Mit diesem Urteil zum (StGB § 117) hat es sich das Bundesverfassungsgericht nicht leicht gemacht, die Karlsruher Richter beschränkten sich nicht nur etwa auf das Schicksal Schwerstkranker, sondern geben jedem Bürger mit ihrem Urteil die Möglichkeit, von ihrem Recht auf einen selbstbestimmten Tod Gebrauch machen zu können. Und, ausdrücklich schliessen sie damit auch alle – nicht nur unheilbar – Kranke mit ein, womit die Richter einen so weiten Freiraum öffnen, dass das in der Tat an eine Zumutung grenzt. Eine – muss allerdings gedacht werden dürfen – längst notwendige Zumutung.

Nicht etwa einer vordergründig göttlichen Instanz ist dies Urteil geschuldet – es wurde einem Staat abgerungen, dem, unabhängig von allen religiösen Wertvorstellungen, endlich widersprochen wurde, womit er den Menschen zum Entscheider über das eigene Sterben zu machen in der Lage ist.
Vordergründig zwar scheint das aktuelle Urteil des BVG religiösen – christlichen zumal – Vorstellungen zu widersprechen;  lassen wir jedoch erst einmal griechisches Denken zu Wort kommen, das – von Plato an – die Unsterblichkeit der Seele bestätigt, und in  welcher die jüdisch-apokalyptische Erwartungshaltung sich eindeutig zur Auferstehung bekennt.

Und schließlich hat das Christentum dann stets der Unsterblichkeit der Seele das Wort geredet, hat von Anfang an die Auferstehung des Leibes und das ewige Leben gelehrt. 
Im – zu guter Letzt – Islam sodann gibt es auch eine Lehre von sowohl dem Paradies als auch einer Hölle als ewigem Los der Toten.
Würdig sterben, davor hat unsere Gesellschaft bislang Apparatemedizin (die hier keineswegs in Bausch und Bogen schlecht geredet werden soll) religiösen Zauber und (darauf basierend) Gesetze gesetzt.

Kriminalisierung des Freitodes ab dem 5. Jahrhundert

Sie kommt, ebenso eifrig, wie brutal; und verspätet. Mit durchaus nämlich einigem Recht darf die Urkirche verdächtigt werden, durch den Märtyrerkult zum Freitod angestiftet zu haben, der als Eintrittskarte ins Reich der Seligen galt. Hatte nicht der Heilige Petrus, – seinem göttlichen Mentor gleich – freiwillig den Tod gesucht? „Niemand entreißt mir das Leben, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin“, legt der Evangelist Johannes (10,18) Christus in den Mund. Im 3. Jahrhundert spinnt Tertullian, einer der Kirchenväter, das Thema weiter aus; „Der Gott Christus ist nur deshalb gestorben, weil er damit einverstanden war. Gott steht nicht unter der Herrschaft des Fleisches“
Im 4. Jahrhundert dann kommt es Augustinus in den Sinn, nachzuweisen, dass der „Selbstmord“ eine abscheuliche und verdammenswerte Schlechtigkeit ist“ und das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“ auch für die eigene Person zu gelten habe. Diese plötzliche theologische Entdeckung, die – was Wunder – als ewige Wahrheit präsentiert wird, veranlaßt Jean-Jaques Rousseau – dem wir uns ausdrücklich anschließen – trotzig zu polemisieren: „Die Christen haben die Grundregeln über den freiwilligen Tod weder aus den Prinzipien ihrer Religion, noch ihrer einzigen Richtschnur, welche die Heilige Schrift ist, sondern allein aus den Werken heidnischer Philosophen entnommen: Lactantius und Augustinus, welche zuerst die neue Lehre verkündet haben, wovon aber Jesus Christus und die Apostel nicht ein einziges Wort gesagt hatten, stützten sich nur auf die Beweisführung im Phädon; auf dass die Gläubigen, welche hierin der Autorität des Evangeliums zu folgen glauben, nur der des Plato folgen.“

Privileg des Humanen

Die Wende in der Lehrmeinung dann fällt in die Periode, in welcher Kirche – im römischen Reich lediglich subversive Sekte – zur Macht aufsteigt und die herrschende Ideologie produziert.
Von Stund an widmet sie sich der Beherrschung dieser Welt, statt ihre Schäfchen zu ermuntern, sich der jenseitigen („…mein Reich ist nicht von dieser Welt“) anzuschließen. Von Konzil zu Konzil wird nun das kanonische „Recht der Selbsttötung“ repressiver und greift noch bis heute in die längst notwendige Diskussion um Freitod und Sterbehilfe ein. 
Freitod und Sterbehilfe, von Religionen und nicht zuletzt eben deshalb auch von der Gesellschaft verdammt, läßt diese Privilegien des Humanen als ein Vergehen erscheinen, als unnatürlichen und absurden Akt. 
Hat nicht aber schließlich auch der „natürliche“ Tod sein Unnatürliches und Skandalöses?

Bis hin zu diesem aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteil vor wenigen Tagen – am 20. Februar 2020 – mussten doch Menschen mitten im Leben Angst haben, war doch zu befürchten, dass kein Arzt bereit sein würde, sie eines Tages durch aktive Euthanasie zu einem würdigen, vom Kranken ersehnten und durch sorgfältige Sicherungsmaßnahmen geschützten Tod zu geleiten.

Musste es denn wirklich unabdingbar so gewesen sein, dass Menschen niemals gelassen, ruhig und furchtlos leben durften, weil die Angst vor dem Tod in Würdelosigkeit und unverschuldetem kindischen Gebaren ständiger Begleiter war?

Warum durfte ein Mensch nicht sterben,

mußte sich sterben lassen und sich einem Entsetzen preisgegeben, das mit Leben, Würde und Humanität nichts mehr zu tun hatte, sondern Schmerz- Ekel- und Apparate-Dasein war, ein Dasein unter Umständen mit einer Lähmung bis zum Hals, mit der Einkerkerung in eiserne Lungen, mit der Nichtexistenz der an Geist und Körper Zerstörten?

Apparate abschalten

Dass mit der Bitte um Sterbehilfe Ärzte allerdings alleine gelassen wurden, dass mit der Bitte um  Sterbehilfe an Ärzte deren Grundsätze angegriffen und dass ihr Streben auf Lebensverlängerung eher denn auf Lebensqualität würde gerichtet sein müssen, das war und ist auch immer noch ein zentraler Punkt dieser Debatte. Gegen das Dilemma, vor dem die Ärzte stehen und in dem sie in Zukunft immer häufiger sich befinden werden, setzen wir als einzige Möglichkeit, dieses – für sie wahrlich schwierige – Problem zu lösen, eine Revolutionierung ihrer ärztlicher Grundhaltung.
Die gesamte Ärzteschaft hat nun mitsamt dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu lernen, sich der Verantwortung zu stellen, die mit der Lebensverlängerung ebenso verbunden ist, wie mit der Frage des – würdigen – Sterbens. Mediziner müssen den Mut aufbringen, sich mit den Konsequenzen ihres Könnens auseinanderzusetzen und sich zu guter Letzt bereit finden, Hilflosen auf ihr unzweifelhaftes Begehren bei der Beendigung unnötigen Leidens zu helfen.

Falsch programmiert?

Innere Erlebnisfähigkeit ist in unserer Kultur weitgehend blockiert, blockiert vor allem durch Riegel, die im Namen der Moral, der menschlichen Würde und einer falsch verstandenen Humanität gegen das „Tier im Menschen“ gesetzt worden sind. Viele elementaren, vegetativen und animalischen Erlebniszonen können darum vom menschlichen Bewusstsein nicht mehr erreicht werden. Die meisten (erwachsenen jedenfalls) Menschen können weder richtig heulen, noch richtig wütend werden, noch richtig lieben, noch richtig genießen, noch richtig ruhen, noch richtig atmen und, ja, eben auch –  nicht richtig sterben …
Durch falsche Programme haben wir uns selbst von elementaren Lebensenergien und Lebenszusammenhängen abgenabelt; mit unserer „objektiven Wissenschaft“ haben wir dann diese Trennung von unseren Quellen ideologisch zementiert!

Euthanasie, der „schöne“ der „gute“ Tod, die euphemistische Umschreibung für die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ wie im sogenannten dritten Reich der Terminus hieß – den hatte es bereits vor der NS-Zeit – und nicht nur in Deutschland gegeben und für Diskussionen gesorgt, und es waren nicht nur Rassenideologen unter den Befürwortern. Auf Darwin – so man will – läßt sich dies Thema bereits zurückführen. Aber, und immer wieder auf die Kirche – wenngleich diese als meist vorgeschobener Verweis auf unser christliches Menschenbild dient, womit die politische Debatte über Freitod und Sterbehilfe seit Jahren gesprägt ist und womit Politik sich auch immer wieder faktisch über den freien Willen aufgeklärter Bürger hinweg setzte. Dass zu alledem verunsicherte Mediziner vor 4 Jahren der Bundestag die geschäftsmäßige, wiederholte Förderung des Suizids unter Strafe stellte, machte die Verwirrung nicht weniger verwirrend. Und dass sich gar Mediziner bis heute strafbar und mit dem Entzug der Approbation konfrontiert sehen, wenn sie sich auch nur auf ein von einem verzweifelten Patienten erbetenes Gespräch zum Suizidwunsch „breitschlagen“ ließen – auch dass zehn regionale Ärztekammern ihren Mitgliedern bis heute mit dem Entzug der Approbation drohen, wenn sie auch nur ein Gespräch darüber führen, wer ihnen hilfreich bei einem Suizid zur Seite stehen würde – derweil das sieben andere nicht tun – ist wenig hilfreich.
Wen wunderts da noch, dass die Bahn mehr als häufig Verspätungen „Personenschadens“ wegen durchzulautsprechern gezwungen war – nachdem der Staat alle anderen Wege gesperrt hat.

Nun ist wieder die Politik gefragt. Das neue Gesetz jedenfalls erlaubt Suizidhilfe – auch „bedenkliche Formen“ – wofür das Urteil allen möglichen Raum läßt; all dies erlaubt das Urteil ebenso, wie es auch erlaubt, alles zu versuchen, Menschen vom Weiterlebenwollen zu überzeugen. Allerdings darf künftig auch die Politik Suizid nicht mehr unmöglich machen. Es gibt Lösungen – etwa noch auszubauende Palliativmedizin und Hospize würden Möglichkeiten hierzu bieten.

März 2020 | Allgemein, Gesundheit, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Senioren, Wissenschaft, Zeitgeschehen | Kommentieren