Tagesanbruch: Die atomare Gefahr wächst rapide. Russische Interkontinentalrakete.
Russische Interkontinentalrakete. (Quelle: imago images)
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Europa braucht dringend einen Neustart. Nein, heute geht es nicht um Digitalisierung oder Landwirtschaft und auch nicht um Schulden. Heute geht es ums Überleben. Ihres und meines und das von Hunderten Millionen anderen Menschen auf unserem Kontinent. Und es geht um Wladimir Putin.
Wladimir Putin auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg. (Quelle: Yuri Kochetkov/Reuters)
Wladimir Putin auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg. (Quelle: Yuri Kochetkov/Reuters)
Der russische Präsident beherrscht die Winkelzüge der internationalen Politik so gut wie kaum ein anderer. Das Spiel aus Drohen und Locken, um den eigenen Vorteil durchzusetzen, hat der Kremlchef zur Perfektion gebracht. Deshalb horchen wir bei seinen Worten genau hin, klopfen sie ab und wenden sie, um doppelte Böden und versteckte Botschaften zu finden, versuchen Wahrheit von Täuschung zu trennen. Und stellen fest, hier hat er Recht, zumindest auf den ersten Blick:Eindringlich hat Putin jetzt vor einem neuen weltweiten Wettrüsten gewarnt. Der New-Start-Vertrag über die Kontrolle atomarer Angriffswaffen sei das letzte Instrument, um das nukleare Aufrüsten einzuschränken, verkündete er gestern beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Das Abkommen zwischen Amerika und Russland läuft Ende Februar 2021 aus. Er wundere sich, dass die ganze Welt tatenlos zusehe, wie die Errungenschaften der Vergangenheit gefährdet würden, sagte Putin. „Wir haben schon hundert Mal gesagt, dass wir bereit sind, aber niemand verhandelt mit uns.“
Alarmierende Worte, die gestern im Nachrichten-Crescendo zwischen D-Day, Trump-Day und Groko-Mayday zu schnell verhallten. Dabei kann man diesen Teil von Putins Lamento gar nicht laut genug in die Welt hinausposaunen: Der im Jahr 2010 von Barack Obama und Dmitri Medwedew unterzeichnete New-Start-Pakt ist unsere Lebensversicherung. Formal sieht er nur die Verringerung der Nukleararsenale auf je 800 Trägersysteme und 1.550 einsatzbereite Atomsprengköpfe vor. De facto verhindert er, dass Russland und die Nato sich gegenseitig in eine brandgefährliche Konfrontation hochrüsten, bei der schon ein einziger Anlass – ein abgeschossenes Passagierflugzeug über der Ukraine zum Beispiel, ein Kampfjet-Zusammenprall über der Ostsee oder ein großangelegter Hackerangriff auf den Finanzplatz Frankfurt – womöglich einen nuklearen Krieg auslösen könnten. Nein, nicht einenKrieg, sondern den Krieg. Den letzten nämlich. Denn danach wäre wohl nicht mehr viel übrig von Europa.
Obama und Medwedew bei Unterzeichnung des New-Start-Vertrags im April 2010. (Quelle: imago images)
Obama und Medwedew bei Unterzeichnung des New-Start-Vertrags im April 2010. (Quelle: imago images)
Um den zweiten Teil von Putins Alarmruf richtig einzuordnen, muss man allerdings etwas tiefer in die Details der Diplomatie eintauchen und die Fallgruben der internationalen Politik ausleuchten. Der New-Start-Vertrag ist eine große Errungenschaft – aber wie jedes internationale Abkommen hat er auch gravierende Schwächen. Erstens verpflichtet er nur Moskau und Washington zum Maßhalten, nicht aber China und Neu-Delhi oder gar einen atomaren Emporkömmling wie Pjöngjang. Zweitenskann er nur einmalig um fünf Jahre verlängert werden. Und drittens hören wir nicht nur interessiert, was Herr Putin sagt. Sondern auch, was er nicht sagt. Das müssen wir uns nämlich dazu denken: In Gesprächen über eine Vertragsverlängerung sieht der Kreml die einzige Chance, den atomaren Raketenschutzschild der Amerikaner aus Europa weg zu verhandeln. Dieser Schutzschild, der ballistische Raketen im Weltraum abfangen kann, hat die USA in den Stand der alleinigen militärischen Supermacht erhoben und Russland zu einem unterlegenen Mächtchen degradiert. Im Falle eines Angriffs mit Nuklearwaffen könnte Amerika sich schützen. Russland nicht. Das macht verwundbar, das schwächt das Selbstbewusstsein, das schürt Angst.
Deshalb regt sich Herr Putin so darüber auf, dass Herr Trump ihn am ausgestreckten Verhandlungsarm verhungern lässt. Allerdings belässt er es nicht bei der Empörung. Wer sich die aktuelle Entwicklung der russischen Streitkräfte genauer besieht, stellt fest: Noch nie war der Einfluss von Verteidigungsminister Schoigu auf Putins Politik so groß wie jetzt. Der Kreml rüstet rasant auf. Schon ein Drittel des offiziellen Haushaltsgelds fließt ins Militär, hinzu kommen geheime Mittel sowie Geld aus der Privatwirtschaft: Russische Konzerne finanzieren ganze Kampfeinheiten, verpassen ihnen sogar ihre eigenen Namen. An seiner Westgrenze, wo Moskau sich von der Osterweiterung der Nato bedroht fühlt, baut Russland zu Lande, zu Wasser und in der Luft ein System vernetzter Streitkräfte auf: Die 6. Panzerarmee in St. Petersburg, die 1. Panzerarmee in Moskau und die 20. Armee in Woronesch bilden das Herz dieser Militärmaschine. Im Südwesten stehen die 8., die 49. und die 58. Armee. In Simferopol auf der Krim ist das 22. Armeekorps stationiert, im Norden das 14. in Murmansk.
Warum ich Sie heute Morgen mit diesen staubtrockenen Zahlen belästige? Weil diese Nummern bald wichtiger für uns alle werden könnten als der soundsovielte SPD-Vorsitzende oder die neueste Umfrage zu Grünen/CDU/WemAuchImmer. Deutsche Sicherheitsexperten beobachten, dass sich Russland auf einen bewaffneten Konflikt mit der Nato vorbereite. Im Wissen, dass er mit konventionellen Waffen keine Chance habe, bereite der Kreml den Ausbau seines Kernwaffenarsenalsvor: bodengebundene Interkontinentalraketen, U-Boote mit Kontinentalraketen, Bomber mit Marschflugkörpern. Die Befehlsketten würden so optimiert, dass die Truppen im Konfliktfall blitzschnell gleichzeitig losschlagen könnten, bevor ein Nato-Staat den Bündnisfall ausrufen könne. Den Syrien-Krieg hätten die russischen Piloten als willkommenes Training benutzt, um ihre Treffsicherheit zu verfeinern.
All das tun die Russen in Uniform nicht, weil sie böse Menschen wären. Sondern weil sie sich bedroht fühlen: vom mächtigsten Militärbündnis der Welt, das in ihrem Vorgarten einen Raketenschutzschild aufgestellt hat. Diese schleichende Eskalation ist eine Gefahr für unser Leib und Leben. Europa braucht dringend einen Neustart beim New Start.
Juni 2019 | €uropa | Kommentieren