… gleichwohl gibt es einige Stationen ihrer Karriere, die – nicht nur – als machtpolitisches Gespür in so gut wie jeder Beschreibung der Andrea Nahles vorkamen: da war die Sozialisation als Kind eines Maurermeisters, der Eintritt in die SPD als Jugendliche samt steiler Juso-Karriere und da war – stets gegenwärtig – der Sturz des Parteichefs Franz Müntefering, den Nahles 2005 verursachte: Sie trat bei einer internen Abstimmung gegen Münteferings Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs an und gewann. Münteferings Autorität war dahin, er trat zurück. Nun tritt sie selber als wohl – man muß es so gesagt haben dürfen – „letzte Sozialdemokratin“ zurück.
Andrea Nahles tritt zurück als eine Sozialdemokratin der klassischen Art, als eine, wie es sie kaum noch gibt. Das Arbeiterkind, das durch die klassische Schule der Machtpolitik ging und bereit war, das gelernte Instrumentarium kompromisslos anzuwenden: So wurden – einst – große sozialdemokratische Karrieren gestrickt. Dass Nahles‘ Laufbahn nun vorzeitig endet, liegt auch daran, dass die SPD sich verändert hat. Dass die klassischen Instrumente, die Methoden von einst, heute immer weniger bis gar nicht funktionieren.
Die spontane Eruption wirkte meist deplatziert
Nahles ist weit gekommen mit diesen Methoden: Juso-Vorsitzende, Frontfrau des linken Flügels, stellvertretende Vorsitzende, Generalsekretärin, Arbeitsministerin und dann, als erste Frau in der Geschichte der SPD, Chefin von Partei und Fraktion. Weiter geht es nun nicht mehr.
Ihre größte Schwäche war der öffentliche Auftritt. Was als Juso-Vorsitzende noch funktioniert hatte, das Knallige, die spontane Eruption, wirkte in ihren späteren Funktionen und Ämtern meist deplatziert. Eine Ausnahme gab es: als es nach der Bundestagswahl 2017 darum ging, die SPD noch einmal in die Große Koalition zu zwingen. Da hatte Martin Schulz, damals noch Vorsitzender, den entscheidenden Parteitag mit einer kraftlosen Rede beinah schon vergeigt, als Nahles ans Mikrofon trat und die Delegierten Richtung GroKo brüllte. Die Partei gehorchte, noch einmal.
Ansonsten kompensierte sie ihre rhetorischen Schwächen (die ihr sehr bewusst waren und sind) mit klassischem Netzwerken. Jahrelang beackerte sie die Partei, besuchte Ortsvereine, telefonierte. Niemand, hieß es respektvoll auch bei ihren Gegnern, kenne die SPD so gut wie Andrea Nahles. Niemand habe ein solches Gespür für die Partei. Es war, auch hier wieder, klassische Machtpolitik, die sie betrieb: eine Basis an Kontakten und Vertrauten aufbauen, pflegen, halten. Nahles erinnerte damit zuweilen an Helmut Kohl und seine legendären Telefonate quer durch die CDU.
Ohne diese sorgsam gepflegte Machtbasis wäre Nahles nach Münteferings Sturz wohl kaum noch einmal zurückgekommen – schließlich hing ihr seither der Ruf der rücksichtslosen Intrigantin an, ihre Gegner achteten sorgfältig darauf, dass dieses bösartige Klischee nie in Vergessenheit geriet. Und noch etwas ermöglichte ihr das über Jahre aufgebaute Netzwerk: dass sie, die linksaußen gestartet war, bis an die Spitze der Partei marschieren konnte. Das hatte es seit Oskar Lafontaine nicht mehr gegeben.
Stets im Dienste der Partei
Eigentlich hatte Andrea Nahles überall Gegner: Die Rechten sahen in ihr bis zuletzt die Linke, die man einhegen müsse. Und viele Linke nahmen ihr den Weg in die Mitte übel, den sie über die Jahre genommen hatte. Doch Nahles hielt sich – auch weil sie, anders als von ihren Gegnern behauptet, besser als viele männliche Kollegen in der Lage war, sich zurückzunehmen und in den Dienst der Partei zu stellen.
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In den vier Jahren als Generalsekretärin unter Parteichef Sigmar Gabriel dürfte sie in unzählige Tischkanten gebissen haben, doch öffentlich blieb sie loyal. Und in den vier Jahren als Arbeitsministerin hielt sie sich konsequent aus den Angelegenheiten der Partei heraus. Stattdessen lieferte sie sozialdemokratische Herzensprojekte wie den Mindestlohn ab.
Andrea Nahles hätte eigentlich eine Geschichte zu erzählen, wie sie diese Partei liebt, eine Geschichte vom Aufstieg trotz aller Widrigkeiten. Nahles hätte die SPD ideal verkörpern können, doch nach etwas mehr als einem Jahr an der Spitze verkörperte sie nur noch den Niedergang. Warum? Erstens dominiert der öffentliche Auftritt heute noch ganz anders als früher die Wahrnehmung. Als Nahles im Karneval „Humbahumbahumbatäteräää“ sang, verbreitete sich das Video rasend schnell über YouTube. Als sie im Bundestag das Pippi-Langstrumpf-Lied sang, passierte das Gleiche. Früher musste so etwas erst in der Tagesschau kommen, um wahrgenommen zu werden.
Zweitens hat die SPD sich verändert. Die Wahlniederlagen seit 2009 haben in dieser Partei die Bereitschaft schwinden lassen, sich von oben irgendetwas sagen zu lassen. Der stetige Niedergang hat dazu geführt, dass an der Basis nicht mehr Rationalität die Diskussionen und Beschlüsse bestimmt, sondern Emotion. Jahrzehntelang geltende Gesetzmäßigkeiten gelten nicht mehr.
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Nur noch Trümmer zu verwalten
Für den Wahlsieger und Kanzler Gerhard Schröder genügten noch ein gelegentliches „Basta“ und medial inszenierte Rücktrittsdrohungen, um auch unpopuläre Dinge durchzusetzen. Für Sigmar Gabriel, der nie eine Wahl gewonnen hat, war das schon schwieriger. Bei Nahles, die nur noch Trümmer zu verwalten hatte, funktionierte es gar nicht mehr. Das Instrumentarium, das sie einst erlernt und jahrelang angewandt hatte, war nutzlos geworden.
Das zeigte sich erstmals in voller Deutlichkeit im vergangenen Jahr, als die Koalition um die Zukunft von Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen rang. Maaßen müsse gehen, so hatte sich die SPD festlegt, doch Nahles stimmte seiner Beförderung zum Staatssekretär zu. Es war ein Hinterzimmerdeal, und so schräg, so lebensfremd er auch wirken mochte – früher hätte die Partei gemurrt, gezetert, Ortsvereine hätten Beschlüsse gefasst, aber dann hätte sich die SPD – wieder einmal – gefügt. Diesmal brach ein Aufstand los. Nahles musste zurückrudern. Sie war beschädigt. Spätestens da war klar, dass die Partei und sie einander fremd geworden waren. Nahles hatte ihr Gespür verloren.
In der vergangenen Woche machte sie dann einen – und zwar finalen – Fehler. Nach den Wahlniederlagen in Europa und Bremen samt vorheriger Putschgerüchte forderte ein einzelner Abgeordneter eine Sondersitzung der SPD-Bundestagsfraktion, um zu klären, ob die Parlamentarier noch hinter ihrer Chefin stünden. Und Nahles reagierte, wie womöglich auch Schröder reagiert hätte: Flucht nach vorn, Attacke. Sie forderte, die Wahl vorzuziehen, auf jenen Dienstag, um die Sache ein für allemal zu klären. Machiavellismus wie aus dem Lehrbuch: Nimm deinen Gegnern die Zeit zur Vorbereitung. Kommt doch, wenn ihr euch traut.
Doch es kam keiner. Stattdessen sagten die Abgeordneten Nahles in einer denkwürdigen Fraktionssitzung, was sie von ihr und ihrem Vorgehen hielten. Danach stand im Grunde genommen bereits fest, dass es mit Nahles keine Zukunft mehr geben würde. Ihr machtpolitisch hingeplänkeltes Manöver hatte nicht zur Klärung geführt, sondern zu einer Eruption. Es wirkte, als hätte Nahles ihre Gegner nach alter Väter Sitte zu einem Pistolenduell herausgefordert – und wäre in einem Hinterhalt mit Stolperdraht geendet.
Früher hätten die Gegner gelästert, hätten gebarmt, aber am Ende hätte dann doch die Autorität gesiegt. Doch in der SPD von heute gibt es kaum noch Autoritäten. Das hat Andrea Nahles bis ganz zuletzt offenbar nicht verstanden.