sammlung_kicken_p0509134-sm2.jpgKurz nach der Jahrtausendwende messen zeitgenössische Künstler und Kunsthistoriker der politischen Kunst der 1960er Jahre erneut einen hohen Stellenwert bei. Im Gegensatz zu damals sehen sich heutige Künstler jedoch mit einer anderen Auffassung des Politischen konfrontiert.

In den letzten 40 Jahren wurde die Idee des ”Realen” durch die Postmoderne systematisch demontiert. Bis heute geht man davon aus, daß sowohl Kunst als auch andere Formen der visuellen Wahrnehmung von der Art der Vermittlung und des vermittelnden Mediums abhängig sind. Ein Foto ist nicht nur ein Foto, das einen Ausschnitt der Wirklichkeit getreu wiedergibt. Man muss bei der Bertrachtung eines Fotos immer danach fragen, welcher Ausschnitt gezeigt wird und was wiederum ausgelassen wurde. Denkt man diesen Ansatz weiter, kommt man zu der Schlussfolgerung, daß es nicht die Realität, sondern nur vermittelte Realitäten gibt. Aus dieser Einsicht heraus haben Künstler damit begonnen, politische Aussagen mit Medienreflexionen zu verknüpfen, um politische Systeme und deren kulturelle Konstruktion gezielt zu hinterfragen.

Politische Wahrheiten zeigt 11 Werkgruppen, die sich allesamt mit dieser Fragestellung befassen.

sammlung_kicken_p0509128-01.jpg

„A.C. Able Day at Bikini Atoll“, 1946, 20,5 x 25,5 cm, gelatin silver print. Sammlung Kicken

Christoph Draeger

Die Videoarbeit Helenés des Schweizer Künstlers Christoph Draeger verwebt die Dokumentationen zweier ideologischer Konflikte und enttarnt dabei beide als kulturell bedingte Spannungen ohne wirkliche Basis. Altes Filmmaterial aus Ungarn zeigt die Vorkehrungsmaßnahmen, welchen sich die ungarische Bevölkerung während des Kalten Krieges für einen drohenden nuklearen Zwischenfall unterziehen lassen mussten. Den Bildern ist eine ruhige, monotone Stimme in ungarischer Sprache unterlegt, welche die Vorkehrungen erläutert. Nach einer Weile muss dem Betrachter auffallen, daß der englische Untertitel keine Übersetzung dessen ist, was der ungarische Sprecher sagt. Sie stammen aus einem anderen Zusammenhang, aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort. Es geht um den Fall des Kommunismus und Freiheit, ein Wort, welches während des Films nicht weniger als 41mal auftaucht. Die Untertitel stammen aus der Rede, die der Amerikanische Präsident George W. Bush zum Antritt seiner zweiten Amtsperiode am 20. Januar 2005 hielt.

IRWIN

Ein weiterer Teil der Ausstellung ist die “East Art Map” der slovenischen Künstlergruppe IRWIN, welche behauptet, daß Geschichte nicht existiert und diese Provokation als Einladung an den Betrachter verstanden wissen will, zu helfen, eine Geschichte zu (re)konstruieren. Die Behauptung, daß Geschichte nicht existiere, speist sich aus der osteuropäischen Kunstgeschichte, welche bis heute niemals als zusammenhängende Geschichte aufgeschrieben wurde. IRWIN versucht nun, eine solche Geschichte im Nachhinein zu konstruieren. Ihre Karte soll zukünftig jungen osteuropäischen Künstlern, die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs an westeuropäischen Positionen orientieren mußten, als Werkzeug dienen.

Måns Wrange

Mit seinem Projekt Marianne verfolgt der schwedische Künstler Måns Wrange einen ähnlichen Weg der Konstruierung von Fakten und Wahrnehmungen. Der Name „Marianne“ ist der in Schweden am häufigsten vorkommende Name (der Anteil der weiblichen Bevölkerung in Schweden ist minimal höher als der der männlichen). Mit Marianne konstruiert Wrange den durchschnittlichen Schweden. Er läßt sie an öffentlichen Debatten und Radiosendungen teilhaben und Zeitungsartikel schreiben, in welchen sie durchschnittliche Meinungen zu aktuellen Themen vertritt. Die Auswirkungen Mariannes’ Statements wurden später in Meinungsumfragen gemessen. Die fiktive durchschnittliche Bürgerin übt Einfluss auf die öffentliche Meinung aus, wird Teil der Gesellschaft, aus welcher sie zuvor kreiert wurde – der Kreis schließt sich.

Wie diese Geschichten gestaltet sind, ist nicht nur eine sprachliche Angelegenheit, sondern auch eine Frage der visuellen Erinnerung.

Luc Tuymans

Der Belgier Luc Tuymans hat sich in einer Reihe von Bildern mit fotografischen Dokumenten der NS-Zeit auseinandergesetzt und diese mit einer bewußt skizzenhaften Malart verschleiert. In der Ausstellung wird das Bild eines Ski fahrenden Albert Speer gezeigt, das sich duch die skizzenhafte Überarbeitung und die Entkontextualisierung des Zeitdokuments in eine banale Darstellung eines gesichtslosen Mannes in einer aussageschwachen schneebedeckten Landschaft verwandelt.

Beteiligte Künstler:
Jeremy Deller, Christoph Draeger, Isa Genzken, Tarek Al-Ghoussein, IRWIN, Allan Kaprow, Thomas Locher, Luc Tuymans, Gitte Villesen, Måns Wrange, sowie historische Fotografien aus der Sammlung Kicken, Berlin.

Bis zum 05. November 2006

Hauptstraße 97 69117 Heidelberg T. 06221 – 184086
Öffnungszeiten: Di – Fr 12 – 19 Uhr Sa, So 11 – 19 Uhr Mo geschlossen

Öffentliche Führungen: Freitag, 22. 09. 2006 17 Uhr Mittwoch, 11. 10. 2006 13 Uhr

Okt. 2006 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren