Ausgerüstet war Mosse dabei mit einer Wärmebildkamera, die nach dem internationalen Waffenrecht ITAR eine Waffe ist, die vor allem dazu dient, Personen und Objekte zu überwachen, aber auch die Treffsicherheit von Raketen zu erhöhen. Der Apparat ist über siebzig Kilo schwer und vermag mit seiner Radiationstechnologie und einem gigantischen Tele-Zoom durch Rauch und Nebel hindurch Fotos auf eine Entfernung von bis zu dreißig Kilometern zu schießen.
Ein Prozess, der schon 2012 mit „The Enclave“ begonnen hat, wo er im Kongo die an Menschen und Landschaft sichtbaren Spuren der kriegerischen Auseinandersetzungen und der von internationalen Konzernen betriebenen Ausbeutung des Landes auf Bildern mit beschädigtem Fotomaterial eingefangen hat, die wie Halluzinationen oder Manifestationen eines Drogenrausch wirken, eine Mischung aus „Apocalypse Now“ und „Naked Lunch“. Das surreale Setting korrespondiert dabei perfekt der hemmungslosen Entfesselung von Begierden, die um Macht und Besitz, Unterwerfung und Tod kreisen.
Mit „The Castle“ liegt nun Mosse‘ zweite Arbeit mit dem vorhandenen Bildmaterial vor. Anders als etwa bei den dicht bevölkerten Gemälden von Brueghel, bei denen sich an winzigen Details noch Individualitäten ausmachen lassen, ist die Wärmekamera eine gnadenlose Gleichmacherin: Ein Flüchtling, der sein Gesicht gegen den Zaun eines Lagers presst, ist weniger ein Mensch als ein Tier, das die Infrarotkamera eines Zoologen eingefangen hat.
Während in „Incoming“ noch auf Einzelheiten gezoomt wurde – Menschen, die in den Camps um Essen und Medizin anstehen; Kinder, die Fußball spielen und sich prügeln; Muslime, die ihre Gebete gen Mekka richten -, verdichtet sich in „The Castle“ alles zu riesigen „Heat Maps“: abstrakte Tafelbilder aus schwarzen und weißen Punkten, Strichen und Flächen, die anonyme, abstrakte Gewebe bilden, in denen das Individuum nur noch eine austauschbare Einheit in einer Datenmenge ist.
Wer nicht die Möglichkeit hat, die riesigen Maps an einer Galeriewand zu sehen, dem bietet das hinsichtlich Druck und Papier in jeder Hinsicht edel gestaltete Buch eine ansprechende Alternative: Doppelseiten lassen sich auf eine Gesamtlänge von gut neunzig Zentimetern auseinanderfalten.
Der in trockenstem Wissenschafts-Englisch verfasste Text von Paul K. Saint-Amour „Mapping Heat in Time“ zeichnet eine Entwicklungslinie von mittelalterlichen Stadtansichten über die im Ersten Weltkrieg von Flugzeugen aus aufgenommenen „Photo-Mosaike“ feindlicher Gebiete bis hin zu Google Earth. Signifikant ist dabei wie so oft der Umstand der Entwicklung ziviler Technik aus der Kriegsführung – die Luftüberwachung und die angewandte Fototechnik fanden später in der Demografie, der Stadtplanung und der Überwachung des öffentlichen Raums Verwendung.
Eine besondere Verwandtschaft gibt es dabei zwischen Google Street View und den „Heat Maps“. In beiden finden sich – der willkürlich eingefrorenen Bewegung und der nachträglich zusammengefügten Ausschnitte geschuldet – Schemen von Personen, die keinen Kopf oder keine Beine haben, in der Körpermitte der Länge nach durchtrennt oder anderweitig verzerrt sind. Saint-Amour nennt das eine durch Technik exekutierte „optische Gewalt“, die die physische und psychische Gewalt, vor der die Flüchtlinge einerseits geflohen sind, und die sie andererseits auf ihrem Weg nach Europa erwartet, sowohl abbildet als auch doppelt.
Aus der totalen Überwachung entwickelt Saint-Amour am Ende den überspannten Begriff des „Staats-Rassismus“, der die individuellen Unterschiede zwischen den Überwachten nivelliert und sie rudimentär in solche einteilt, die des Schutzes wert sind und solche, die es nicht sind. Überspannt deshalb, weil das Attribut „rassistisch“ in aktuellen Debatten bis zur Unkenntlichkeit verwendet wird, und weil man dementsprechend jede auf Umfragen und Näherungswerten basierende Prognostik mit gutem Recht schon „rassistisch“ nennen könnte.
Der zweite Text „Survivability, Vulnerability, Affect“ stammt von Judith Butler. In der Tradition aller längeren Texte von Butler ist er langatmig und bar jeder Eleganz – ob das eine gute Wahl für ein ohnehin schon aufgrund des fotografischen Materials schwer verdauliches Fotobuch ist, sei dahingestellt.
Ihn zu lesen bedeutet auf jeden Fall, zu einem Goldsucher zu werden, der sich mit seinem Sieb an einem Flussbett in der Hoffnung abplagt, dass ein Nugget hängen bleibt. Nuggets gibt es auf den knapp zehn eng gesetzten Seiten durchaus – etwa wenn Butler den grundsätzlich prekären und verletzlichen Zustand des „Ich“ und seine unauflösbare Vernetztheit und wechselseitige Abhängigkeit mit potenziell allen anderen, existierenden „Ichs“ deutlich macht. Aber gleichzeitig schüttelt man den Kopf darüber, wie Butler zuerst skrupulös herausarbeitet, wer unter welchen Umständen überhaupt sinn- und nicht zuletzt verantwortungsvoll „Ich“ oder „Wir“ sagen kann – um auf den nächsten Seiten selbst locker „Wir“ im Sinne von „alle US-AmerikanerInnen“ zu sagen und eigentümliche Nebensätze einzuschieben wie „(…) dass Nationen wie Israel argumentieren, ihr Überleben würde durch Krieg (!) gewährleistet“.
Eine Vorgehensweise, bei der ein cholerisches Naturell wie Wittgenstein wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen und die Hannah Arendt in einem Gespräch mit Günter Gaus zwischen zwei Zigarettenzügen zerpflückt hätte.
Wie auch immer: Wenn man bedenkt, dass die EU der Türkei seit 18. März 2016 jährlich einen Milliardenbetrag für den Schutz ihrer Grenzen bezahlt, sind die geschilderten Verhältnisse schlicht ein ungeheurer Skandal.