Wie ein erschreckender Sekundenblick erreicht die deutsche Gesellschaft von Zeit zu Zeit die Botschaft, dass sie immer weniger Kinder bekommt und, in der Dynamik der demographischen Entwicklung gerechnet, in zwei, drei Generationen mehr oder weniger kinderlos sein wird.
Die Botschaft hört man wohl – und der Botschaft folgen regelmäßig ein halbes Dutzend Erklärungen für den radikalen Geburtenrückgang: Der hohe Berufswunsch und der hohe Bildungsgrad von Frauen, überlange Ausbildungszeiten, mangelhaftes System der Kinderbeaufsichtigung, daraus folgende Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, der hohe Anteil Unverheirateter, Alleinlebender,
Das – wenngleich nicht, dass fundamentalistische Retterinnen ungeborenen Lebens weshalb auch immer abtreibende Frauen dafür verantwortlich machen, das mag ja alles richtig sein, seinen Anteil daran haben. Aber in ihrem Wesen gleichen diese Erklärungsversuche den tröstenden Ausreden, die man dem unvorteilhaften Spiegelbild zuflüstert: schlecht geschlafen, schlechtes Licht, schlechter Spiegel. Die Wahrheit ist einfach: Man wird älter.
Kinder bedeuten nicht auch Anerkennung
Die demographische Entwicklung der deutschen Gesellschaft ist ebenfalls sehr einfach zu begründen: Kinder zu haben, stellt ihr einen immer geringeren Wert da. Wenn – ist das Ergebnis einer von der Familienministerin in Auftrag gegebenen Studie – ein Viertel aller jungen Männer und 15 Prozent aller jungen Frauen erklären, ihr Leben ohne Kinder führen zu wollen, dann lässt das in zweiter Linie Rückschlüsse auf die komplizierte Soziologie ihres Lebens zu. In erster Linie jedoch auf die Gewichtung ihrer Lebenswünsche. Und in diesen spielt Nachwuchs einfach keine oder eine sehr untergeordnete Rolle. Kurzum: Sie haben keine Lust auf Kinder.
Unruhe sei die erste Bürgerpflcht
Das wirklich Beunruhigende am rätselhaften Nachwuchsmangel liegt darin, dass er kein Rätsel ist. Er ist evident. Allenfalls ist er es insofern, als ein Leben ohne Kinder den bewussten und unbewussten Daseinsidealen einer modernen Gesellschaft angemessener ist, als ein Leben mit Kindern.
Machen wir uns nichts vor: Kinder gelten als Faktoren der Einschränkung. Nicht der Bereicherung. Kinder gelten als Ursache von Verzicht und eben nicht als Gewinn. Kinder tragen heute nicht mehr zum sozialen Prestige bei, ebendies gilt für das Prestige der Elternschaft.

Warum sonst würden vor allem Akademiker, Menschen also, die sehr viel Energie auf ihre gesellschaftliche Anerkennung verwenden, auf Kinder verzichten? Sie wollen frei sein. Und dieser Wunsch steht nicht im Widerspruch, sondern im Einklang mit den Normen, an denen sie sich messen. Wenn sie sich Kinder wünschen, dann aus persönlichen, psychologischen Motiven. Aber sie brauchen keineKinder, um gesellschaftlichen Normen gerecht zu werden.
Wäre es anders, würden sie als Kinderlose bedauert, ja im Extremfall ausgegrenzt ins Außenseitertum. Um das zu vermeiden, würden sie schleunigst zwei, drei Kinder zu bekommen versuchen – was dann in der Regel ja auch klappt – und zwar ohne Rücksicht auf eine verpaßte Promotionsarbeiten, ohne Rücksicht auf abendliches Zuhausesitzen, ohne Rücksicht auf Kindergartenplätze.
Ein Schreck, der ohne ohne Wirkung bleibt
Natürlich erschrickt die Gesellschaft regelmäßig beim Blick in den Spiegel. Aber sie erschrickt nicht über die tiefgreifende anthropologische Wesensveränderung, die sich in ihrer Erscheinung abzeichnet. Hingegen erschrickt sie über ihre pragmatische Zukunft. Sie rechnet sich aus, dass es irgendwann nur noch uns alte Leute geben wird oder gar irgendwann keine Deutschen mehr. Aber dieser Schrecken hat keine Rückwirkung auf die gegenwärtige Mentalität. Wie sollte er auch. Eine anthropologische Entwicklung nämlich lässt sich nicht zurückdrehen. Und exakt um eine solche handelt es sich nun mal.
Wenn ein Viertel aller jungen Männer im Jahr 2010 keinen Fortpflanzungsimpuls, keine Fortpflanzungsnotwendigkeit verspürt, ist die panikartige Einrichtung von Ganztagsschulen, die Erhöhung von Kindergeld bei Hartz4ern und was sonst noch denkbar wäre an politischen Strategien, zwar schön und gut und ehrenwert. Aber es sind Maßnahmen zur Behebung des Symptoms, die dessen Ursache nicht berühren.
Diese indes ist alles andere als geheimnisvoll. Es ist eigentlich ganz einfach zu sagen: Die westliche Kultur der Spätmoderne privilegiert Normen und Wünsche, den Wunsch nach Bewegungsfreiheit, nach Erlebnisfreiheit, nach Ungebundenheit, nach privater Unstrukturiertheit, die den Wunsch nach Kindern automatisch zurückdrängen. Machen wir uns nichts vor: Als Zukunftsphänomen finden wir die Kinderlosigkeit etwas erschreckend, aber in der Gegenwart ein Leben ohne Kinder irgendwie längst sowohl besquem aals auch völlig normal.
Die Diskussion um Babyflaute und Kinderfeindlichkeit deutscher Männer verstärkt eine Reihe von Klischees, die aktuelle Studien nur selten bestätigen.
Eine Studie jagt die andere. Forscher präsentieren Ergebnisse zu Kinderwünschen, Partnerwahl und Lebensplanung. Kernpunkt der Diskussion ist die Babyflaute im Land: Warum bloß kriegen die Deutschen so wenig Kinder? Für den Noch-nicht-Vater sind die Zeiten verwirrend. Welche Annahmen bestätigen die Studien? Welche Lügen entlarven sie? Ein Überblick.
“Deutsche Männer und Frauen sind egoistisch und karriereversessen”
Kaum sind die Zahlen veröffentlicht, schon scheint der Übeltäter erkannt. 26,3 Prozent der Männer und 14,6 Prozent der Frauen möchten gar kein Kind, hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung verkündet. Der Wertewandel ist schuld, heißt es seither in Politiker- wie in Kirchenkreisen, wobei letztere ja immerhin mit einem Kondomverbot versuchen, das Schiff zu wenden … Nur: In der Studie steht gar nichts drin von veränderten Idealen. Im Gegenteil. Die Familie findet sich wie ehedem ganz oben auf der Werteskala, so lautet das Ergebnis. Nichts ist den Deutschen so wichtig wie “mit seinem Partner in Harmonie zusammenleben” und “seinen Kindern Liebe widmen”. Karriere machen, sich selbst verwirklichen, das dümpelt auf den Schlussrängen. Selbst unter den Unwilligen gibt jeder Zweite zu:
Gäbe es mehr Teilzeitjobs, Kinderbetreuung und flexiblere Arbeitszeiten – ich würde mir das mit dem Baby nochmal überlegen. Der Möchtegern-Vater braucht also nicht zu bangen, dass seine Job-Ambitionen seine Babypläne stören, jedenfalls nicht, wenn er nach den Einschätzungen der Mehrheit geht. Er muss auch nicht nach jener einen von 20 Frauen fahnden, die am liebsten allein Hausfrau und Mutter wäre. Schwer hat es nur, wer von einer Drei-Kinder-Schar träumt, denn das tun zumindest in den alten Bundesländern mehr Männer als Frauen. Ansonsten gilt: Der Wessi möchte zwei Kinder oder gar keins, der Ostmann ist da flexibler. Statistisch gesehen hat also nicht der Mann ein Problem. Sondern die Frau, die einen Babyverweigerer aus dem Westen liebt.
“Bildung ist der schlimmste Feind des Kinderkriegens”
Längst ist es ein Standardargument in den Kinder-Debatten. Studierte Frauen erreichen viel – nur Mutter werden sie selten. Zwar sind wohl nicht 40 Prozent der Akademikerinnen kinderlos, wie oft gesagt wird, fußt die Angabe doch auf alten Zählmodi, die annehmen: Jenseits der 39 wird eine Frau nicht mehr Mutter. Der Trend aber ist unbestritten. Je gebildeter die Frau, desto häufiger bleibt sie kinderlos. Sollte der zeugungswillige Mann also Akademikerinnen meiden? Das wäre falsch. dass sich die studierte Frau seltener ein Kind wünscht als die Verkäuferin oder Arbeiterin, ist durch keine Umfrage belegt. Nur, dass es häufiger beim Wünschen bleibt. Als ein Hauptschuldiger gilt das “Drei-Phasen-Modell” – der deutsche Hang zum Nacheinander. So lautet zumindest die Quintessenz einer Allensbach-Studie. Erst Ausbildung, dann einige Berufsjahre, danach ein Kind, das ist das gängige Ideal. Die Folge: Gerade noch fünf bis zehn Jahre bleiben fürs Großprojekt Baby. Glücklich, wer dann gerade einen Partner an seiner Seite weiß.
Zumal die studierte Deutsche ihren Mann sorgsam wählt. Nur jede zehnte ist bereit, auch einen Nichtakademiker zu ehelichen. Will Mann ganz sicher gehen, sollte er eine Frau aus den alten Bundesländern umwerben. Von ihnen kann sich nur jede Zwanzigste vorstellen, kein Kind zu gebären. Übrigens: Selbst wenn ein Mann an der Uni nicht die Mutter seiner Kinder findet – studieren sollte er schon. Denn das rentiert sich. Zwar sind Nichtakademiker zunächst erfolgreicher in Sachen Nachwuchs. Aber nur, bis sie 35 Jahre alt sind. Dann zieht der Studierte an ihnen vorbei, ergibt die Studie “männer leben” der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Es gibt weniger kinderlose Akademiker als Nichtakademiker. Noch folgenreicher als ein Uni-Abschluss ist der Kontoauszug. Wer über 2.500 Euro netto verdient, hat weit öfter als andere auch Frau und Kind.
“Ein Mann kann in jedem Alter Vater werden”
Diese Aussage hält sich zäh, trotz allen Statistikwissens: die Alterslüge. Der Mann wähnt sich gefeit vor der Baby-Uhr, die in der Mittdreißigerin tickt. Dabei lehrt die Realität anderes. Medizinisch gesehen spricht einiges gegen (ab wann ist Mann das?) den Greis im Kreißsaal – etwa das höhere Risiko, ein krankes Kind zu zeugen. Wichtiger freilich ist die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Natürlich könnte – in der Regel – auch ein Senior ein Kind zeugen. Nur tut er es selten. Sowohl die Allensbach- als auch die “männer leben”-Studie belegen: Jenseits der 35 verlässt Mann wie Frau der Wille zum Kind. Fehlt es am Mut? Hat man sich arrangiert in der Zweisamkeit? Noch ist das kaum erforscht, belegt ist nur: Fragt man Studierende, wollen neun von zehn später mal ein Kind. Unter Mittdreißigern ist die Quote viel niedriger.
Wenns nicht mehr geht …
Doch selbst wer Nachwuchs will – jenseits der vierzig scheitert das Wollen am Können. Der Greis und die junge Schöne, im wahren Leben ist das eine Rarität, weiß die “männer leben”-Studie. Nur einer von 25 Männern ist zehn oder mehr Jahre älter als seine Partnerin. Selbst der Senior freit meist unter seinesgleichen. Im Schnitt ist der Mann um die fünfzig mit eine Frau verbandelt, die gerade einmal 2,8 Jahre jünger ist. Wer also Vaterwünsche hegt, sollte den Aufschiebeplan begraben. Der Babyboom nach der Midlife Crisis – er ist eine Männerphantasie.
Was folgt daraus?
“Der wichtigste und schwerwiegendste Irrtum über die Natur der demographischen Veränderungen ist der Glaube”, sagt der Bevölkerungsforscher Herwig Birg, “dass uns ein rascher Wiederanstieg der Geburtenrate auf 1,6 oder 1,8 oder zwei Kinder pro Frau vor dem Schlimmsten bewahren könnte. Aber es ist dreißig Jahre nach Zwölf, heute kann selbst ein Anstieg der Geburtenrate auf die ideale Zahl von zwei Kindern je Frau die Alterung für Jahrzehnte nicht abwenden. dass es ein demographisches Momentum mit irreversiblen Folgen gibt, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Demographie. Wenn ein demographischer Prozeß ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen.
Wir befinden uns noch nicht einmal in der Phase des Bremswegs, noch läuft überhaupt erst der Countdown der Reaktionszeit. Haben wir schon reagiert? Werden wir reagieren? Wann werden wir reagieren? Politiker, die wissen, dass sie nicht mehr im Amt sein werden, wenn die demographischen Folgen zu unübersehbaren sozialen und urbanen Veränderungen geführt haben werden, planen eine Zukunft auf den Grundrissen eines Deutschland, das in den siebziger Jahren vielleicht einmal war, aber längst nicht mehr ist.
Es sei nicht nur den Abstand zwischen Reaktionszeit und Bremsweg beschrieben, sondern auch von Fehlprognosen angesichts verheerender Datenfehler geredet, die in einzelnen Kommunen beispielsweise zu einem statistischen Verschwinden der Neunzigjährigen geführt haben.
Schon hört man, wie einzelne Politiker, die heute am Umbau der Welt arbeiten, sich mokieren über Zeithorizonte wie den folgenden: “Der demographisch bedingte Problemdruck wird sich in den nächsten zehn Wahlperioden mit der irreversiblen demographischen Alterung kontinuierlich verstärken und Deutschland in eine permanente gesellschaftspolitische Großbaustelle verwandeln.”
Reden wir über Kinder
Der deutsche Selbsthaß hat in den letzten Jahrzehnten eine Diskussion über dieses Problem verhindert, weil, wer es aufgriff, sofort beschuldigt wurde, klassische Bevölkerungspolitik zu betreiben. Wir müssen nun erkennen, dass der Autonomen-Satz “Nie wieder Deutschland!” auf unheimliche Weise vollstreckt werden könnte. In der Tat, von Kindern profitieren in unserer Gesellschaft doch nur noch die, die sie nicht haben. Womit ein, nein, das Prinzip unseres politischen Diskurses benannt wäre.
Was ein Mensch wirklich ist – so pathetisch dieses Satz klingen mag – , was also ein geborener Mensch wirklich wert ist, das werden wir alle jetzt erst erfahren. Es müßte uns gelingen, über etwas ganz Einfaches und Naheliegendes zu reden, etwas was nicht jeder hat, aber jeder einmal war. Reden wir über Kinder.