Noch nie wurde so viel über gesunde Ernährung geredet wie heute. Für jeden Geschmack und jeden Typ gibt es das passende Essen: von Low Carb über Low Fat und Paleo bis zu vegan. Es ist schon fast wie bei der Religion, wo ebenfalls jede Konfession die Wahrheit für sich beansprucht. Erstaunlicherweise geht die Vielfalt auf dem Teller aber nicht mit mehr Gesundheit einher. Im Gegenteil: Übergewicht und die damit verbundenen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck haben in den letzten Jahren weltweit epidemische Ausmasse erreicht.

Die Frage drängt sich auf: Haben wir beim Essen bisher auf die falschen Pferde gesetzt? Geht es möglicherweise nicht so sehr darum, aus welchen Makronährstoffen – also Kohlenhydrat, Protein und Fett – wir den Hauptteil unserer Energie beziehen? Sondern darum, wie natürlich unser Essen ist? Diese Hypothese liegt schon länger auf dem Tisch. Denn die Fettsucht von Homo sapiens hat ab den 1980er Jahren so richtig Fahrt aufgenommen. Parallel dazu ist die Nahrungsmittelindustrie gross geworden. Sie produziert ihr Essen meist aus ertragreichen Agrarprodukten wie Mais, Soja und Weizen, die dann für den Massenkonsum verfeinert, angereichert und veredelt werden.

So «prozessierte» Nahrungsmittel sind vergleichsweise günstig und lange haltbar. Weil das Kochen wegfällt, sind Industrieprodukte auch einfach und rasch konsumierbar. Es wird deshalb von Convenience-Food oder Ready-to-eat- und Ready-to-heat-Produkten gesprochen. Das praktische Essen scheint aber auch eine Schattenseite zu haben. So haben schon frühere Studien nahegelegt, dass der Industrie-Food Übergewicht fördert und der Gesundheit auf vielfältige Weise schadet. Selbst eine erhöhte Krebsrate und vermehrte Todesfälle haben Forscher damit in Verbindung gebracht.

Wissenschaftliches Experiment

Die bisherige Beweisführung basierte allerdings auf epidemiologischen Daten und Beobachtungsstudien. Solche Untersuchungen können – methodisch bedingt – nur Assoziationen und keine ursächlichen Verknüpfungen feststellen. Um eine kausale Beziehung zwischen dem Konsum von sogenanntem ultraprozessiertem Essen (vgl. Infobox unten) und gesundheitlichen Folgen nachzuweisen, braucht es ein wissenschaftliches Experiment.

Genau das haben amerikanische Forscher gemacht. Ihre Arbeit, eine sogenannte randomisierte und kontrollierte klinische Studie, ist am Donnerstag in der Fachzeitschrift «Cell Metabolism» erschienen. Das Resultat ist eine Bombe: Vertilgten junge, normalgewichtige Männer und Frauen Convenience-Food, nahmen sie viel mehr Energie zu sich, als wenn sie frisch gekochte Nahrung assen. Das blieb nicht folgenlos: Schon nach 14 Tagen hatten sie ein knappes Kilogramm an Gewicht zugelegt.

Vier Sorten Lebensmittel

ni.  ·  Brasilianische Ernährungswissenschafter entwickelten vor zehn Jahren ein neues Klassifikationssystem für Lebensmittel: die Nova-Klassifikation. Sie stuft Nahrungsmittel aufgrund der Art und Stärke ihrer Verarbeitung in vier Gruppen ein. Diese reichen von unverarbeiteten oder minimal verarbeiteten Lebensmitteln (z. B. frisches Gemüse, Fleisch) über verarbeitete kulinarische Zutaten (z. B. Öl) und einfach verarbeitete Lebensmittel (z. B. konservierte Früchte, geräuchertes Fleisch) bis zu hochverarbeiteten (ultraprozessierten) Nahrungsmitteln und Getränken (z. B. Fertigprodukte, Energy-Drinks). Im Gegensatz zu einfach verarbeiteten Nahrungsmitteln enthalten ultraprozessierte Produkte viel mehr Inhaltsstoffe, darunter auch Aromen, Geschmacksverstärker, Färbemittel, künstliche Süssstoffe und vieles mehr.

Für ihre Untersuchung hatten Kevin Hall vom National Institute of Health in Bethesda, Maryland, und seine Kollegen die 20 gesunden Probanden für 28 Tage in ein Studiencenter einbestellt. Dort erhielten sie 14 Tage lang entweder ultraprozessiertes oder frisch zubereitetes Essen. In den nachfolgenden 14 Tagen bekamen sie das andere Essen vorgesetzt, so dass alle Probanden beide Ernährungsweisen durchmachten.

Ein ultraprozessiertes Mittagessen. (Bild: Hall et al. / Cell Metabolism)

Ein ultraprozessiertes Mittagessen. (Bild: Hall et al. / Cell Metabolism)

Das Essen bestand aus drei täglichen Mahlzeiten, die in üppigen Portionen serviert wurden. Die Probanden konnten so viel davon essen, wie sie mochten. Zudem standen ihnen den ganzen Tag – je nach Gruppenzugehörigkeit natürliche oder ultraprozessierte – Snacks zur Verfügung. Die angebotenen Menus waren so zusammengestellt, dass sie sich in Bezug auf Kalorienzahl, Makronährstoffe, Zucker, Fasern und Salz kaum unterschieden.

Ein frisch zubereitetes Mittagessen. (Bild: Hall et al. / Cell Metabolism)

Ein frisch zubereitetes Mittagessen. (Bild: Hall et al. / Cell Metabolism)

Trotz dieser Vergleichbarkeit nahmen die Probanden unter der ultraprozessierten Ernährung im Durchschnitt täglich über 500 Kilokalorien mehr Energie auf. Die grössten Unterschiede zeigten sich beim Frühstück und beim Mittagessen. Beim Abendessen und den Snacks war die Energieaufnahme vergleichbar. Wie die Analyse weiter zeigt, nahmen die Probanden mit dem ultraprozessierten Essen mehr Kohlenhydrate und mehr Fett auf. Die Proteinaufnahme war dagegen vergleichbar.

Höhere Energiedichte und weitere Faktoren

Das könnte damit zusammenhängen, so argumentieren die Forscher, dass beim stark prozessierten Essen der Proteinanteil an den Gesamtkalorien leicht tiefer lag. Dies spricht für die sogenannte Protein-Hebel-Hypothese. Diese besagt, dass bei ultraprozessierter Nahrung die aufgenommene Energie erhöht werden muss, damit eine ausreichende Proteinversorgung erreicht werden kann.

Frappante Unterschiede bei der aufgenommenen Energie und dem Gewichtsverlauf. (Grafik: Hall et al. / Cell Metabolism)

Frappante Unterschiede bei der aufgenommenen Energie und dem Gewichtsverlauf. (Grafik: Hall et al. / Cell Metabolism)

Damit lässt sich laut den Forschern aber höchstens die Hälfte des Unterschieds in der Energieaufnahme erklären. Für den Rest müsse es andere Gründe geben. Eine plausible Erklärung ist die Energiedichte, die bei Fertigprodukten typischerweise höher liegt als bei frisch zubereitetem Essen. So lässt sich in kürzerer Zeit mehr Energie aufnehmen. Das erhöht das Risiko, sich zu überessen. Denn die Sättigungssignale aus dem Gehirn setzen naturgemäss mit einer gewissen Verzögerung ein.

Die Geschwindigkeit der Energieaufnahme wird aber auch von Konsistenz und Beschaffenheit der Nahrung beeinflusst und davon, wie lecker diese ist. So kann schmackhaftes und weiches Essen, das kaum gekaut werden muss, besonders schnell aufgenommen werden. Tatsächlich konnten die Forscher bei ihren Probanden mit ultraprozessierter Nahrung eine erhöhte Essgeschwindigkeit dokumentieren. Die Energieaufnahme korrelierte dabei sehr gut mit dem Gewichtsverlauf der Probanden.

Stärkere Warnung vor Fertigprodukten

Der Fettleibigkeitsforscher Christian Wolfrum von der ETH Zürich ist von der neuen Arbeit begeistert. Das sei die Art von Studie, die es brauche, um sinnvolle Ernährungsempfehlungen abzugeben. Er wünscht sich, dass die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE) stärker als bis anhin vor dem Konsum ultraprozessierter Lebensmittel warnt. Denn er ist davon überzeugt, dass die negativen Effekte in der Realität noch ausgeprägter sind. Dies deshalb, weil viele Fertigprodukte mehr Fett und mehr Kohlenhydrate enthielten als die relativ ausgewogenen Menus in der Studie, so Worfrum.

Für Josef Laimbacher, Chefarzt am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen und SGE-Vorstandsmitglied, bestätigt die Studie, was man schon länger wisse: Je natürlicher ein Lebensmittel ist, desto besser ist es für die Gesundheit. «Diese Botschaft ist wichtig», sagt der Arzt. Gleichzeitig warnt er aber davor, einzelne Lebensmittel zu verteufeln. «Selbst ultraprozessierte Nahrungsmittel haben ihren Stellenwert, solange sie mit Mass konsumiert werden.» Das komme auch in der Schweizer Lebensmittelpyramide zum Ausdruck. Die wichtigste Botschaft laute da: Iss jeden Tag fünf Portionen Gemüse und Früchte. «Wer das umsetzt, isst automatisch gesund.»

Mai 2019 | €uropa | Kommentieren