Eribons Analyse setzt ein mit einer fulminanten „Sozialanthropologie“ der gelebten Erfahrung, in der zentrale Etappen der Konstitution einer homosexuellen Identität nachgezeichnet werden. Auf sie folgt eine historische Rekonstruktion der literarischen und intellektuellen Dissidenz sowie der »homosexuellen« Rede – von den Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Oscar Wilde und Marcel Proust bis zu André Gide im 20. Jahrhundert. Die Untersuchung mündet in einer Neuinterpretation von Michel Foucaults philosophischem Denken über Sexualität, Macht und Widerstand. In der brillanten Verknüpfung von Soziologie, Literatur und Philosophie bietet dieses große Buch mehr denn je Werkzeuge für all jene, die über Differenz und Emanzipation nachdenken wollen.
Leben im Geheimen
Zentral ist dabei die immer mögliche Beleidigung, die Injurie. Das Bedürfnis, ihr zu entgehen, treibe Schwule und Lesben aus den Familien hinaus, in die anonymen Großstädte, in bestimmte Berufe und in die Klandestinität.
Konstitutiv für Homosexualität sei das Geheimnis, die „Struktur des Verstecks“, schreibt Eribon, und die Möglichkeit, als Homosexueller entdeckt und beleidigt zu werden, führe oft zu Leugnung und Selbsthass. Immer wieder weist Eribon auch auf die patriarchale Grundlage der Homophobie hin, denn verpönt am Schwulen ist vor allem das „Effeminierte“, das abgewertete Weibliche.
Eine Frage der Gesellschaft – aber nicht nur
Homosexualität ist also gesellschaftlich bedingt. Ganz auf die Seite der These, dass sie ein rein historisches Konstrukt sei, will sich Eribon aber nicht stellen. Mit seinem Buch schreibt er gegen die einflussreiche Behauptung Michel Foucaults an, derzufolge Homosexualität eine reine Erfindung der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts sei.
Diese Aussage Foucaults sei in ihrer Radikalität von vielen Interpreten missverstanden worden, meint Eribon, und sie sei sachlich falsch. In einem langen historischen Exkurs weist er nach, wie sich im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert mit Oscar Wilde, Marcel Proust, André Gide, aber auch den Oxforder Hellenisten Walter Pater und John Addington Symonds ein wissenschaftliches und literarisches Sprechen über homosexuelles Begehren entwickelte, auf das der psychiatrische Diskurs dann erst reagierte.
Es gab, so will Eribon zeigen, genuine Äußerungsformen und auch eine rege schwule Subkultur, die sich trotz der gesellschaftlichen Ächtung einen Weg bahnten und nicht erst durch das Verbot hervorgebracht wurden.
Die Umkehr der Scham
„Betrachtungen zur Schwulenfrage“, im französischen Original bereits 1999 erschienen, steht ganz unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Liberalisierung ab den 1970er-Jahren. Es ist aber auch eine Auseinandersetzung mit jenen Kritikern, denen die neuen Freiheiten und die offensive Sichtbarkeit der Schwulen und Lesben heute zu weit gehen.
„Können die sich nicht ein bisschen zurücknehmen?“ Nein, meint Eribon. Politisch gebe es nur eine Möglichkeit, der Knechtschaft durch das Stigma zu entkommen, nämlich Öffentlichkeit und ein Bekenntnis der Zugehörigkeit zur stigmatisierten Gruppe: „Exhibitionismus ist die Umkehrung der Scham, aber es geht nicht anders“, schreibt Eribon.