Céline Sciamma fügt in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ dem männlichen Kanon eine andere, ihre eigene Perspektive hinzu. In „Die traurigen Mädchen aus den Bergen“ zeichnen Candy Flip und Theo Meow eine trauriges Bild linker Diskurse über Pornographie und andere Aspekte der Gesamtscheiße.


Immer wieder setzt der Kohlstift auf einer leeren Leinwand an. Auf mehreren Leinwänden, um genau zu sein, aber das weiß man im ersten Augenblick noch nicht. Die Leinwände stehen vor jungen Schülerinnen, die Marianne (Noémie Merlant) in Porträtmalerei unterrichtet. Vielleicht werden sie ja infolge dieser Stunde einmal große Kunst erschaffen.

Große Kunst ist jedenfalls allgegenwärtig in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich mühsam versucht aus dem Arrest ihrer Zeit und ihres Standes zu befreien. Der erste Schritt in diese Richtung ist ein Spaziergang am Meer. Der Wind fährt ihr ins Haar, sie rennt, ähnlich wie Florence Pugh als Lady Macbeth. Wie Céline Sciamma in ihrem Film Blicke dirigiert und so die oberste Deutungshoheit über die Gefühle ihrer Figuren behält, erinnert an „Vertigo“. Wie sie das Dilemma zwischen ihnen auflöst, an Orpheus und Eurydike. Schlussendlich entlädt sich die aufgebaute Spannung zum letzten entflammten Satz aus Antonio Vivaldis Sommer. Man muss nicht erst suchen, um im Subtext von „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ einen Kanon männlicher Meisterschaft auszumachen, der seine Inspiration aus dem Blick auf das Weibliche schöpft.

Auf der Handlungsebene dagegen ist einer dieser männlichen Meister bereits krachend gescheitert. Auf einer abgelegenen Insel in der Bretagne des 18. Jahrhunderts soll ein Hochzeitsporträt entstehen, doch die künftige Braut Héloïse (Adèle Haenel) weigert sich standhaft Modell zu sitzen, so dass der engagierte Künstler frustriert das Handtuch wirft. Ein Entwurf im Haus zeugt noch davon: Er zeigt das Brustbild einer Frau im dunkelgrünen Brokatkleid, in würdevoller Haltung und mit einem unwirsch verwischten Flecken da, wo das Gesicht sein sollte. Lange Zeit war das Hochzeitsporträt ein bedeutendes Genre der Porträtmalerei, gewissermaßen Reklame für die Frau, die ihrem Bildnis folgend bald darauf in den Besitz des Mannes übergehen sollte. So ist es auch der Gräfin (Valeria Golino) widerfahren, die nun unbedingt ihre Tochter verheiraten will: „Mein Bild ist vor mir hier angekommen“, sagt sie und deutet nach oben, woraufhin die Kamera ihrer Bewegung folgt und ihr Doppel offenbart: Eine jüngere, grazilere Version ihrer Selbst, eingefroren in der Idealisierung, gegen die die lebendige, alternde Figur nie ankommen wird, nie ankommen kann.

In gewisser Weise hat sich das Dilemma des Hochzeitsporträts erhalten. Die Porträtfotografie ist die vielleicht uninteressanteste Form der Fotografie. Statt irgendeiner Seele in den Augen des Porträtierten sieht man darin letztlich immer nur die eigene Projektion. Aber Céline Sciamma stellt ihre Figuren nicht aus für einen kurzen, schalen Moment der vermeintlichen Identifikation mit ihnen. Stattdessen dehnt sie die Zeit bis zu Héloïses erstem Auftritt fast bis zum Nervenzehrenden. Erst einmal muss Marianne ihren Weg auf die Insel finden, in einem besorgniserregend schwankenden Boot, angeheuert, um es im Geheimen noch einmal mit dem Hochzeitsporträt zu versuchen. Vorgeblich soll sie nur Héloïses neue Gesellschafterin spielen und mit ihr spazieren gehen. Vielleicht ist das der Grund, wieso Marianne Héloïse unentwegt anstarrt: um sich all ihre Gesichtszüge aufs Genauste einzuprägen. Vielleicht erwachen aber auch sofort Gefühle. Die beiden Frauen kommen einander näher und Marianne wird immer häufiger zur Fürsprecherin der Tochter gegenüber der Gräfin: „Sie ist nicht traurig, sie ist wütend.“



Angesichts dieser Tatsache verwundert es fast, dass Sciammas Filmsprache nicht ebenfalls wütet und anklagt. Sie ordnet ihr abgeschlossenes, minimalistisches Setting viel klassischer an, als man es angesichts ihrer vorherigen Filme – sozialrealistische Dramen über kleine Aufrührer-Innen wie „Mädchenbande“ oder „Tomboy“ – erwarten würde.
Weder formuliert sie ein Manifest wider die Lebensumstände ihrer Hauptfiguren, die ihre Situation zwar bedauern und sich darin ihre Schlupflöcher suchen, sie letztlich aber als gegeben hinnehmen; noch scheint Sciammas eigener Blick auf die Perspektiven der Kunst, die sie referenziert, von Bitterkeit geprägt. Sie fügt dieser lediglich ihre eigenen Sichtweisen hinzu. Macht Blickwinkel sichtbar, die zuvor nicht sichtbar waren. Etwa, wenn die Heldinnen eines Kostümdramas ihren Regelschmerzen mit heißen Kirschkernen zu Leibe rücken.

„Möchtest du ein Kind?“ ist die einzige Frage, die Marianne und Héloïse der Magd Sophie (Luàna Bajrami) stellen, als die ihre Schwangerschaft nicht länger ignorieren kann. Ihre einfache Antwort darauf reicht. Sciamma inszeniert die sich daran anschließende Abtreibung nicht als psychologisches Dilemma, sondern als schlichte Notwendigkeit. Schmerzhaft in vielerlei Hinsicht, aber als in vollem Bewusstsein getroffene Entscheidung. Als es vorbei ist, stellen die Frauen die Szene noch einmal unter sich nach und Marianne hält sie fest: Mit Pinsel und Wasserfarben in ihrem kleinen Skizzenbüchlein. Einmal mehr bleibt es Sache des Betrachters, ob er diesen Schritt als befreiend, als mutige Ermächtigung oder als abstoßend betrachtet. So oder so ändert es nichts mehr am Entscheidenden: Der Strich auf der Leinwand ist gemacht, der Kanon ein wenig näher an der Vielstimmigkeit.

Einmal fragt Héloïse, wie Musik klingt, die nicht von einer Kirchenorgel kommt. Kurz darauf folgt eine der Schlüsselszenen in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, als eine der wenigen Szenen des Films von Musik begleitet: Ein Frauenchor singt bei einem Dorffest am Lagerfeuer, singt eine polyphone Harmonie, die sich aus zunächst kaum wahrnehmbaren, sich jedoch kontinuierlich steigerndem Gesumme emporschwingt, um am Ende in zischelndes Geflüster einzugehen. Noch während Héloïse bezückt dem Chor lauscht, fängt ihr Rock Feuer, sie steht buchstäblich in Flammen.

Porträt einer jungen Frau in Flammen – Frankreich 2019 – OT: Portrait de la jeune fille en feu – Regie: Céline Sciamma – Darsteller: Noémie Merlant, Adèle Haenel, Luàna Bajrami, Valeria Golino, Christel Baras – Laufzeit: 119 Minuten.

Nov. 2019 | Feuilleton, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Film | Kommentieren