Kriminelle Banden prellen die deutschen Steuerzahler jedes Jahr um einen hohen Milliardenbetrag. Doch der Staat bekommt das Problem nicht in den Griff – In medias res:
Mit schlurfenden Schritten betritt Rakesh Malakhar* den Raum.
Während der Beamte, der ihn bis hierhin begleitet hat, Uniformhemd und -hose zurechtrückt und sich auf einem Stuhl in der Nähe des Ausgangs setzt, steuert Malakhar auf seinen Platz einige Meter weiter zu: Die Anklagebank in Saal 184 des Augsburger Justizzentrums.

Der schmale, schwarzhaarige Mann trägt eine blaue Anstaltshose und einen grünen Kapuzenparka. Aus einer Plastiktüte kramt der Enddreißiger einen Aktenordner hervor und nimmt Platz. Die Reihen für Beobachter sind spärlich besetzt. Neben dem Handelsblatt sind nur drei Malakhar offensichtlich nahestehende Personen da. Sie wirken nervös.

Kaum etwas deutet darauf hin, dass hier der Fall eines mutmaßlichen Großbetrügers verhandelt wird. Malakhar soll Mitglied einer internationalen Bande gewesen sein, die den deutschen Fiskus um 60 Millionen Euro Umsatzsteuer brachte. Und was ihm vorgeworfen wird, ist nur ein kleiner Stein eines riesigen kriminellen Mosaiks.

Unzählige Akteure richten in Deutschland und der Europäischen Union durch sogenannte Umsatzsteuerkarusselle jedes Jahr einen riesigen Schaden an. Allein in Deutschland belaufen sich die Schätzungen auf eine zweistellige Milliardensumme. Europaweit beziffert die EU-Kommission die Summe gar auf 50 Milliarden Euro. Selbst vor der Europawahl in diesem Monat spielt das Thema in der Politik keine Rolle.

Dabei droht das Problem noch größer zu werden. Dies zeigt das europäische Journalismusprojekt Grand Theft Europe, koordiniert vom Recherchezentrum Correctiv. Das Handelsblatt hat dabei mit Ermittlern und Tätern gesprochen sowie Einblicke in Anklagen und Urteile genommen.

So werden Europas Staaten mit Umsatzsteuertricks abgezockt

Um die komplexen Machenschaften zu verstehen, muss man zunächst das Prinzip kennen, nach dem Umsätze versteuert werden. In Deutschland zahlt der Käufer einer Ware den Nettopreis und zusätzlich 19 Prozent Umsatzsteuer – auch Mehrwertsteuer genannt. Die Steuer muss der Verkäufer an das Finanzamt abführen.

So läuft der Betrug ab

Praktisch läuft das Verfahren so ab: Der Hersteller einer Ware verkauft diese und schreibt dafür eine Rechnung plus Mehrwertsteuer. Der Abnehmer verarbeitet sie weiter und schreibt ebenfalls eine Rechnung plus Mehrwertsteuer. Das Produkt wird immer weiterverarbeitet und am Ende im Einzelhandel verkauft.

Ziel der Steuerpolitik ist es, nur den Endverbraucher mit Mehrwertsteuer zu belasten. Deshalb müssen Unternehmen gegenüber dem Finanzamt im Rahmen von Umsatzsteuervoranmeldungen ständig Rechenschaft ablegen: Die Umsatzsteuer, die ein Unternehmer beim Verkaufen kassiert, muss er abführen. Gegenrechnen kann er die Steuer, die er selbst an seine Lieferanten bezahlt hat. Fachleute sprechen bei diesen Erstattungsansprüchen von der Vorsteuer. Ist die Vorsteuer höher als die Umsatzsteuer, zahlt das Finanzamt Geld aus.

Beim Umsatzsteuerbetrug bringen die Akteure eine Strohfirma ins Spiel. Sie stellt Scheinrechnungen für einen angeblichen Kunden aus. Dieser reicht die Rechnung beim Finanzamt ein und lässt sich die Vorsteuer erstatten. Bis die Behörde begreift, dass das erste Unternehmen die Umsatzsteuer gar nicht gezahlt hat, sind beide Firmen vom Markt verschwunden, die Betrüger nicht mehr zu greifen.

Ein Umsatzsteuerkarussell funktioniert nach demselben Prinzip. Der vermeintliche Warenhandel findet grenzüberschreitend und steuerfrei innerhalb der Europäischen Union statt.

Ein Beispiel: Unternehmen A verkauft die Ware aus dem EU-Ausland an ein Unternehmen B in Deutschland. Dieser Verkauf bleibt steuerfrei. Dann erfolgt ein Weiterverkauf an Unternehmen C in Deutschland. Die nun abzuführende Steuer wird nicht abgeführt. Stattdessen verkauft C die Ware wieder zu A ins Ausland. Nun fällt bei C eigentlich keine Mehrwertsteuer an, sondern bei A. Doch A stellt eine Rechnung aus und C lässt sich angeblich gezahlte Mehrwertsteuer erstatten.

All das geschieht auf Kosten des Staates. Unternehmer C, der eigentlich die Umsatzsteuer abführen müsste, ist beim Zahltag längst vom Markt verschwunden und für die Behörden nicht mehr zu greifen. Bei ihm sprechen die Ermittler vom „Missing Trader“ – dem fehlenden Händler.

Die Banden und ihre Mittel zum Zweck

Drahtzieher solcher Banden geben sich gern schillernde Namen. Das Handelsblatt stieß bei der Recherche auf Akteure wie Batman, DJ, Doctor und Rolex. Die Gruppe, welcher der in Augsburg angeklagte Malakhar angehörte, nannte sich Truesay. Laut Staatsanwaltschaft schlossen sich hier ab 2009 sieben Beschuldigte zusammen, um ein Betrugssystem in Deutschland, Polen und Tschechien zu installieren. Mit der Zeit expandierten die Komplizen auch nach Belgien und die Niederlande.

Sie handelten Handys, Playstations oder Speicherchips. Eine wirkliche unternehmerische Tätigkeit gab es laut Staatsanwaltschaft nicht. Ziel war allein der Steuerbetrug. Die Gruppe gab Lieferanten und Abnehmern Ein- und Verkaufspreise vor. Malakhar war laut Anklage für die Besorgung von Zwischenhändlern zuständig – also auch solchen, die sich als Missing Trader aus dem Staub machten, bevor das Finanzamt etwas bemerkte.

Im Prozess gegen Malakhar sind an diesem Apriltag die Chefin einer Servicefirma für Bürodienstleistungen und ein Steuerberater geladen, um Abläufe in der Truesay-Organisation aufzuklären. Sie berichten darüber, wie sie von der Bande benutzt wurden. Die Betrüger legten Reisepässe und Vollmachten vor, um sich Briefkastenadressen zu beschaffen und virtuelle Büroräume einzurichten. Hin und wieder schauten Mitglieder der Gruppe auch vorbei, um Korrespondenz zu erledigen oder Routinetermine beim Steuerberater wahrzunehmen. Malakhar schweigt zu den Vorwürfen, die Dolmetscherin übersetzt. Wenig später ist die Sitzung beendet, Malakhar muss zurück in die Untersuchungshaft.

Ivan Bylov, der in Wirklichkeit auch anders heißt, ist gesprächiger. Der Insider, den eine deutsche Staatsanwaltschaft als eine Art Kronzeugen führte, gewährte dem Handelsblatt Einblicke in das Innere des Betrugssystems mit Umsatzsteuer.

„Ich arbeitete in einer Firma für Elektronikprodukte“, beginnt Bylov seinen Bericht. Irgendwann habe er sich gewundert, weil ein Geschäftspartner plötzlich nicht mehr erreichbar war, wenig später aber ein anderer Händler auftauchte, der dieselbe Ware zu genau denselben Konditionen nachfragte wie der Verschwundene. Bylov: „Mir wurde klar, dass die gleiche Person dahintersteckte.“

Als Bylov das System einmal durchschaut hatte, wollte er mehr sein als nur Sachbearbeiter. Er gründete eine eigene Firma, machte im Umsatzsteuer-Karussell gewissermaßen Karriere. „Was wir handelten, war im Prinzip egal“, sagt der Betrüger. Weil aber die Steuer vom Umsatz abhängt, bevorzugen Kriminelle hochpreisige Produkte, die wenig Transport- und Lagerkosten verursachen. „Ideal sind Speicherchips.“

Laut Bylov ist in Europa der Handel mit Speicherchips, aber auch Konsolen und Mobiltelefonen maßgeblich von Umsatzsteuerkarussellen beeinflusst. Die Kriminellen würden dafür sorgen, dass die Artikel billiger sind als eigentlich möglich. Ehrliche Händler würden wegen ihres Steuernachteils vom Markt gedrängt. Selbst die größten Handelsketten ließen sich deshalb auf verdächtige Partner ein.

So funktionieren Umsatzsteuer-Karusselle

Je mehr Firmen in das Karussell aufgenommen werden, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass der Betrug Konsequenzen hat. Die Behörden merken zwar, dass etwas nicht stimmt, aber sie können den Betrügern nur hinterherlaufen. „Wird ein Missing Trader installiert, hat er in etwa ein halbes Jahr, bis er verschwinden muss.“ Und so gibt es ein ständiges Kommen und Gehen.
Die größte Sorge der Betrüger sei nicht, dass die Behörden den Kreislauf nachhaltig stoppen, meint Bylov. „Angst aufzufliegen hatten wir eigentlich nicht. Eher die Angst, dass jemand das Geld abzweigt und damit durchbrennt“. Deshalb werden Zahlungen über Plattformen abwickelt, oft sind diese in Hongkong angesiedelt. Nur wenige Akteure haben darauf Zugriff. Der Nebeneffekt: Die Plattformen in Hongkong machen es auch den Strafverfolgern schwerer, Gelder einzufrieren.

Bylov musste trotzdem aufhören. „Einen dummen Zufall“ nennt er den Umstand, dass der Staat ihn nicht nur fand, sondern auch zur Rechenschaft zog. Details möchte er nicht nennen. Bylov packte aus, seitdem hat er Sorge um seine Gesundheit. „Hier geht es um sehr viel Geld“, sagt Bylov. „Und die Leute, mit denen ich zu tun hatte, sind nicht zimperlich.“

Ein Staatsanwalt auf der Jagd

Respekt hat Bylov auch vor einem Staatsanwalt aus Augsburg: Marcus Paintinger, sagt Bylov, sei der eigentliche Grund für das Ende seiner kriminellen Karriere. Hartnäckig, versiert und extrem einsatzfreudig. Der Bayer gilt bundesweit als der Strafverfolger mit dem besten Überblick über Umsatzsteuerkarusselle und ihre Strukturen. „Er ist wie ein Pitbull, beißt sich in den Fall fest“, sagt Bylov. „Bis er alles versteht.“

Paintinger erklärt im Gespräch mit dem Handelsblatt, wie er auf Umsatzsteuer-Karusselle aufmerksam wird. „Ein Ermittlungsansatz sind Geldwäscheverdachtsanzeigen von Banken“, sagt der Staatsanwalt. „Kommen weitere Auffälligkeiten dazu, nehmen wir dies zum Anlass, um unter anderem auch bei den Finanzbehörden zu den Unternehmen nachzuhaken“. Skeptisch werde man etwa bei sprunghaft steigenden Vorsteuererstattungen, die ein Hinweis auf Karussellgeschäfte sein könnten.

Ist die Augsburger Ermittlungsbehörde erst einmal eingeschaltet, wird es für die Täter eng. In den vergangenen Jahren wurden dort 116 Personen wegen Beteiligungen an Umsatzsteuerkarussellen angeklagt, verteilt auf 55 Verfahren. 86 Personen wurden verurteilt, davon 57 zu Gefängnisstrafen, die zusammengerechnet 229 Jahre ergeben.

Die Augsburger Zahlen sind in der Betrugsbekämpfung allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Anfrage des Handelsblatts beim Bundesfinanzministerium, allen 16 Landesjustizministerien und 19 General- und Schwerpunktstaatsanwaltschaften sowie zusätzlicher Behörden blieb weitgehend ohne konkrete Ergebnisse. Fallzahlen und Verurteilungen zu Europas größtem Betrugssystem seien nicht vorhanden, hieß es bis auf wenige Ausnahmen. Verfahren zu Umsatzsteuerkarussellen würden nicht gesondert erfasst.

Den Betrügern spielt das offenbar mangelnde Interesse der Behörden in die Karten. Die meisten Stellen seien auf die Tricks mit der Umsatzsteuer noch immer nicht ausreichend vorbereitet, berichtet ein Anwalt, der viele Betrüger verteidigt. Es fehlten Instrumente, um auffällig ansteigende Umsatzsteuererstattungen für bestimmte Produktkategorien zu erfassen. „Und wenn es sie gibt, dauert es oft Monate, bis die eine Finanzbehörde der anderen etwas übermittelt.“

In Augsburg könnte es bald zu den nächsten Verurteilungen kommen. Der Prozess gegen Malakhar läuft, auch der Namensgeber der Gruppe, der sich Truesay nennt, ist in Untersuchungshaft. Der Brite indisch-pakistanischer Abstammung wurde in Großbritannien verhaftet und kürzlich nach Deutschland ausgeliefert. Ab Herbst soll ihm der Prozess gemacht werden.

Bis heute ist Virdee, der die Vorwürfe bisher stets bestritten hat, aber nicht ausgeliefert. In London lebt er in einem der elegantesten und teuersten Stadtteile, posierte auf Fotos schon mit Prominenz wie dem Fußballer Mesut Özil, Popstar Rihanna, sogar der Queen.

Zahnlose Politik

Die Steuerjongleure haben für solche Nettigkeiten Zeit, weil die Politik ihnen selbst dann Spielraum lässt, wenn das Ausmaß des Problems längst erkannt ist. 2010 flogen die kriminellen Machenschaften mit den CO2-Emissionsrechten auf. Der deutsche Gesetzgeber führte daraufhin das so genannte „Reverse-Charge-Verfahren“ ein. Es verlagert die Steuerschuld vom Veräußerer auf den Erwerber – der Betrug mit den virtuellen Zertifikaten wurde gestoppt – zumindest in Deutschland. „Mit dem Handel zieht man dann einfach in einen anderen Staat weiter, der kein Reverse Charge hat“, berichtet Bylov.

Erst 2017 legte die EU-Kommission ein Gesetzespaket vor, das die Besteuerung von Waren innerhalb der EU angleichen soll. Der Schaden durch Umsatzsteuerkarusselle solle so um 80 Prozent sinken, so das Ziel. Zeitnot haben die Betreiber dieser Karusselle trotzdem nicht.

Denn frühestens 2022 wird das Projekt umgesetzt. Und was am Ende wirklich dabei herauskommt, scheint mehr als fraglich. „Die Länder konnten sich in einem ersten Schritt schon wieder nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. „Ich halte die Pläne der EU deshalb für untauglich, die Karussellgeschäfte in den Griff zu bekommen“, sagt Thomas Küffner, Partner bei KMLZ, Deutschlands führender Kanzlei für Umsatzsteuerrecht.

Das sind gute Nachrichten für Batman & Co. Der Umsatzsteuerbetrug, so berichten Insider, läuft ungebremst weiter. Nicht einmal vor Staatsanwalt Marcus Paintinger müssen sich die Steuerkriminellen mehr fürchten. Der Augsburger Finanzspezialist wurde zum Abteilungsleiter befördert, nach München versetzt. Seine neue Zuständigkeit: Betäubungsmitteldelikte.

* Name geändert

Für das Rechercheprojekt Grand Theft Europe hat sich das Handelsblatt mit 35 vom Recherchezentrum CORRECTIV koordinierten Medienpartnern aus ganz Europa vernetzt. Gemeinsam hat das Netzwerk Umsatzsteuerkarusselle durchleuchtet, den größten
laufenden Steuerbetrug in der EU. Die Recherche hat zu zahlreichen Artikeln, einem Podcast und mehreren TV-Dokumentationen geführt.

Das Projekt: www.grand-theft-europe.com

Mai 2019 | Wirtschaft, Zeitgeschehen, Was Andere schreiben | 1 Kommentar