Wir sind allzumal Lernende. So sind wir bereit, auch dies zu verinnerlichen: Auch dumme Sprüche können eine Debatte in die öffentliche Aufmerksamkeit bringen. Horst Seehofers Spruch, wir brauchten „keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen“ ist ein solch blöder Spruch. Deutschland wird ohne qualifizierte Einwanderung erodieren. Das weiß, naja, wahrscheinlich, auch Horst Seehofer. Wenn er behauptet, Deutschland benötige keine Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen, führt er die Bürger – nicht nur, weil „Klulturkreis“ bislang eher keine Vokabel war, welche die hiesige Integrationsdebatte vorangebracht hätte – in eine gefährliche Irre. Der bayerische Ministerpräsident hat ein Problem,  nachdem er  festgestellt hat, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie der Türkei und den arabischen Ländern schwertun mit der Eingliederung. Dem mag ja so sein,  jedoch zieht Seehofer daraus den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung von dort brauchten. Dem ist so nicht – wir brauchen dringend Zuwanderer: 34.000 Ingenieurstellen waren 2009 offen, das Land konnte hingegen nur 5000 Hochschulqualifizierte gewinnen – die meisten allerdings aus China und Indien. Die von dorten kommenden (obgleich ihnen schwer genug gemacht wird, hier auch „anzukommen“ hat Seehofer nicht gemeint. „Andere Kulturkreise“ – das ist ihm Codewort für „Türken, Araber und Muslime“. Seehofer überholt Sarrazin in einer Weise rechtsaußen, wie Sarrazin nie war, jemand sollte Seehofer wegen Volksverhetzung anzeigen …

Zudem: Wer Kulturkreis sagt, der traut doch sich nur nicht, es so drastisch zu formulieren, wie er es meint. Im Ton einer ethnologisch abgesicherten Distanzierung sagt Kulturkreis nichts anderes als: draußen bleiben, störe meine Kreise nicht. Das ist kulturhistorisch Unsinn und politisch dumm. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war in Deutschland der Gegensatz zwischen Bayern und Preußen größer und emotional stärker aufgeladen als der zwischen Morgenland und Abendland. Seehofers Ausschlussmetaphorik verkennt die Notwendigkeit einer sozialen Durchlässigkeit zwischen oben und unten, sowie drinnen und draußen, um die es hierzulande schon einmal besser bestellt war.

Thilo Sarrazin und der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky haben es nicht mehr exklusiv, wenn sie auf die Zustände im Berliner Südosten verweisen. Ihre sachlichen Argumente zur Sozial- und Schulpolitik sowie zu Fragen der Jugendkriminalität finden aus guten Gründen Zuspruch. Die tägliche Ergänzung der Rednerliste erhärtet jedoch den Verdacht, dass es schon lange nicht mehr um die genaue Beschreibung der Verhältnisse und Differenzierung der Argumente geht.

Was wir unter dem Stichwort Integration zusammenfassen, ist kompliziert genug. Wir finden leicht Beispiele für gelungene Integration. Allzu oft aber scheitert sie. Manchmal sehr kläglich. Aber selbst, wo sie gelingt, entspricht sie nicht immer den Schönschreibregeln geglückter Assimilation. Die Medien feiern die Fußballer Özil, Tasci und Boateng als Beispiele einer wünschenswerten Leistungsorientierung, die dem Volksganzen dient. Vernähme man aber deren Artikulationsfähigkeiten außerhalb des Stadions, so könnte die Rede bald auch wieder aufs Thema Schulversagen und jugendliche Desintegration kommen. Soziale Zugehörigkeit geht nun einmal kreuz und quer durch eine Lebensgeschichte hindurch.

Die jüngsten Äußerungen von Seehofer und Schröder sind Indizien dafür, dass sich die politische Klasse in zwei Lager spaltet. Während Bundespräsident Christian Wulff sich zu einer (wenngleich mehr als fragwürdig beschriebenen – siehe oben) offenen Gesellschaft bekannte, suchen andere Spitzenpolitiker nach Dichtungsmaterial. Jenseits des gesetzlichen Regelwerks von Zuwanderung reagieren sie auf ein gesellschaftliches Unbehagen, in dem ökonomisch begründete Abstiegsängste sich mit Fragen kultureller Identität berühren. Einfache Antworten darauf gibt es nicht. Horst Seehofer vermochte denn auch kein Gesetz zu formulieren, durch das sich das allgemeine Unbehagen in Wohlgefallen überführen oder gar auflösen ließe.

Die schwadronierenden Politiker müssen sich fragen lassen, ob sie Deutschland als offene und moderne Gesellschaft wollen, die wirtschaftlich leistungsfähig und kulturell attraktiv ist. Wenn sie für Letztere eintreten, müssen sie keinem verklärten Mulitkulturalismus das Wort reden. Aber sie können auch nicht länger so tun, als ließe sich das Staatswohl am Flughafencounter regulieren. Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund schießen Tore, treten aber manchmal auch auf der Straße Autospiegel ab. Über beides muss man reden dürfen. Begriffe aber wie Kulturkreis und Deutschenfeindlichkeit helfen nicht weiter.

Selbst die optimistischste Variante, die von hunderttausend qualifizierten Einwanderern und geringer Abwanderung jährlich ausgeht, zeigt, dass der Saldo nicht ausreicht. Auch dies weiß Seehofer vielleicht, erst recht, wenn er sich hütet das eigentlich entscheidende Problem anzusprechen: in Bayern etwa schrumpft der Anteil der Neunzehn- bis Vierundzwanzigjährigen bis 2025 um 14 Prozent, im Saarland und Berlin um 27 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern um fast 50 Prozent. Und damit kommt – bei gleichzeitigem Wachsen der immer älter werdenden Älteren – der Prozess überhaupt erst in Fahrt.

Alles entscheidet sich heute

Seehofer, der auch schon die Rente mit 67 in Frage stellte, suggeriert, man könne diese Schrumpfung über Einwanderung junger Menschen aus dem erweiterten EU-Raum auffangen. Aber praktisch alle europäischen Länder befinden sich in der gleichen Situation wie Deutschland. Bulgarien und die baltischen Staaten beispielsweise sind demographisch ein zweites Brandenburg. Selbst wenn es gelänge, deren junge Menschen nach Deutschland zu holen, reichte die Zahl nicht einmal aus, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Und es gibt mächtige Mitbewerber, die früher als Deutschland erkannt haben, dass Jugend eine Rarität wird.

Die sechs anglo-amerikanischen Einwanderungsländer, von Australien bis Nordamerika, haben ihre Anforderungen an den Weltmarkt für Talente statistisch bereits formuliert. Sie benötigen, nur um ihre eigene Alterung zu verlangsamen (nicht einmal aufzuhalten), bis 2050 jährlich 1,68 Millionen qualifizierte Einwanderer – also mehr als die jährliche Zahl der Lebendgeburten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Polen zusammen. Womöglich kommt gar keiner, womöglich laufen die immer weniger werdenden qualifizierten jungen Menschen – die Kinder von heute – dem Land auch noch davon. Demographische Prozesse sind träge. Heute, und nicht erst 2020, entscheidet sich nicht nur, ob wir qualifizierte Zuwanderung aus allen Kulturkreisen bekommen, sondern auch, ob die heutigen Kinder in einer von finanziellen und psychologischen Belastungen – auch denen von nicht-integrierten muslimischen Parallel-Milieus – erodierenden Gesellschaft abwandern werden.

Seehofer hat keine auch nur annähernd seriöse Antwort auf den demographischen Wandel. Seine Wortmeldung spielt sich vor dem Hintergrund einer psychosozialen Verstörung ab, die durch die politisch skandalöse Behandlung des von ihm bis dato mit Sicherheit ungelesenen Buches von Thilo Sarrazin aufgebrochen ist. Hingegen  lässt sich Seehofer lediglich auf das Spiel der Gegenseite ein und verfehlt damit seine Aufgabe ebenso wie Bundespräsident Wulff, der eine Rede hielt, die sich stellenweise anhörte, als sei der Islam eine verfolgte Minderheit in Deutschland.

Die Forderungen, die sich aus dem demographischen Wandel ergeben, kamen Wulff nicht in den Sinn. Die Sorge der Bevölkerung liegt nicht in der Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, sondern umgekehrt, ob  nicht Deutschland vielleicht eines Tages viel mehr zum Islam gehört als es ihm lieb sein kann. Wer das nicht versteht, der geht nicht nur an Stimmungen vorbei, er verkennt auch die Dynamik der fast unumkehrbaren demographischen Entwicklung.

Das Bürgertum lebt davon, dass es sich ständig über die Aufstiegserfolge unterer Schichten regeneriert und damit – im besten Fall – sogar wächst. Bürgerliche Politik, die ihren Namen verdient, weiß das. Die Hebel dafür heißen Leistung und Bildung, unabhängig vom „Kulturkreis“. „Kinder müssen mehr können als ihre Eltern, Einwanderer müssen mehr können als Einheimische“ – das ist  (zum Beispiel) das Credo der vorbildlichen kanadischen Einwanderungspolitik. Es ist nicht bekannt, dass Kanada Integrationsgipfel abhielte oder ideologische Debatten über unterschiedliche Kulturkreise führte. Das Land, in dem in den Schulen Demographiekurse angeboten werden, weiß, was es will und braucht. Das hinzubekommen ohne ideologische Bürgerkriege, ist die Minimalforderung an Politik.

Okt. 2010 | Allgemein, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren