Ein mutmaßlicher Rechtsextremist wird verdächtigt, den Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke ermordet zu haben. Ein Blick in die Geschichte der extremen Rechten zeigt: Terror ist kein neues Phänomen. Nachdem sich der Verdacht auf einen rechtsextremen Tathintergrund im Fall Lübcke erhärtet hat, wächst die Sorge vor einer Wiederkehr des rechten Terrors.

Dass es – auch nach der Selbstenttarnung des NSU – ein Potenzial für Rechtsterrorismus gibt, zeigte bereits eine vertrauliche Auswertung des Bundesamtes für Verfassungsschutz im November 2017. Die Behörde bezog sich bei ihrer Einschätzung unter anderem auf Gruppierungen wie „Oldschool Society“, die „Gruppe Freital“ oder die „Freie Kameradschaft Dresden“.

Politiker als Ziel rechter Gewalt

Weitere Hinweise auf terroristische Bestrebungen gab es in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder. So fanden Ermittler bei Razzien in der rechtsextremen Szene sogenannte Feindeslisten mit 25.000 Namen. Auch wegen Gruppen wie „Nordkreuz“, „Revolution Chemnitz“ oder der Drohschreiben eines vermeintlichen NSU 2.0 warnen Experten schon länger vor einer neuen Generation Rechtsterroristen.

Dass Rechtsextreme Politiker wie Walter Lübcke als Ziel von Gewalt ausmachten, sei keinesfalls ungewöhnlich für die gewaltbereite rechtsextreme Szene, meint Daniel Köhler. Er ist Gründer der Initiative „German Institute on Radicalization and De-Radicalization Studies“ und hat eine Datenbank zum Rechtsterrorismus erstellt.

Sollte sich der Verdacht der Ermittler bestätigen, sei das Besondere an dem Fall aber, dass es nicht bei einer Drohung blieb, sondern der Anschlag auch durchgeführt wurde. Oftmals werde Gewalt eher gegen andere Ziele wie Flüchtlinge ausgeübt oder die potenziellen Attentäter würden vorher von den Behörden entdeckt. Vergleichbar sei der Fall in jüngster Zeit am ehesten mit dem Attentat auf die heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

Mindestens 229 Opfer seit den 1970ern

Ein Blick auf Zahlen zu rechtsextremem Terror in Deutschland zeigt, dass dieser kein neues Phänomen ist. Auf das Konto rechtsextremer Terroristen gehen Köhlers Datenbank zufolge 229 Morde, 123 Sprengstoffanschläge, 2173 Brandanschläge, zwölf Entführungen und 174 bewaffnete Überfälle.

Köhler hat die Zahlen im Rahmen einer quantitativen Studie zusammengetragen und dafür Behördenberichte seit Anfang der 1970er-Jahre ausgewertet. Die Zahlen sind Mindestangaben, wie Köhler sagt, da sie nur abgeschlossene und von den Behörden als rechtsterroristisch gewertete Fälle beinhalten. Verdachtsfälle wurden darin nicht berücksichtigt.

Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann

 

Mitglieder der „Wehrsportgruppe Hoffmann“

Wehrsportgruppen

Die Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland reicht noch weiter als bis zu den 1970ern zurück. Prominentes Opfer eines rechten Anschlages wurde im April 1968 Rudi Dutschke, Kopf der Studentenbewegung. Er wurde auf offener Straße niedergeschossen. Später fanden die Ermittler bei dem Täter ein Hitler-Portät und eine Ausgabe des Buches „Mein Kampf“.

Ab den 1970ern bildeten sich zahlreiche rechtsterroristische Gruppen wie die „Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland“ oder die von NPD-Mitgliedern ins Leben gerufene Gruppe „Europäische Befreiungsfront“, die sich als „Kampfgruppe gegen den Kommunismus“ versteht.

1973 gründete Karl-Heinz Hoffmann seine Wehrsportgruppe. Es folgten zahlreiche andere, wie die Wehrsportgruppe Neumann in Hamburg, die Werwolf-Gruppe des Neonazis Michael Kühnen oder die Hepp-Kexel-Gruppe, die mehrere Bombenanschläge durchführte.

Rechte Netzwerke

Als schwerster Terrorakt Nachkriegsdeutschlands gilt das Oktoberfestattentat vom 26. September 1980. Der Rechtsextremist Gundolf Köhler ermordete mit einer selbstgebauten Bombe zwölf Menschen. 213 Menschen wurden verletzt. Köhler war Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann. Der Anschlag wurde von Ermittlern dennoch als Tat eines Einzelnen gewertet.

Im Oktober desselben Jahres erschoss ein mutmaßliches Mitglied der Gruppe den Verleger Shlomo Lewin, ehemaliger Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, und dessen Lebensgefährtin Frieda Poeschke.

Anfang der 1980er-Jahre verübten die sogenannten Deutschen Aktionsgruppen Bombenanschläge, unter anderem in Hamburg und Baden-Württemberg. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere verletzt. Das Geld für Anschläge beschafften sich die Terrorzellen durch Banküberfälle.

Der Aufbau der Gruppen ging maßgeblich auf Manfred Roeder zurück. Roeder war monatelang auf der Flucht, lebte im Ausland und baute so ein Netzwerk auf – unter anderem mit Kontakten in den Iran und die USA, offenbar auch zum Ku-Klux-Klan (KKK). Auch mit den späteren Terroristen des NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, war er in Kontakt.

Ausgebrannte Wohnung in einem Wohnheim für vietnamesische Flüchtlinge in Hamburg

Ausgebrannte Wohnung in einem Wohnheim für vietnamesische Flüchtlinge in Hamburg nach einem Anschlag der Deutschen Aktionsgruppen.

Enttarnung des NSU

Mundlos und Böhnhardt begangen am 4. November 2011 Selbstmord. Nach dem Mord an zehn Menschen flog damit die Terrorzelle des NSU auf. Im Juli 2018 wurde Beate Zschäpe wegen Mordes, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben wurde als Waffenbeschaffer für den NSU zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das OLG sprach ihn der Beihilfe zum Mord schuldig. Der Mitangeklagte Holger G. wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, der Mitangeklagte Carsten S. zu drei Jahren Jugendstrafe, der Mitangeklagte André E. zu zwei Jahren und sechs Monaten. Nebenankläger und Beobachter des Prozesses fordern nach wie vor eine lückenlose Aufklärung des rechtsextremistischen Netzwerkes hinter dem NSU.

Juni 2019 | €uropa | Kommentieren