Les absents ont toujours tort, und abwesend im materiellen Sinne sind gewiß auch die Toten. Flaubertkonnte sich einst auch nicht dagegen zur Wehr setzen, als ihm 65 Jahre nach seinem Tod Jean-Paul Sartre den Vorwurf machte, nichts gegen die Niederschlagung der Pariser Commune geschrieben zu haben.
Lydie Salvayre läßt in ihrem Buch «Milas Methode» ihren namenlosen Erzähler gegen den großen, lange verstorbenen Philosophen René Descartes antreten.
Mit geradezu Célineschem Furor entrollt dieser Mann eine zornige und nur selten gebremste Philippika, bei der man sich freilich fragt, was um Gottes willen der Mann eigentlich verbrochen hat, dass er über 350 Jahre nach seinem Tod dermaßen zum Objekt des Hasses werden kann. Hat man da womöglich etwas übersehen? Nein, der Erzähler will den Schöpfer des «Discours de la Méthode» einfach Punkt für Punkt widerlegen, so sein Programm, denn dieser habe beim Menschen «die Melancholie verkannt», «seinen Sinn fürs Tragische, seine Grillen, seine Rührseligkeiten» und «aus welchen Abgründen, aus wieviel Tränen er besteht».
Um dies nun konkret zu exemplifizieren, führt der Erzähler seine alte Mutter an, um die er sich, da sie allein, krank und schwach ist, zu kümmern hat. Dieser Pflegedienst ist gewiß schwierig, der Mann ist augenscheinlich genervt, denn das Waschen, Frisieren und Hintern-Abwischen, ganz abgesehen von der reduzierten Dialogfähigkeit der Greisin, setzt ihm zu. Alles an ihr reizt seine Wut. Aber seinen konkreten Haß konzentriert er weniger auf sie als auf Descartes, gegen den er immerfort seinen Monolog richtet. Warum dieser besondere Bezug hergestellt wird, erschließt sich dem Leser zunächst nicht. Dann heißt es: «(. . .) ich will, daß Sie erfahren, Monsieur, woraus manch ein Leben besteht, Sie, der Sie aus nichts als reinen Abstraktionen und hochfliegenden Thesen bestehen.»
Offensichtlich versucht er also, Descartes anhand einer entidealisierten sowie der Pragmatik und Humanität geschuldeten Lebensführung zu widerlegen. So monologisiert er gegen den abwesenden Herrn Descartes, aber es geht – siehe Titel – auch um eine gewisse Mila. Diese Wahrsagerin stellt, mit ihrer eigenen Methode des «frischen, neuen Blicks», der nicht «durch Doktrinen erdrückt, nicht durch Angst oder Vorurteile geblendet» ist, den sehr menschlichen bzw. menschelnden Antipoden zu Descartes dar – worauf sich ihre genuine Leistung im Grunde auch schon erstreckt. Nebenbei verliebt sich der Erzähler und bekennende Porno-DVD-Liebhaber auch noch in diese Mila. Sei’s drum.
Es ließe sich schon einiges zu einem verschnörkelten, teilweise peinlich wirkenden Buch anführen – etwa zu dem Versuch, Descartes anhand Freudscher Nomenklatura zu «analysieren», ihm eine «Zwangsneurose» zu attestieren, ihn als jemanden zu zeigen, der «steckengeblieben» war «im analen Stadium seiner präödipalen Phase» –, das beckmesserische Räsonieren, das hier den Ton führt, wird der Sache jedenfalls in keiner Weise gerecht. Die Empörung des Erzählers erscheint phasenweise nur lächerlich: «Was ich ihm vorwerfe, ist, daß er, indem er aus seinem Zweifel eine Methode machte, ganze Heerscharen von Zauderern hervorgebracht hat, von Wankelmütigen, Defätisten, ewig Mißtrauischen, chronisch Impotenten (. . .), kurz, eine Unzahl von Waschlappen, die geneigt sind, an allem zu zweifeln.» Wollte man tatsächlich noch seriös auf diese Suada reagieren, dürfte der Hinweis genügen, daß die Rezeption Descartes‘ und sein Einfluß auf persönliche Neurosenbildungen hier deutlich zu hoch angenommen sind.
Lydie Salvayre, in ihrem Hauptberuf Kinderpsychologin, kann hierzulande u. a. auf einen gewissen Erfolg mit ihrem Mutter-Tochter-Konfliktsroman «Das Gewicht der Erinnerung» verweisen; schon da schillerte ein sehr ambivalentes Mutterbild durch, das Thema scheint für sie womöglich noch nicht ganz abgehakt zu sein. Daß freilich Descartes für alles herhalten muß und ex negativo zumindest andeutungsweise noch die Katharsis initiiert, ist schon kurios. Jürgen Gottschling
Lydie Salvayre: Milas Methode. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2006. 178 S.
27.März.2007, 22:28
ich schmeiß mich weg vor lachen. Das ist doch krank! Oder war das von ihr ohnehin als Anekdote gemeint? …
Die story des Buches an sich mag ja neu sein, aber ein bisschen anspruchsvoll sollte es doch schon sein, denke ich! Zumindest wenn man Descartes als Hauptthema nimmt.
Mal ganz davon abgesehen, dass die heutige Philosophie neben den antiken Philosophen z. t. auf Descartes Zweifel aufbaut und so viele neue philosophische Richtungen auslöste, glaubt die Frau wirklich, was sie als Erzähler Descartes da vorwirft?
Wie kann man denn generell Skeptiker als Waschlappen bezeichen? Und die naiven Menschen wären ja demnach alle mutig, oder wie?
Meiner meinung nach ist es von der Frau nichts weiter als Wichtigtuerei, und hat nichts mit intensiver philosophischer Analyse zutun!
Gruß, Anna