Eigentlich ist die Heuschrecke ein Einzelgänger. Wie und warum sie zum Schwarmtier wird, ist eine Frage der Neurobiologie.

Heuschreckenschwärme verdunkeln den Himmel –
am Horn von Afrika derzeit Normalität.
Am Horn von Afrika bahnt sich eine Heuschreckenplage an: In Äthiopien, Kenya und Somalia haben die gefrässigen Tiere bereits Tausende Hektaren Ackerland und Weiden zerstört, die Ernährungsgrundlage vieler Millionen Menschen ist bedroht. Denn Heuschreckenschwärme grasen die gesamte Vegetation eines Landstrichs ab; schon ein kleiner Schwarm kann Nahrungsmittel für 35 000 Menschen vertilgen.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen in Rom (FAO) rechnet mit schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung am Horn von Afrika, zumal die Lage in der Region infolge von Dürren und Überschwemmungen ohnehin schon angespannt ist. Vielerorts fanden die Experten bereits neue Gelege; in einigen Wochen dürfte am Horn von Afrika also eine neue – und noch grössere – Generation Heuschrecken ausschwärmen.
Doch wie kommt es, dass sich die Heuschrecke – eigentlich ein Einzelgänger – unter bestimmten Bedingungen so massiv vermehrt und dann in Schwärmen ganze Landstriche verwüstet? Antworten gibt die Biologie der Heuschrecken.
Eigentlich lebt die Heuschrecke solitär
Lange bekannt ist, dass weltweit über dreissig Heuschreckenarten zur Schwarmbildung fähig sind, wobei die Wanderheuschrecke Locusta migratoria und die Wüstenheuschrecke Schistocerca gregaria die in Afrika vorherrschenden Arten sind. Diese beiden Arten treten in zwei Zustandsformen, sogenannten Phänotypen, auf: einmal solitär, als ein einzelnes Individuum, daneben gregär, das heisst in einem Schwarm.
Im Solitärzustand leben die Tiere einzeln und in sehr dünner Populationsdichte in den sogenannten Rückzugsgebieten. Eidechsen und Schlangen, Vögel und kleinere Säugetiere wie Mäuse und Ratten sind ihre Feinde. Zudem ist die Vegetation dieser Rückzugsgebiete – in der Regel Wüsten – relativ spärlich. Dementsprechend angepasst ist ihr Verhalten: Sie bewegen sich nur langsam, sind durch ihre Körperfärbung getarnt, verstecken sich bei Tage und legen nur in der Nacht grössere Entfernungen zurück.


Als Einzelgänger ist die Heuschrecke unauffällig gefärbt, als Schwarmtier knallgelb.
Ganz anders das Verhalten der schwärmenden, gregären Heuschrecke. Diese Tiere sind viel beweglicher und agiler, besitzen eine auffallend gelbe Körperfärbung, ruhen bei Nacht und ziehen bei Tag. Die gregären Heuschrecken fressen praktisch alles Grüne – sogar für sie eigentlich schädliche Pflanzen. Die solitären Tiere hingegen zeigen eindeutige Nahrungspräferenzen für bestimmte Pflanzen.
Was löst die Schwarmbildung aus?
Wie dieser Wechsel von der solitären zur gregären Form in seiner ganzen Konsequenz zustande kommt, ist bisher nur teilweise verstanden. Eine grosse Rolle spielen jedoch mechanische Berührungen während des Nymphenstadiums. Die heranwachsenden Tiere haben in diesem Stadium noch keine funktionsfähigen Flügel, sondern können nur gehen und hüpfen. Die winzigen Heuschreckennymphen müssen sich, nachdem sie aus dem tief in feuchtem Sand abgelegten Gelege geschlüpft sind, erst einmal zur Oberfläche schlängeln; deshalb werden sie auch wurmförmige Larve genannt. Erst nach Erreichen der Oberfläche härtet die Aussenschicht aus Chitin, die Kutikula, aus. In diesem Stadium beginnen die Tiere zu gehen und zu hüpfen. Sie fressen zunächst die Vegetation am Ort des Schlüpfens, dann ziehen die Tiere, nun Hüpfer genannt, weiter.
In einem normalen Rückzugsgebiet fallen die jungen Tiere oft Fressfeinden zum Opfer, oder sie verhungern. Auf diese Weise dünnt sich die Population mit jeder der sechs Häutungen aus, so dass nur wenige Hüpfer bis zum erwachsenen Zustand durchkommen. Anders sieht es aber aus, wenn durch ergiebige Niederschläge die Umweltbedingungen besser werden: Inmitten üppiger Vegetation überleben mehr Hüpfer, die dann sogenannte marschierende Hüpferbanden («marching hopper bands») oder Prozessionszüge bilden. In einem solchen Prozessionszug berühren sich die Hüpfer mit Beinen und Körper ständig. Dies führt letztlich zur Ausbildung des Schwarmtyps.
Die so gregär gewordenen Hüpfer werden nach nur fünf Nymphenstadien erwachsen. Sind die Flügel ausgehärtet und alles umliegende Grün abgefressen, setzen sie sich als Schwarm in Bewegung. Sie schwärmen vorwiegend in der vorherrschenden Windrichtung aus, deshalb werden sie bei der lokalen Bevölkerung auch die «Zähne des Windes» genannt.
Sobald ein Gebiet mit üppiger Vegetation erreicht ist, lässt sich der Schwarm nieder und beginnt mit seiner zerstörerischen Mahlzeit. Erreichen die Tiere die Geschlechtsreife, kommt es zur massenhaften Eiablage – und ein noch schlimmerer Zyklus beginnt.


Schon ein relativ kleiner Schwarm kann Nahrungsmittel für 35 000 Menschen vertilgen
Der Übergang von einer Phase in die andere interessiert Neurobiologen sehr; vor allem, weil damit viele Veränderungen im Nervensystem des Organismus und in seinem Verhalten verbunden sind. Beispielsweise ändert sich der Gehalt von Serotonin, einem Botenstoff, der auch in unserem Nervensystem eine wichtige Rolle spielt. Einzelne Gehirnteile vergrössern sich, während andere schrumpfen. Hinzu kommen Veränderungen im äusseren Erscheinungsbild und hinsichtlich der Nahrungspräferenz: Während solitäre Heuschrecken sorgfältig wählen, sind die gregären Tiere gewissermassen Allesfresser. Offenbar können all diese Veränderungen sehr schnell ablaufen, darauf deuten jedenfalls die bisherigen Befunde hin. Viele Aspekte davon sind jedoch noch nicht vollständig verstanden und Gegenstand aktueller Forschungsarbeiten. Ausserdem wird noch erforscht, ob bei der synchronen Kopulation und Eiablage im Schwarm von aussen einwirkende Substanzen, Pheromone, oder bestimmte Kontaktsubstanzen der Aussenhaut eine Rolle spielen.
Was hilft?
Doch wie kommt man diesen Massen von Heuschrecken bei? Letztlich ist es, wenn einmal ein Schwarm entstanden ist, eigentlich viel zu spät. Dann nützt nur noch die grossflächige Anwendung schnell wirkender Insektizide, die in der Regel von Flugzeugen oder Geländewagen aus versprüht werden.
Wichtig wäre deshalb die vorbeugende Bekämpfung marschierender Hüpferbanden. Dort können aus Pflanzen gewonnene häutungshemmende Substanzen viel gezielter eingesetzt werden. Dies setzt aber voraus, dass es ein gut funktionierendes Netz von Informanten gibt, welche sorgfältig die Natur beobachten und Anhäufungen von Hüpfern oder Gebiete mit starker Eiablage sofort melden.
Solche lokalen Informationssysteme hat es auch in den jetzt betroffenen Gebieten am Horn von Afrika schon einmal gegeben, im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen in der Sahelzone und im östlichen Afrika sind diese heute aber nicht mehr in dieser Form existent. Ein derartiges Netzwerk wieder aufzubauen, sollte deshalb ein Ziel von Nichtregierungsorganisationen in Zusammenarbeit mit den lokalen Politikern sein.
Hans-Joachim Pflüger ist Professor für Neurobiologie an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet auf dem Gebiet der Insektenphysiologie und Insektenneurobiologie und hat sich intensiv mit Wanderheuschrecken und deren Nervensystemen beschäftigt.