Sie hießen Werner Angress, Fritz Ehrlich, Günther Stern, Si Lewen, Klaus Mann, Hans Habe oder Stefan Heym. Blutjung, oftmals noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, flohen sie vor den Nazis in die USA und fanden dort eine neue Heimat.
Obschon sie – wie alle Flüchtlinge nach dem Kriegseintritt Amerikas 1941 – als „Enemy Aliens“, als feindliche Ausländer galten, hatte das Pentagon das Potential der jungen Exil-Elite rasch erkannt. Was sie einte, war der Haß auf Hitler. „Ich wollte den Faschismus bekämpfen, Hitler mußte besiegt werden“, erinnert sich Günther Stern. Niemand kannte den Feind, seine psychologische Befindlichkeit und Sprache besser als die deutschen und österreichischen Exilanten, unter denen sich viele Juden befanden. In den Bergen Marylands wurden sie in Camp Ritchie, einer Schule für Propaganda, Aufklärung und psychologische Kriegsführung, ausgebildet. In amerikanischer Uniform kehrten sie nach dem D-Day im Juni 1944 schließlich nach Europa zurück. An vorderster Front wurden die Ritchie Boys, wie sie sich nannten, im Kampf der Alliierten gegen Deutschlands braune Machthaber zu einer wichtigen Waffe. Ihr Erfindungsreichtum und ihre Einsatzbereitschaft retteten vielen Soldaten auf beiden Seiten das Leben. Ihre Geschichte wurde bis heute nicht erzählt.
Jetzt hat der Buch- und Filmautor Christian Bauer, der mehr als zwei Jahre über die Exilanten-GIs recherchierte und fast zwei Dutzend Interviews in Deutschland und in den USA führte, erstmals die geheime Mission der Ritchie Boys dokumentiert und damit eine neue Facette des Kriegsendes in Europa erschlossen. Eigentlich denkt man, man weiß über den Zweiten Weltkrieg alles Wesentliche, aber dann taucht plötzlich so eine Geschichte auf, von der man noch nie etwas gehört hat, die Geschichte von Menschen, die zwischen den Kulturen standen, die gegen ihr eigenes Heimatland kämpften. Und man merkt, daß der Zweite Weltkrieg die große Geschichtenmaschine unserer Zeit ist: Da wurden Biographien durcheinander gewirbelt, da trafen sich plötzlich Leute, die sich sonst nie getroffen hätten.
Das Buch „Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst“ ist im Hoffmann und Campe Verlag erschienen.
Die geheime Mission der Ritchie Boys
1942 hatte die US-Armee das von der Nationalgarde gegründete Camp Ritchie übernommen. Die abgeschiedene Lage machte das Lager zu einem idealen Ort für eine Schule, in der die Absolventen in militärischer Aufklärung und Propaganda unterrichtet wurden. Schon bald verlegte man hierhin jene jungen Männer aus Europa, von denen man glaubte, daß sie im Krieg nützlich sein konnten. „So viele bekannte Gesichter! Es wimmelt von alten Freunden aus Berlin, Wien, Paris, Budapest; man kommt sich vor wie in einem Club oder Stammcafé!“, notierte Klaus Mann, der wie viele andere europäische Intellektuelle in Camp Ritchie ein rigoroses Trainingsprogramm durchlief. „Camp Ritchie war etwas strategisch völlig Neues“, so Christian Bauer. „Da wurde eine Spezial-Einheit für psychologische Kriegsführung ausgebildet. Das gab es zum ersten Mal überhaupt, daß hier ganz neue Wissenschaften wie Psychologie und Soziologie für den Krieg nutzbar gemacht wurden. Und die Ritchie Boys, Emigranten aus Deutschland und Europa, waren diejenigen, die den Feind und seine Psychologie am besten kannten und beurteilen konnten. Und sie waren alle viel stärker motiviert als die gewöhnlichen amerikanischen Soldaten. Sie hatten jeder ihren persönlichen Grund, gegen die Nazis zu kämpfen.“
Nach der Landung in der Normandie im Juni 1944 lieferten die Ritchie-Teams den alliierten Truppen wichtige Informationen. Sie verhörten Gefangene und Überläufer, sammelten Informationen über Truppenstärke, Truppenbewegungen und die psychologische Situation des Gegners. Dabei war ihr Einsatz nicht ungefährlich. Die Ritchie Boys agierten an der Front oft alleine oder in kleinen Gruppen. Und sie sprachen meistens ziemlich schlecht Englisch, zumindest mit schrecklichem deutschem Akzent – was man bei den meisten übrigens bis heute hört. Und wenn sie im Kriegseinsatz an eine amerikanische Patrouille gerieten, waren sie plötzlich in Todesgefahr, weil man wußte, daß die Deutschen Spione in amerikanischen Uniformen agieren ließen. Einer erzählte, daß eine Patrouille ihm Testfragen stellte, die er nicht beantworten konnte, zum Beispiel, wer die letzte World Series im Baseball gewonnen hatte. Irgendwie konnte er sich herausreden, aber einige der Ritchie Boys kostete ihr Akzent in ähnlichen Situationen das Leben.
Zu den vielfältigen Aufgaben der Exilanten-GIs gehörte zudem Propagandaarbeit. In offenen und verdeckten Aktionen sorgten sie dafür, daß der Widerstandsgeist des Gegners Stück für Stück gebrochen wurde. Sie entwarfen Flugblätter, die hinter den feindlichen Linien abgeworfen wurden. Sie druckten falsche deutsche Zeitungen, und wandten sich in Radiosendungen an die deutsche Bevölkerung. Sie fuhren mit Lautsprecherwägen in die Kampfzone und forderten unter Beschuß die deutschen Soldaten zur Kapitulation auf. Sie waren aber auch bei der Öffnung der Konzentrationslager dabei – und agierten als Experten und Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen.
Als von den Nazis verfolgt- und vertriebenen, kehrten die jungen Exilanten in amerikanischer Uniform als Sieger in ihre Heimat zurück.
Bild – unter Freunden in Potsdam v. l. Prof. eh. Wolfgang Hempel, Guy Stern, Susanna Piontek (Ehefrau), hinter Stern: Romin Koebel (Sohn von tusk).
Foto: Gottschling)
Guy Stern kehrte in die USA zurück, um sein Studium zu beenden, wurde Professor für Deutsche Literatur an der Columbia University und erhielt mehrere hochrangige Auszeichnungen seiner Universitäten und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Heute ist er Professor an der Wayne State University in Detroit. Bei einem Heidelbergaufenthalt hielt er einen Vortrag im Deutsch Amerikanischen Institut (dai) und stand als Zeitzeuge einer 11. Klasse der Internationalen Gesamtschule Heidelberg zur Verfügung.
Christian Bauer, Rebekka Göpfert: Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst
Hoffmann und Campe ISBN 3-455-09498-8, Preis: 19,95 Euro
Konrad Feilchenfeld und Barbara Mahlmann-Bauer, (Hg.): Autobiographische Zeugnisse der Verfolgung – Hommage für Guy Stern SYNCHRON Wissenschaftsverlag der Autoren Heidelberg ISBN-10: 3935025505 243 Seiten, 39,80 EUR.