Benedikt XVI. Thesen zu sexuellem Missbrauch Schuld sind immer die anderen:
Wer ist für sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche verantwortlich?
Ex-Papst Benedikt XVI. gibt in einem Aufsatz eine mehr als umstrittene Antwort – ganz nach dem Motto:

Und, wieso sollte dann Kirche nicht auch Schuld tragen: „Der Eine trage des anderen Last“ – tut das Kirche nicht für uns alle?
Stellen wir uns das also mal ungefähr so vor, wie Josef Ratzinger sich das offenbar denkt und glaubt und nun unter die gläubingen Gläubingen bringt:
Adam und Eva haben die Sünde zwar in die Welt gebracht, haben gebeichtet und seither – bis noch hinein in die Fünfzigerjahre war die Welt dann wieder erst mal ganz in Ordnung. Die Menschen lebten friedlich und gottesfürchtig. Die Kirche war im Dorf und das Dorf jeden Sonntag voll in der Kirche. Sexualität diente verheirateten Paaren dazu, Kinder in Gottes schöne Welt zu setzen. Frauen und Männern der Kirche war das wesensfremd. Priester kannten das Wort Sex allenfalls aus Beichten ihrer Schäfchen.

Dann kamen Beate Uhse und Alfred Charles Kinsey, Uschi Obermaier und Oswalt Kolle und Martin Goldstein alias Dr. Sommer in der „Bravo“. Die machten aus braven Schülern und Studenten Rebellen. Und die räumten in den Sechzigerjahren alle Normen und Moralbegriffe ab – und ebneten so sexuellem Missbrauch den Weg.

So sieht – in unseren Augen – es jedenfalls Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI. Seine mehr als umstrittene Sicht hat er nun auf etwa 15 Seiten für das bayerische „Klerusblatt“ aufgeschrieben. Es ist das Werk eines Autors, der offenbar anderswo in einer ganz eigenen Welt lebt.

Benedikt war von 2005 bis zu seinem überraschenden Rücktritt 2013 Oberhaupt der katholischen Kirche. In seiner Amtszeit kam ans Licht, dass weltweit massenweise Kinder von Geistlichen missbraucht wurden. Sein Nachfolger Franziskus hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Grund für Missbrauch auch die Machtstrukturen der Kirche sind.

 

BILD“ Papst Franziskus (l.) und sein Vorgänger (Februar 2018)
HO/OSSERVATORE ROMANO/AFP

Davon ist in dem Aufsatz keine Rede. Stattdessen geht es um einen „ungeheuerlichen Vorgang“ in den Sechzigerjahren, so der Autor, „wie es ihn in dieser Größenordnung in der Geschichte wohl kaum je gegeben hat.“ Nämlich „daß [sic] in den 20 Jahren von 1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist“.

„Zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung“

Am Anfang stand demnach eine Dame um die 60, „die Gesundheitsministerin Frau Strobel“ (Ratzinger). Die SPD-Frau ließ einen Film produzieren, „in dem zum Zweck der Aufklärung alles, was bisher nicht öffentlich gezeigt werden durfte, einschließlich des Geschlechtsverkehrs, nun vorgeführt wurde“. Und, man hätte es ja wissen müssen: „Was zunächst nur für die Aufklärung junger Menschen gedacht war, ist danach wie selbstverständlich als allgemeine Möglichkeit angenommen worden.“

Ein weiteres Beispiel des emeritierten Papstes:

Am Karfreitag 1970 in Regensburg habe er auf allen Plakatsäulen eine Werbung sehen müssen, die „zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung vorstellte“.

In den Schulen hätten „Auswüchse im Bereich der Kleidung ebenfalls Aggression“ hervorgerufen. Und „zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, daß nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde“.

Tatsächlich gab es in jenen Jahren Stimmen, die Pädophilie als gemeinsames Erlebnis für Erwachsenen und Kind propagierten, darunter Wissenschaftler, Künstler und Politiker, etwa von den Grünen.

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Katholische Kirche: Die düsteren Geheimnisse des Vatikan Katholische Kirche Die düsteren Geheimnisse des Vatikan

Allerdings stimmt es nicht, dass Pädophilie fortan „als erlaubt und angemessen diagnostiziert wurde“. Als etwa die nordrhein-westfälischen Grünen 1985 die Legalisierung von „einvernehmlichem Sex“ Erwachsener mit Minderjährigen in einem Arbeitspapier forderten, wurden sie von den Wählern dafür abgestraft: Sie kamen nicht in den Landtag.

Und es werden immer wieder Menschen – auch Geistliche – wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. In Deutschland, in den USA oder in Australien, wie jüngst der Ex-Finanzchef des Vatikans, Kardinal George Pell. Und noch etwas hat der pensionierte Papst offenbar vergessen: Kindesmissbrauch war schon lange vor dem Aufruhr der Achtundsechziger verbreitet. Nicht zuletzt in der Kirche.

In einer von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Studie zum Missbrauch durch Geistliche wurden Zehntausende Akten für die Zeit zwischen 1946 und 2014 ausgewertet. Demnach gab es bei 1670 Klerikern Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. 3677 Kinder und Jugendliche sind als Opfer dieser Taten dokumentiert.

Auch außerhalb Deutschlands gab es sexuellen Missbrauch durch Priester schon lange vor der Rebellion der Achtundsechziger. In Mexiko etwa soll der Gründer der Legionäre Christi seit 1960 mit mehreren Frauen Kinder gezeugt und Seminaristen missbraucht haben. Und eine Grand Jury im US-Bundesstaat Pennsylvania zählte über 300 katholische Priester, die seit den Vierzigerjahren – gedeckt von Kollegen – insgesamt über tausend Kinder missbraucht hatten.

„Ein Bischof ließSeminaristen Pornofilme vorführen“

Womöglich hatte Joseph Ratzinger bei seinem Aufsatz speziell die Vorgänge seiner innerkirchlichen Welt vor Augen, wenn er von der völligen Auflösung moralischer Grundwerte schreibt. Da ist mancherorts offenbar tatsächlich der von Benedikt vielfach angeführte „Teufel“ los:

„In verschiedenen Priesterseminaren bildeten sich homosexuelle Clubs, die mehr oder weniger offen agierten und das Klima in den Seminaren deutlich veränderten. In einem Seminar in Süddeutschland lebten Priesteramtskandidaten und Kandidaten für das Laienamt des Pastoralreferenten zusammen“. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten … seien „vereinzelt Pastoralreferenten mit ihren Freundinnen“ gekommen.
„Ein Bischof hatte den Seminaristen Pornofilme vorführen lassen, angeblich mit der Absicht, sie so widerstandsfähig gegen ein glaubenswidriges Verhalten zu machen.“
Oder: Es habe nicht nur in den USA einzelne Bischöfe gegeben, „die die katholische Tradition insgesamt ablehnten und in ihren Bistümern eine Art von neuer moderner „Katholizität“ auszubilden trachteten“.
Eine junge Ministrantin habe ihm erzählt, „daß der Kaplan, ihr Vorgesetzter als Ministrantin, den sexuellen Missbrauch, den er mit ihr trieb, immer mit den Worten einleitete: „Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird.“

Schuldige gesucht

Für derartige Zustände in der katholischen Kirche suche Benedikt mit seinem Text Schuldige, vermutet der italienische Theologe Vito Mancuso in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“. Und die aufsässigen Studenten der späten Sechzigerjahre seien für ihn ohnehin das Übel schlechthin.

Das mag man aus der Biografie Ratzingers erklären. 1966 bis 1969 lehrte er – auf Empfehlung des dort sehr einflussreichen Kollegen Hans Küng – an der Universität in Tübingen. Auch dort demonstrierten, wie fast in allen Unis, regelmäßig Studenten. Einmal drangen sie lautstark und anscheinend bedrohlich in Ratzingers Vorlesung ein. Der habe einen heftigen Schock erlitten, wie Küng später Mancuso erzählte, von dem er sich nie erholt habe.

Ratzinger ging 1969 zur Universität in Regensburg, wohl auch wegen der Proteste. In Regensburg gab es die weltberühmten Domspatzen, die noch körperlich gezüchtigt wurden; manche wurden auch Opfer sexueller Gewalt. 30 Jahre lang war Benedikts Bruder Georg Ratzinger Chorleiter. Der übte laut einem Untersuchungsbericht „in vielen Fällen“ auch körperliche Gewalt aus – aber nach 1980 nicht mehr, wie er selbst beteuerte.
Vom sexuellen Missbrauch seiner kleinen Sänger jedenfalls habe er nie etwas mitbekommen.

Fassen wir zusammen:

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. gibt in einem Aufsatz den Achtundsechzigern und der Säkularisierung eine Mitschuld am Missbrauchsskandal in der Kirche. Beobachter sehen darin den Versuch des emeritierten Papstes, Schuldige für interne und strukturelle Probleme der katholischen Kirche zu finden.

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Apr. 2019 | €uropa | 1 Kommentar