Das Credo des neuen Idealbürgers lautet, dass man der Obrigkeit, zu der Politik, Wirtschaft und öffentliche Verwaltung gleichermaßen gezählt werden, rein gar nichts mehr glauben darf.
Andernfalls gilt man als angepasster, autoritätshöriger Einfaltspinsel. Das herrschende „Lügenpack“ – so eine Parole der ach so friedfertigen Stuttgarter Protestler – stecke nämlich samt und sonders unter einer Decke und habe sich zum Zwecke des systematischen Betrugs am Bürger miteinander verschworen  – hier in Heidelberg: Man könne doch die (Bundes) Straße über Sommer sperren und habe dann die Stadt am Fluß ohne Tunnel! Lügenpack?
Der neue kritische Idealbürger beansprucht für sich, genug zu wissen, um alle Informationen, die von „denen da oben“ herausgegeben werden, als gezielte Irreführungen zu durchschauen. Und jesuitisch alledem mit Gleichem zu begegnen …

Mühelos traut er sich zu, die verkehrstechnische Überlegenheit des Konzepts eines zum Beispiel modernisierten Kopfbahnhofs über das einer unterirdischen Schienenlegung zu erkennen. Schon die Vorstellung, dass Spezialisten über Einzelheiten besser informiert sein könnten und müssten als er, der „einfache Bürger“, hält er für den Ausdruck anmaßender, elitärer Verachtung gegenüber dem wahren Souverän, der auf diese Weise „für dumm verkauft“ werden solle.

Das aber will der neue Protest- oder Dagegen-Bürger nicht länger auf sich sitzen lassen. Denn er ist gut gebildet und wohl situiert, es fehlt ihm eigentlich an nichts, außer dem Gefühl der Genugtuung, die vermeintlich Allmächtigen in den Institutionen, die doch eigentlich nichts anderes sind als seine Dienstleister, vor ihm in die Knie gehen zu sehen. Dabei erinnert dieser neue, selbstbewusste Bürgertypus unwillkürlich an jene Menge in der britischen Comedy-Serie „Monty Python“, die im Chor skandiert: „Wir sind alle Individualisten“. Denn nur inmitten einer großen Zahl Gleichgesinnter, die sich für „das Volk“ halten, fühlt sich der neue, nonkonformistische Dagegen-Bürger ganz und gar selbst bestimmt.

Gesetze und Regeln jesuitisch zu überschreiten, wenn dies die von ihm verkörperte gute Sache befördert, etwa die Rettung von zum Abholzen bestimmter Bäume, gilt dem Protestbürger als eine Art Naturrecht. Gegen Instanzen, die ihn daran hindern, die Rechtslage nach seinen Bedürfnissen auszulegen, nimmt der Protest-Bürger ein „Recht auf Widerstand“ für sich in Anspruch. Dass es bei diesem „Widerstand“ nicht etwa um den Einsatz des eigenen Lebens aus Notwehr gegen eine verbrecherische Diktatur geht, stört ihn nicht weiter. Es geht schließlich ums Prinzip. Halali …

Fest ist er davon überzeugt, alles würde sich zum Besseren wenden, würde er bei allen öffentlichen Projekten auf jeder Stufe von deren Realisierung um seine Zustimmung ersucht. Und fraglos scheint ihm, dass Volksabstimmungen wie in der Schweiz wahre Demokratie bedeuteten. Dass sich daran in unserem Nachbarland jedoch im allerbesten Fall knapp über die Hälfte aller Bürger beteiligen, irritiert ihn ebenso wenig wie die Tatsache, dass Volksabstimmungen dort (wie hier!)von Parteien (und „alternativen Listen) instrumentalisiert werden, um ihren regierenden Konkurrenten (und dem OB) das Leben sauer zu machen. An denen nämlich bleibt es am Ende hängen, das vermeintlich authentische Volksvotum in Gesetze zu gießen, die heimischen und internationalen Rechtsprinzipien standhalten.

Weil im Zeitalter des Internet und der totalen Kommunikation alles Wissen der Welt jedem scheinbar grenzenlos zur Verfügung steht, erkennt der neue Idealbürger auch keine Instanzen mehr an, die befugt wären, richtige von falschen und relevante von unbedeutenden Informationen zu unterscheiden. In seinem Eifer, die Funktionsmechanismen der repräsentativen Demokratie und ihrer Institutionen als „abgehoben“ zu entlarven, setzt er freilich und unermüdlich die zivilisatorische Errungenschaft der Trennung diverser öffentlicher Sphären aufs Spiel. Sind die ‚checks and balances‘ demokratischer Machtverteilung erst einmal zerstört, von denen widerstreitende Interessen in der Gesellschaft austariert werden, schützt dann aber auch den Protest-Bürger am Ende niemand mehr vor der Willkür noch neuerer selbst ernannter Mehrheiten.

Dez. 2010 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Sapere aude, Zeitgeschehen | 2 Kommentare