Martin Luther war einer der wirkmächtigsten Protagonisten der europäischen Geschichte. Als maßgeblicher Initiator der Reformation spaltete er, wenn auch ungewollt, die römische Kirche des 16. Jahrhunderts. Dies hatte einschneidende und dramatische Konsequenzen, wozu nicht zuletzt der verheerende Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 gehörte. Seine wort-gewaltige Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache kann durchaus als Beitrag zur Aufklärung verstanden werden.Von den zahlreichen Schriften Luthers sind heute viele in gut lesbarem Deutsch der Allgemeinheit zugänglich. Dennoch fristen manche seiner heiklen Schriften noch ihr Dasein in der verschnörkelten Schrift und der frühneuhoch-deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts und sind damit einem breiteren Publikum kaum bekannt. Insbesondere gilt dies für seine judenfeindlichen Schriften.
In allsonntäglichen Gottesdiensten wird von den theologischen Schriften Luthers nur selektiv Gebrauch gemacht. Und, auch Julius Streicher beruft sich in seiner Verteidigungsrede im Nürnberger Prozess (1946) ausdrücklich auf Martin Luther.
Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen wurde nach 1945 in derselben Weise verfahren und das, was man als die „dunkle Seite“ des Reformators bezeichnen kann, weitgehend ausgeblendet. Dadurch bekommen die weltweit ca. 75 Millionen Christen lutherischen Bekenntnisses in ihren Gemeinden ein positives aber unvollständiges und insofern verfälschtes Bild des Reformators vermittelt. So erklärt sich auch, warum Luther in der Wertschätzung der Deutschen, nach Konrad Adenauer, auf dem zweiten Platz zu finden ist.Was weiß die Öffentlichkeit überhaupt über den Reformator? Man-chen ist nur vage bekannt, dass er zu den Juden ein problematisches Verhältnis hatte, von dem behauptet wird, es sei zu seiner Zeit eben üblich gewesen. Konkrete Informationen und Beispiele hierzu werden der Allgemeinheit weitgehend vorenthalten. Dass Luthers Haltung gegenüber den Juden insbesondere in seinen letzten zwanzig Lebensjahren von unglaublichem Hass geprägt war, der sich nahtlos in die Geschichte der Judenfeindschaft innerhalb der christlichen Kirchen einfügt, ist jedoch kaum bekannt.
Dieser Hass entlud sich in mehreren Schriften und Büchern, verfasst und veröffentlicht in deutscher Sprache, mit einer eigenen Qualität und Dynamik. Die sich damals seit hundert Jahren immer mehr durchsetzende Buchdrucktechnik mit beweglichen Lettern sorgte für eine schnelle Ausbreitung dieser antisemitischen Hetzschriften. Luther trägt damit eine entscheidende Verantwortung für die weitere Verbreitung antijüdischer Ressentiments in der Bevölkerung bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein. Seine ausgeprägte Judenfeindschaft begründete er akribisch mit theologischen Argumenten unter Bezug auf die wörtliche Auslegung der von ihm selbst übersetzten Bibel. Diese strikte solascriptura-Lesart der Bibel ist eine der Ursachen für Luthers antijüdische Grundposition.
Zahlreiche Beispiele dafür, dass die Juden nicht mehr das „Volk Gottes“ seien, führt er als unwiderlegbare, aus der Bibel abgeleitete Beweise an. Sein Blickwinkel als Christ führte ihn zu dem Schluss, alle Juden würden gegen Gottes Gesetz verstoßen und seien deshalb zu verdammen. Doch war dies lediglich ein theologischer Disput, wie gerne behauptet wird? Wenn Luther die Juden als „faulen, stinkenden, verrotteten Bodensatz vom Blut ihrer Väter“ (S. 201 dieser Ausgabe) bezeichnet, dann zeigt dies deutlich auch eine rassistische Komponente seines Judenhasses.
Selbst Thomas Kaufmann, ein der evangelischen Kirche nahestehender Historiker, stellt in seinem Buch Luthers Juden fest „dass auch Luther zu den ‘mentalen’ Ressourcen der rassistisch modernisierten Judenfeindschaft insbesondere in Deutschland gehöre, ist nicht zu bestreiten“. Das Rechtfertigungspotential des Lutherschen Judenhasses wurde von den Nazis gerne genutzt: „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach der die Dämmerung; sah er den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen“ (Adolf Hitler 1923)
Luthers treuer Rat, wie mit den Juden umzugehen sei,
zeigt die Qualität eines Vernichtungsprogramms
und liest sich wie eine Vorbereitung zum Holocaust
(Seitenangaben bezogen auf diese Ausgabe):
•Verbrennen ihrer Synagogen (S. 247)
•Zerstörung ihrer Häuser und Zwangsunterbringung wie Zigeuner (S. 249)
•Wegnahme ihrer religiösen Bücher (S. 249)
•Lehrverbot für Rabbiner bei Androhung der Todesstrafe (S. 249)
•Aufhebung der Wegefreiheit (S. 251)
•Zwangsenteignung (S. 251)
•Zwangsarbeit (S. 245)
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers bemerkt hierzu treffend: „Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“
Der Lutherische Landesbischof von Thüringen und NSDAP-Mitglied Martin Sasse veröffentlichte am 23. November 1938, zwei Wochen nach der Reichspogromnacht, ein Heft mit antisemitischen Auszügen aus Luthers Buch: „Von den Juden und ihren Lügen“.
Im Vorwort bezeichnet er Martin Luther anerkennend als „den größten Antisemiten seiner Zeit“.
Luthers Buch „Von den Juden und ihren Lügen“ hat zweifellos einen
nicht zu vernachlässigenden Beitrag zu geschichtlichen Entwicklungen:
Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Reclam-Verlag 2014.
Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin – Ein Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler und mir.
Karl Jaspers, Philosophie und Welt, Piper-Verlag 1958.
Martin Sasse, Martin Luther über die Juden – Weg mit ihnen!, Wartburgstadt Eisenach, 23. November 1938
Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ leistet seinerzeit bereits die Vorbereitung zu den vierhundert Jahre später ihren grauenhaften Höhepunkt in der Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden fand. Nach Meinung der Autoren dieser Übertragung ist Luthers Buch für das Verständnis dieser menschlichen Katastrophe im 20. Jahrhundert von großem Interesse. Deshalb wurde es in modernes Deutsch übertragen, um Luthers Gedanken für die heutige Zeit verständlich und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Einer Kommentierung des Textes bedurfte es dabei nicht – Luthers Ausführungen sprechen für sich selbst. Weitere judenfeindliche Schriften Luthers, die über einen Zeitraum von 20 Jahren entstanden sind, werden in einem Folgeband verlegt. Dieser soll zeigen, dass „Von den Juden und ihren Lügen“ kein einmaliger Ausrutscher war. Im vorliegenden Buch steht jeder übertragenen Seite Luthers Originaltext – in zeitgenössischer Schwabacher Fraktur gesetzt – zum Vergleich gegenüber.
Die Bearbeiter haben sich bemüht, den Originaltext sinngemäß so weit wie möglich beizubehalten und dabei heute unbekannte Ausdrücke durch moderne Entsprechungen zu ersetzen. Ebenso wurden Orthografie und Satzbau heutiger Schreibweise angepasst. Durch Vergleich mit dem Originaltext kann der Leser selbst beurteilen, ob die Bearbeiter Luthers Worte und Aussagen sinngemäß wiedergeben.
Ergänzende Informationen finden sich in 200 Anmerkungen im Anhang. Zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums im Jahr 2017 (das erste Jahrhundertjubiläum nach Auschwitz) hatte die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) 2008 die sogenannte Lutherdekade ins Leben gerufen. In deren Rahmen wurden Luthers unbestrittene Verdienste in allen Details dargelegt. Dieses Großereignis wurde von der Bundesrepublik Deutschland – also von allen Steuerzahlern – und dem Land Sachsen-Anhalt mit ca. 100 Millionen Euro gefördert.
In seiner Eröffnungsrede zur Lutherdekade am 21. September 2008 marginalisierte der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber Luthers judenfeindliche Schriften als „beschämende Aussagen zu den Juden“.
Die im Alibri Verlag erschienene Übertragung (mitsamt Luthers Original) bietet dem Leser die Möglichkeit, sich angesichts dieser bischöflichen Verharmlosung durch die Lektüre der judenfeindlichen Schriften Luthers selbst eine Meinung zu diesem „Reformator“ zu bilden. Das walte Gott …
Von den Juden und ihren Lügen
Reinhold Schlotz und Robert Zwilling
Zweite, korrigierte Auflage
347 Seiten, kartoniert, Euro 20.-