100 offene Stellen, 21 Bewerber: Der Fachkräftemangel in der Pflege ist erheblich – und wird noch schlimmer werden. Die Politik rechnet mit viel zu kleinen Zahlen.

Altenpflege: Bis zum Jahr 2030 könnten Studien zufolge fast eine halbe Million Fachkräfte in der Altenpflege fehlen.
Bis zum Jahr 2030 könnten Studien zufolge fast eine halbe Million Fachkräfte in der Altenpflege fehlen. © Unsplash / Rawpixel

Der viel zitierte Fachkräftemangel – in der Pflege ist er schon lange angekommen: Zahlen der Bundesregierung besagen, dass in der Branche mindestens 36.000 Fachkräfte fehlen. In der Krankenpflege sind gut 12.500 Stellen nicht besetzt; in der Altenpflege werden 15.000 ausgebildete Altenpflegerinnen und Altenpfleger sowie weitere 8.500 Helferinnen und Helfer gesucht. Das zeigt die Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA). Rein rechnerisch kommen auf 100 offene Stellen 21 Bewerber.

 Und die Situation wird sich weiter verschärfen. Denn die Deutschen werden immer älter, und damit wächst auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Schon heute sind das fast drei Millionen Menschen, das zeigt die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes. Die allermeisten von ihnen – 73 Prozent – sind aber noch so selbstständig, dass sie zu Hause versorgt werden können. Ambulant vor stationär lautet auch die Devise der Politik.

Bei mehr als 1,3 Millionen Pflegebedürftigen kümmern sich ausschließlich die Angehörigen. Sie erhalten zwar Pflegegeld, aber keine Hilfe von Altenpflegern. Anders sieht es bei weiteren knapp 700.000 Pflegebedürftigen aus, die zwar zu Hause versorgt werden, aber auch Hilfe durch ambulante Pflegedienste benötigen. Weitere 27 Prozent der Pflegebedürftigen – das sind 783.000 Menschen – können nicht mehr allein leben und sind auf ständige Betreuung angewiesen.

172 Tage suchen Arbeitgeber in der Altenpflege durchschnittlich nach Ersatz nach einer Kündigung

Insgesamt sind zwar mehr als eine Million Menschen in der Altenpflege tätig. Auch wenn das viel klingt: Es müssten eigentlich viel mehr sein. Denn einerseits arbeiten drei Viertel aller Beschäftigten in der Altenpflege in Teilzeit, andererseits gibt es immer weniger Angehörige, die die Pflege ihrer Verwandten übernehmen können. Oft leben die Kinder weit weg und sind beruflich stark eingebunden, sodass es ohne professionelle Hilfe nicht geht. Selbst wenn die Zahl der Pflegebedürftigen gleich bliebe, würde mit der sinkenden Zahl pflegender Angehöriger automatisch der Bedarf an ambulanter und stationärer Pflege wachsen – und damit der Bedarf an Fachkräften.

Die Politik weiß um den Fachkräftemangel, immerhin spielte das Thema schon im Wahlkampf eine Rolle. Union und SPD vereinbarten im Koalitionsvertrag ein Sofortprogramm, wonach 8.000 zusätzliche Stellen geschaffen werden sollen – allerdings für die Alten- und Krankenpflege zusammen. Die Zahl ist zu niedrig angesetzt. Außerdem sind offene Stellen ohnehin nicht das Problem, sondern ausgebildetes Fachpersonal. Mit weiteren Stellen vergrößert sich daher erst einmal nur der Personalmangel.

Gleichwohl braucht Deutschland beides: mehr Stellen und viel mehr Fachkräfte. Doch schnell werden diese nicht zu finden sein. Zwar steigt die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler in der Altenpflegeausbildung. Das zeigt der Berufsbildungsbericht 2017 der Bundesregierung. Aber das Wachstum reicht noch nicht einmal, um die heutige Lücke zu schließen.

Hinzu kommt: Durch die heutige Lücke werden die wenigen Fachkräfte, die es gibt, über Gebühr belastet und letztlich verheizt. Warum, ist schnell erklärt: Laut Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit suchten Arbeitgeber in der Altenpflege im vergangenen Jahr im Schnitt fast sechs Monate nach Ersatz, wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter gekündigt hatte.

Das heißt: Wenn einer im Team geht, müssen alle anderen für mehrere Monate lang mehr Arbeit machen. Das verschleißt, entsprechend hoch ist der Krankenstand in der Branche. Oft bleibt Arbeit liegen. In der Altenpflege bedeutet das: Patienten bekommen nur das Nötigste. Manchmal nicht einmal das. Immer wieder gibt es Berichte über Missstände vor allem in Pflegeheimen.

Die Arbeitsbedingungen sind schlecht

Hinzu kommt, dass die Arbeitsbedingungen oft schlecht sind. Der Stress ist groß, die psychischen Belastungen und die körperlichen Anforderungen durch schweres Heben und Schichtdienste sind enorm, die Bezahlung ist dagegen vergleichsweise schlecht. Im Schnitt bekommen ausgebildete Altenpflegerinnen in Vollzeit 2.621 Euro brutto im Monat. Doch die Unterschiede beim Gehalt sind je nach Region groß. Während eine Altenpflegerin in Sachsen-Anhalt 1.985 brutto verdient, bekommt ihre Kollegin in Baden-Württemberg durchschnittlich 2.937 Euro brutto im Monat.

Dies alles führt dazu, dass viele Fachkräfte nach einigen Jahren den Beruf wechseln. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat ermittelt, dass nach zehn Jahren nur noch 37 Prozent der Altenpfleger in ihrem ursprünglichen Job tätig sind. Viele kündigen freiwillig und suchen sich eine andere Tätigkeit.

Darum muss man davon ausgehen, dass die eingangs genannten Zahlen der Bundesregierung nicht verlässlich sind. Sie basieren nämlich allein auf der Statistik der Bundesagentur für Arbeit – doch die erfasst nur, was auch amtlich gemeldet wird. Aber nicht jeder Altenpfleger, der sich bei der BA offiziell arbeitssuchend meldet, will tatsächlich weiter in dem Beruf arbeiten. Er oder sie braucht lediglich Arbeitslosengeld und orientiert sich womöglich um. Außerdem melden längst nicht alle Arbeitgeber ihre unbesetzten Stellen, denn die Vermittlungsquote durch die BA ist nicht sehr hoch.

Immer mehr Angelernte in der Branche

Viele Pflegeheime und Pflegedienste behelfen sich angesichts der Personalnot mit angelerntem Personal. Gängig sind in der Branche sechs- bis achtwöchige Grundkurse, in denen ein Basiswissen für die Pflegehilfe vermittelt wird. Angebote gibt es beispielsweise bei Sozialverbänden wie dem Deutschen Roten Kreuz – gedacht sind diese Grundausbildungen überwiegend für pflegende Angehörige. Viele Arbeitgeber stellen in ihrer Not allerdings immer häufiger solche Quereinsteiger ein. Außerdem setzt man auf Hilfskräfte wie junge Erwachsene, die nach der Schule einen Bundesfreiwilligendienst oder ein Soziales Jahr machen, um sich beruflich zu orientieren.

Experten wie der Pflegekritiker Claus Fussek kritisieren diese Zustände. Viele der heutigen Beschäftigten in der Pflege hätten in dem Beruf eigentlich nichts zu suchen, sagt er. Müsste man jedoch all die Hilfskräfte und Quereinsteiger durch richtiges Fachpersonal ersetzen, könnten viele Pflegebedürftige gar nicht mehr versorgt werden.

Bis zu einer halben Million Vollzeitkräfte könnten fehlen

Zahlreiche Studien haben sich daher mit der Frage beschäftigt, wie die Lücke in der Pflege heute und auch künftig gelöst werden kann. Die einschlägige Antwort lautet: Pflegeberufe aufwerten, mehr ausbilden und auf qualifizierte Zuwanderung setzen. Lösungen, die nicht von heute auf morgen umgesetzt werden können.

Die größte Herausforderung dabei ist, den Bedarf an Fachkräften für die Zukunft richtig vorherzusagen.

Die meisten Studien stützen sich auf Berechnungen des Statistischen Bundesamts, wonach im Jahr 2030 mindestens 3,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sein werden. Wie kommen die Statistiker auf diese Zahl? Sie rechnen mit der Bevölkerungsentwicklung und setzen die heutige Pflegequote und Pflegewahrscheinlichkeit an, berücksichtigen aber die steigende Lebenserwartung.

Heute sind die meisten Pflegebedürftigen über 60 Jahre alt. In der Altersgruppe der 75-Jährigen ist jeder Zehnte pflegebedürftig, bei den über 90-Jährigen sind es 66 Prozent.

So kommen die Statistiker auf 3,4 Millionen pflegebedürftige Menschen für das Jahr 2030. Aber wie viele Altenpflegerinnen und Altenpfleger werden diese Menschen brauchen? Um den Bedarf zu prognostizieren, kommt es auf mehrere Faktoren an. Die Zahl der pflegenden Angehörigen einerseits. Und den Grad der Pflegebedürftigkeit andererseits.

Damit eine Person in der Statistik als pflegebedürftig auftaucht, muss sie vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) in einen von fünf Pflegegraden eingestuft werden. Der Pflegegrad richtet sich danach, wie selbstständig der Antragsteller noch ist. Ein Patient mit dem höchsten Pflegegrad braucht mehr Zuwendung als jemand mit einem niedrigen Grad. Der Personalbedarf hängt daher auch davon ab, wie viele Schwerstpflegefälle es in Zukunft geben wird.

Und noch zwei weitere Faktoren spielen bei der Berechnung des Fachkräftebedarfs eine Rolle: Erstens, die gesetzlichen Vorschriften und Anforderungen – etwa wie viel Dokumentation erforderlich ist. Verbringt das Fachpersonal in der Altenpflege einen erheblichen Anteil der Arbeitszeit damit, die Pflegeleistungen zu dokumentieren, bleibt weniger Zeit für die Patientinnen und Patienten. Und, zweitens, die Digitalisierung: Schon heute werden in japanischen Pflegeheimen Roboter und Maschinen eingesetzt, die das Personal entlasten. In Zukunft werden solche Pflegeroboter auch hierzulande die Arbeit etwas einfacher machen. Experten sind sich aber einig, dass Roboter auf keinen Fall Fachkräfte vollwertig ersetzen werden.

Sofort-Programm für die Pflege gefordert

Daher gehen Forscherinnen und Forscher davon aus, dass der künftige Bedarf an Pflegefachkräften riesig sein wird. Die Bertelsmann-Stiftung beispielsweise hat eine Lücke von 500.000 Vollzeitstellen in der Altenpflege bis 2030 ermittelt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) oder eine Analyse der Wirtschaftsforschung Prognos AG.

Angesichts dieser Dimension ist klar, dass die 8.000 zusätzlichen Stellen aus dem Koalitionsvertrag ein Witz sind, wie es Grünen-Gesundheitsexpertin Kordula Schulz-Asche bezeichnet. Sie schlägt für eine kurzfristige Lösung vor, die vielen Teilzeitkräfte für eine Aufstockung zu gewinnen – daher müssten ganz dringend die Arbeitsbedingungen verbessert werden.

Auch andere Gesundheitspolitiker fordern eine Aufwertung und vor allem eine bessere Bezahlung. Schon lange wird über einen Tarifvertrag für die Pflegebranche diskutiert. Doch so ein Tarifvertrag ist Sache der Tarifpartner, sprich: Arbeitgeber und Gewerkschaften. Und Letzteren fehlen die Mitglieder. Nicht einmal zehn Prozent der Pflegekräfte sind gewerkschaftlich organisiert.

Jan. 2019 | Gesundheit, Junge Rundschau, Politik, Senioren, Zeitgeschehen, €uropa | Kommentieren

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