiter durchsetzen kann. Der Geist ist aus der Flasche, und die Flaschendreher machen munter weiter – Faria, fariaho …
Heute machen wir das auf und morgen dies und übermorgen jenes, Diesen Enthusiasmus gefährlich zu nennen, ist keine Übertreibung. Man gönnt ja jeder Branche ihr Geschäft und jedem Politiker seinen Anderthalb-Minuten-Ruhm in der Tagesschau. Aber wenn sie auch nur den Anschein erwecken, dass sie mit Menschenleben spielen, passt darauf nur ein Wort: Verantwortungslosigkeit.
„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“
Friedrich Hegel, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern.
22.Apr..2020, 05:44
Manuela Kirnbau
Sich in deutschen Innenstädten umsehen, und dort vielerorts Szenerien entdecken, die kaum mehr von normalen Zeiten unterschieden werden können, das ist derzeit usus: Da wird gejoggt, geshoppt, geklönt und gesonnt, gerne auch – warum denn das auch nicht – in Gruppen. Wer wochenlang zu Hause saß, darf nun endlich in die Einkaufsmeilen drängen, um sich neue Turnschuhe/Blumentöpfe/Badelatschen oder sonstigen Firlefanz zu gönnen. Man hat es in der Konsumwüste ja kaum ausgehalten.
Atemberaubend, aber nicht wirklich erstaunlich, wie schnell viele Bürger die Lockerung der Kontaktsperre als Freibrief für die grenzenlose Freiheit missverstehen. Trotz der schrittweisen Öffnung von Schulen und Geschäften wächst der Unmut in der Bevölkerung und die Ungeduld vieler Unternehmer: Vielen geht das offenbar alles viel zu langsam.
Das läßt sich angesichts der anhaltenden Virusgefahr riskant finden, aber schuld sind die Bürger sicher nicht allein. Die Fahrlässigkeit, mit der beinahe alle Ministerpräsidenten binnen weniger Tage ein bundesweites Regelwirrwarr angerichtet haben, könnte dereinst, wenn die Corona-Krise in den Geschichtsbüchern aufgearbeitet wird, als historischer Fehler vermerkt werden.
Heute nennen sie es fröhlich Föderalismus; später werden sie es Verhängnis nennen. Die Besonnenheit zu Beginn der Corona-Krise beginnt der Ignoranz zu weichen, das dürfte kaum zu einem glücklichen Ende führen. Schaun wir mal.
Manuela Kirnbau
22.Apr..2020, 06:16
Danke für diesen erhellenden Beitrag. In der Tat geht es heute mit Weisheiten heute oft noch so, wie Luther es derbsexistisch über die Vernunft sagte: Sie sei „die höchste Hur, die der Teufel hat“. Ihn schreckte, dass in Debatten jeder Standpunkt etwas Vernünftiges bei sich zu haben scheint. Nennt man aber deswegen die Vernunft eine Hure, dann zieht man ihr Wesen, ihre Allgemeinheit, in den Dreck – oder in das, was man dafür hält.
Das ist ziemlich riskant. Denn ohne die Allgemeinheit der Vernunft müssten wir auf den allgemeinen Anspruch der Menschenrechte ebenso wie auf die Regeln verzichten, die für wissenschaftliche Erkenntnisse gelten. Danach steht jede Aussage, die allgemeine Geltung beansprucht, unter Vorbehalt: Sie gilt nur, solange sie noch nicht als falsch widerlegt worden ist. Unser Sicherheitsbedürfnis freilich hätte es lieber eindeutig. Treffen wir eine Vernunfteinsicht auf Abwegen an, empört uns das.
Aber auch eine vermeintlich gesichert vernünftige Einsicht kann empören, wenn sie den Kontext wechselt – es bleibt dabei: Es ist wirklich so, wie Hegel gesagt hat – Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit ist die in Europa extrem dichte transnationale Wirklichkeit, welche ja das Grundprinzip der nationalstaatlichen Organisationsform von Politik aufhebt, nämlich die Grenzen.“
Denn die Bürger widersetzen sich solchem Ansinnen ja gerade deshalb, weil sie (weil wir) argwöhnen, dass uns von ihren eigenen Regierungen, vom europäischen Krisenmanagement her Gefahr drohe. Dieses Gefühl der Bedrohung kann durch das Aufbieten der historischen Notwendigkeit nur verschärft werden.
Schon in ihrer Jugend hatte Hegels Rede von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit den Verdacht erregt, sie wäre das seine Seele verkaufende Liebchen der bestehenden Regierungen. Die Argumentation ist zirkulär.
Historische Notwendigkeit hieße, dass sich etwas zwangsläufig entwickele. Entwickeln kann sich nur, was schon angelegt ist – und mehr als das, was angelegt ist, kann sich nicht entwickeln. Zudem ist es schwierig, zu den Entwicklungen eine Perspektive einzunehmen, die nicht selbst Teil der Entwicklung ist. Es fehlt also die Entscheidungsmöglichkeit. Ohne diese kann aber von Einsicht auch nicht mehr die Rede sein.
Die Linkshegelianer hielten es für eine historische Notwendigkeit, dass „der Mensch“ seine Geschicke in die Hand nähme. Ein Selbstwiderspruch. Deswegen hat der ethische Sozialismus nicht mit Hegel, sondern mit Kant gegen die Identifizierung von Vernunft und Geschichte opponiert: Das Wollen strebe immer nach Freiheit und folge dabei eigenen Gesetzen, die nicht aus historischen Entwicklungsgesetzen und auch nicht aus Naturgesetzen oder empirischen Fakten ableitbar seien. Nur dann kann sich auch Neues ereignen.
MfG
Gregor von Lüttichow