Die Lage hat viele Verursacher; sind es die Jobverlagerer, die ihre eigene Haut retten wollen, die Regierung, der es an handwerklicher Sorgfalt beim Formulieren der Gesetzestexte gebrach, oder (und) die Krisenverschärfer, in deren Augen Deutschland bereits Schauplatz einer gewaltigen Gerechtigkeitskatastrophe geworden ist, das Opfer der kapitalistischen Entzivilisierung?

 

Angst geht um

Angst hat jedenfalls nicht nur der Arbeiter, nicht nur der Arbeitslose und der Sozialhilfeempfänger, sondern inzwischen auch der Mittelstand, das alte und das neue Bürgertum, der Spezialisierte ebenso wie der Talentierte, von der vorauseilen- den Resignation des Uniabsolventen ganz zu schweigen. Wenn Menschen Angst haben, ist es ganz sinnlos, darüber zu spekulieren, ob ihre Angst berechtigt sei oder nicht. Sie ist eine soziale Tatsache, weswegen die schneidigen Verhaltensappelle der versammelten Deutschlandexperten, »Weg von!«, »Hin zu!«, »Da müssen wir durch!«, auch so hohl klingen.

Rot durch Schwarz mal gelb = ?

Was wollen, was sollen solche Richtungsangaben bedeuten? Es gibt ja gar kein erkennbares Ziel in diesem Umbauprozess. Dass alles wieder so schön sozialwarm wie früher werden würde, mag wohl keiner glauben, auch verspricht niemand – Schröder tat es nicht und Merkel tut es auch nicht – mehr Vollbeschäftigung und Wachstumsraten von fünf, sechs Prozent. Jahrzehnte lang wäre Zeit gewesen, sich über das Zusammenleben in Deutschland zu verständigen, und das meint auch über das Wozu von Veränderungen, sofern sie überhaupt noch politischer Einflußnahme unterliegen: Wovor genau wollen wir uns schützen, welche Einflüsse von außen sind willkommen? Stattdessen ist inzwischen jede Bewegung im Gemeinwesen fragwürdig geworden, ätzender Missmut macht sich breit, flankiert von medialer Übertreibungskunst.

Ökonomie auf Sinnsuche

Der Mauerfall war seinerzeit mit der »Großen Lüge« beantwortet worden, alles könne immer so weitergehen. Schon 1990 war abzusehen, dass die Zeitläufte die gesamte Bundesrepublik zausen würden. Das Einheitsgerede krankte immer an seinem säuerlichen Retro-Ton. Es ventilierte nur Konzepte, die von Demographie und gesellschaftlicher Wirklichkeit längst überholt waren: Nation, mal mit mehr, mal mit weniger Leitkultur, Sozialismus, mal mehr, mal weniger renoviert, Ordoliberalismus für alle, wenn nötig auch ohne Unternehmer und Beitragszahler.
Henry Kissinger hat einmal die alte Bundesrepublik »eine Ökonomie auf der Suche nach einem Sinn« genannt. Man könnte rückschauend die DDR als einen Sinn auf der Suche nach einer Ökonomie bezeichnen. Vielleicht muss man diese Epoche des Herumsuchens in Erinnerung rufen, um sich die Schwierigkeiten heute vor Augen zu führen. Mit der Einheit nämlich wurde jedenfalls nichts »gefunden«. Und ebenso wenig kann man die Frage nach dem inneren Zusammenhalt einer Nation durch einen Verweis auf normalisierte Außenbeziehungen beantworten. Der postklassische Nationalstaat, der einen Teil seiner Souveränität aus freien Stücken Bündnissen und Organisationen überträgt, hegt kein ewiges Deutschtum, eines, an dem auch noch eine politische Idee klebte, die immer schon alle geteilt hätten. Auf einfache nationale Interessen können sich die Deutschen nicht berufen, wie sie sich bei den Nachbarn so bequem aus glorifizierenden Selbstbildern, Verdrängungen oder Lebenslügen speisen. Und auch die anderen müssen schließlich die Fliehkräfte in ihren Gesellschaften zähmen.

Normative Leitlinien

Nach Jahrzehnten deutscher Uneinheit und wenige Monate vor der Bundestagswahl zeichnet sich ab, dass Gemeinsamkeit nicht der feste Grund ist, sondern etwas zu Erfindendes – in der Debatte, nach welchem Grundgesetz-Paragraphen die neuen Länder beitreten konnten, war das schon einmal angeklungen. Inzwischen läßt sich unter den Verängstigten kaum noch Übereinstimmung finden, welche normativen Leitlinien für das gesellschaftliche Zusammenleben unstrittig sein sollen – im Rahmen von Freiheitlichkeit, Rechtstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie, die in Deutschland nun wirklich nicht strittig sind, auch wenn einige nach jeder Landtagswahl gleich wieder Weimar an die Wand malen. Die Virtuosen des Status quo kabbeln sich mit pragmatischen Utopisten, die Apokalyptiker mit den neuen Fortschrittsfanatikern. Nostalgie prallt auf obrigkeitlich verordnete gute Laune. Realistische Alternativen kristallisieren sich dabei vorläufig und auch für die Zeit nach der Wahl – egal, welches Bündnis diesen steinigen Weg gehen zu müssen von den Wählern in die Verwantwortung genommen geworden sein wird – nicht heraus.
Nicht einmal Unzufriedenheit kann mehr überzeugend zum Ausdruck gebracht werden.
Im Lichte welcher „Alternative“ sollte sie auch strahlen? In der „für Deutschland“ ganz gewiß nicht!

Krise, die …

Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft steckt einerseits in der Krise, sie ist in ihrem Innersten widersprüchlich, also entzweit, zerrissen, mit sich uneins; zum anderen birgt ihr Uneins-mit-sich-selbst-sein ein Moment der Distanznahme, einen Abstand von sich, in dem sie über sich zu reflektieren und sich selbst zu kritisieren vermag und also zum Bewusstsein ihrer selbst kommt.
Krise und Kritik, daraus besteht unsere tragische Verfassung: Wir nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse als unvollkommen wahr in Hinblick auf ein ihnen innewohnendes Versprechen, dass da nämlich ein zu sich selbst gekommenes und insofern absolutes Wissen alles Unvollkommene in sich aufgenommen und in einen Zustand allumfassender Versöhnung überführt haben wird. Nun weiß man allerdings nicht erst seit Hegel, sondern bereits seit der Antike, dass ein solcher Erkenntnisprozeß nur dann tragisch heißen darf und dass Selbsterkenntnis entsprechend nur dann tief sein kann, wenn es Opfer gibt: Wahrheit muß das Leben kosten oder-zumindest- ziemlich weh tun. Wer aber soll sich opfern? Wer auch immer das sind, die opfern wen oder was auch immer. Sich selbst jedenfalls nicht:

Über die morbide Kraft des Populismus

In Deutschland kehrt die soziale Frage zurück. Arbeitslosigkeit, Rentenkürzungen und Gefühle von Deklassierung verändern das Klima. Es scheint nur logisch, dass dies der Linken Auftrieb gibt. Nicht der Linken schlechthin, zu welcher sich auch Sozialdemokraten und Grüne als liberale Spielarten nach wie vor rechnen, sondern der orthodoxen, der egalitaristischen Linken – jener, die Ernst Nolte die «ewige» genannt und deren Geschichte auf die Jakobiner zurückgeführt ist. Ihr Antrieb ist die Empörung über soziale Ungerechtigkeit, ihr Ideal eine harmonisch integrierte Gesellschaft aus Gleichen, und ihr Heil sucht sie im Dirigismus: Der Staat hat für die Aufhebung spannungsreicher Unterschiede zu sorgen.

Renaissance des Sozialismus?

Das Projekt hat keinen guten Leumund mehr. Zeitweilig schien es, als sei der autoritäre sozialistische Dirigismus zu sehr diskreditiert, als dass er sich je wieder breiterer Anhängerschaft erfreuen könnte. Nach 1989 stand die Linke als ganze, wie unberechtigt auch immer, in kollektiver Haftung für die Übel des endlich zusammengebrochenen Staatssozialismus. Revisionismus war Pflicht. An Tagungen und in Artikelserien fragte man nach linker Identität und den noch tauglichen Beständen: «Whatʻs left?» Jahrzehnte sind seit dieser Selbstprüfung vergangen. Oskar Lafontaine, damals noch ein Spitzenfunktionär der SPD, proklamierte als solcher eine Reformpolitik ohne Dogmen. Er forderte damals einen modernen, nicht allein auf den Erwerb fixierten Begriff von Arbeit, eine ökologische Marktwirtschaft und einen neuen Internationalismus, dessen kategorischer Imperativ lautete: «für das eigene Land keine Maßnahme zu beschließen und keine Forderung zu erheben, die nicht auch für fünf Milliarden Menschen hätte möglich sein können». Diese Linke war selbstreflexiv, libertär, offen für Zuwanderung und lebte im Wohlstand angenehm.
Jedenfalls im Westen.

In den neuen Bundesländern trat die PDS und später „Die Linke“ das Erbe der dirigistischen Linken an. Versuche, auf dem Terrain der alten Bundesrepublik Fuß zu fassen, scheiterten. Langfristig sah es ganz so aus, als sollten die als postkommunistische Schmuddelkinder Attackierten auf den Status einer Regionalpartei herabsinken. Und nun dieser überraschende Auftrieb: Gelingt der Linken jetzt doch noch die Expansion? Wider die Enkel von 1933 wäre das jedenfalls – trotz alledem und alledem – zu hoffen!

Dabei ist unklar, was ein etwaiger Wahlerfolg dieses jüngsten Zweigs vom Stamm der «ewigen Linken» für die Lage des politischen Bewusstseins beweisen würde. Mglich, dass der Postsozialismus sein Stigma in dem Maße verliert, wie die wirtschaftlichen Nöte wachsen. Noch mußte das deutsche Gemeinwesen die Probe, sich seine liberale Ordnung eine tiefgreifende und lang anhaltende Depression hindurch zu bewahren, nicht wirklich bestehen. An den von Magdeburg ausgehenden – das waren Zeiten – Montagsdemonstrationen gegen «Hartz IV», den Umbau des Wohlfahrtsstaates, war eine Stimmung fühlbar, die verriet, dass viele nichts gegen einen verschärften programmatischen Egalitarismus einzuwenden hätten.

Mehr Keynes als Marx

Im Wahlprogramm der deutschen Linkspartei kommt der Sozialismus gleichwohl nicht vor. Nicht einmal als «demokratischer» wird er beschworen. Genau genommen sucht man alle typischen Vokabeln aus dem alten Arsenal klassenkämpferischer Rhetorik vergebens: Kein Wort von Ausbeutung und Entfremdung, es fehlen «der Arbeiter» und «die Reichen», von «Klassen» ist nur im Blick auf die Schulpolitik die Rede, und auch der Kapitalismus wird nicht erwähnt, mithin die Systemfrage nicht gestellt, sondern nur die «Übermacht des Kapitals» beklagt.
Vielleicht wurde mit Rücksicht auf (ja, bitte aufwen oder was denn – Kreide gefressen, denn deren Milieu, das vom linken Gewerkschafter bis zum bürgerlichen kleinen Selbständigen reicht, deckt sich keineswegs mit jenem Marx, den wir kennen. Vielleicht aber haben sich die Chancen für eine Renaissance orthodoxer Positionen in Wahrheit um keinen Deut verbessert, und für das Selbstverständnis der Linken gilt unverändert: «Die Idee des Sozialismus kann nur in der schwachen Restfassung eines normativen Ideals und einer Regulierungsidee überleben.» Stärkeren Tobak lässt sich auch im Wahlprogramm der Linkspartei kaum finden.
Das Ideal ist breite öffentliche Daseinsvorsorge in erklärter Opposition wider das «große Kartell der sozialen Kälte», und regulieren will man mit «gerechten Steuern» und einer Erhöhung der Kaufkraft.

Populismus als Stachel

Den etablierten Parteien, die mittlerweile sämtlich in der bürgerlichen Mitte zu fischen versuchen, fällt der Hohn über den Gegner am Rand umso leichter, als die Linkspartei die individuelle Eigenverantwortung klein schreibt. Deren Vorstellung, man müsse nur die Besserverdienenden schröpfen, dann wäre der Sozialstaat finanzierbar, hat wahrlich etwas Mumienhaftes, und sowohl die in die Jahre gekommenen Spitzenkandidaten wie die Wählerklientel verstärken den Eindruck, das Ganze sei „Retro für Rentner“.
Aber der Hohn der Etablierten ist doch auch allzu hochfahrend. Der Links – und nicht nur dieser – Populismus konfrontiert sie mit einem Erklärungsproblem.
Wie soll man sich dazu stellen, wenn es in den Nachrichten heißt, die deutsche Arbeitslosigkeit gerade mal wieder gestiegen, auch fehlten mehr Lehrstellen für Jugendliche als im Vorjahr, wenn zugleich ein Rekordhoch deutscher Aktien gemeldet wird? Ökonomisch kann man das sicher befriedigend erklären. Moralisch aber bleibt ein Stachel. Solange er Menschen zu Wut reizt, wird die «ewige Linke» nicht verschwinden. Seitdem sind die Probleme der Welt und die Ansätze zu ihrer Lösung nicht wirklich unkomplizierter geworden; der Modus der öffentlichen Duelle aber schon.

Sep. 2018 | Allgemein, Essay, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren