nebenstrich.jpg Neue Unterschichten, Prekariat, Verwahrlosung – die Debatte war zuletzt von starken Begriffen geprägt. Sie bringt offensichtlich eine veränderte soziale Wahrnehmung zum Ausdruck. „Neben-Geschäfte“ im ganz gewöhnlichen Alltag –  wer hätte das nicht auch schon mal erlebt?

Das haben Sie so oder ähnlich bestimmt auch schon erlebt: Sie gehen zur Post, sagen wir: wegen einer Büchersendung. Da werden Sie zunächst angeranzt, weil der Umschlag verschlossen aussieht, was er nicht sein darf und auch nicht ist. Dann verlangen Sie vier 55-er-Marken, die es aber nur im Zehnerpack gibt oder draußen zum Selberziehen oder ganz hinten an Schalter neun. Und auf eine Preisnachfrage hin wird Ihnen bloß stumm die Liste zugeschoben. Wenn aber Ihr Blick nur eine Sekunde länger als nötig auf dem Informationsaufsteller des von der Post angepriesenen Stromanbieters verweilt, lehnt sich der (oder die) Angestellte sofort gemütlich nach vorne und hätte alle Zeit der Welt für ein Beratungsgespräch.

nebengeschafte.jpg Ob es sich hier links im Bild um einen dudelsackblasenden Tupperware-Verkäufer handelt, läßt sich schwer ausmachen. Max und Moritz jedenfalls haben sichtlich Vergnügen …
Scherz beiseite, das Beigeschäft. Ist ja nichts Neues. Kaum noch ein Einzelhandel zu finden, in dem man keine Hermes-Pakete abgeben, ebay-Auktionen beauftragen oder Aloe Vera-Produkte oder Briefmarken erwerben kann. Erzieherinnen vertreiben nebenbei Tupperware, Mütter in der Erziehungszeit versuchen ihre sekundären Talente (Nähen, Filzen, Tortenbacken) zum Label aufzupusten und so weiter.
Auch der Arztbesuch ist der reinste Spießrutenlauf für jene, die weder privat- noch zusatzversichert sind. Früher bekam man ab und zu den Zahnstein entfernt. Heute wird eine professionelle Zahnreinigung für 60 bis 90 Euro die Stunde angesetzt. Bei der Krebsvorsorge läßt die Frauenärztin keinen Zweifel, daß der kassenfinanzierte Test nichts taugt und der verbesserte 50 Euro kostet, der Mann kriegts beim Hauarzt billiger: Prostata-Untersuchung- die Kasse zahlt das (natürlich) auch nicht, ist für 15 Euro zu haben. Und wer so unachtsam ist, auch nach der Gesundheitsreform noch eine Brille zu brauchen, kann zur Strafe alles selbst bezahlen.

Natürlich läßt man dann auch die Werte gleich beim Optiker bestimmen. Weswegen die Augenärzte im Zugzwang sind und versuchen, sich als Dienstleistende neu zu erfinden. Augenlasern und so weiter. Aber auch Kleinvieh macht Mist. Und spricht man wegen einer Bindehautentzündung vor, so dauert es unter Umständen nur wenige Minuten, bis man trockener Augen verdächtigt wird, „das ist heutzutage eine Volkskrankheit in den Städten“. Die freundliche Ärztin im fortgeschrittenen Alter rät dringend zu Befeuchtungstropfen. „Sie können die vorne bei der Helferin bekommen. Wir sind ein Institut und dürfen das Mittel abgeben.“ Wobei sie das Wort „Institut“ so eindringlich ausspricht, als könne sie den Umstand, das ärztliche Beratungsgespräch zu einem Verkaufsgespräch gemacht zu haben, damit rechtfertigen. Was sie nicht kann. „Institut“ ist kein geschützter Begriff.

Gerne hätte man Ja gesagt und den Bemühungen der Ärztin – womöglich zum eigenen Wohle – einen passenden Rahmen gegeben. Aber auch bei entsprechender Liquidität wäre zuvor die Frage zu klären gewesen, ob einem denn die zehn Euro Praxisgebühr auf den Produktpreis angerechnet würden. Oder finanziert man mit diesem vierteljährlichen Obolus sowieso längst nur noch die Vorstellung eines staatlichen Versorgungssystems? Dann wäre die gute Nachricht, daß darauf zumindest keine Vergnügungssteuer erhoben wird. tno

Jan. 2007 | Allgemein | Kommentieren