Sprache – wir befinden uns derzeit in einem kulturellen Sinkflug, den heiklen Begriff Stil gilt es eher zu vermeiden – wird zerhackt.

Keineswegs tut dasnur der immerzu böse Computer, wie die gängige Ausrede lautet. Anderswo, aber beispielsweise auch hierzulande, wird unter dem Motto „Könnten Sie den Namen Goethe buchstabieren?“ der Niedergang des bürgerlichen Feuilletons beklagt.

Und wenn der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi jüngst den „kulturellen Verfall“ ausdrücklich mit dem Hinweis auf das „Vulgärerwerden“ durch Sprache erklärte, ist ihm wahrlich beizupflichten. Dieses Hopp-Hopp wird allzu leicht zum Hepp-Hepp; egal, ob die Fakten stimmen. Die Werbung für einen Film über Leo Tolstoi verkündet: „Ein Film über das Leben des großen russischen Schauspielers“.

Ein anderes, geradezu preiswürdiges Beispiel für diese Melange aus Unsinn und Unbildung führt uns in einer großen deutschen Tageszeitung ein Mitarbeiter  (am 8. August 2010) vor – noch dazu unter der Überschrift „Dumm zu sein bedarf es wenig“. Da wird uns der Weggang von Marlene Dietrich als Endpunkt des deutschen Kabaretts präsentiert – nur, dass Marlene nie je mit Kabarett etwas zu tun hatte; schlimmer noch, der Autor will wissen, dass „Marlene Dietrich vor den Nazis ins Exil floh“. Was er offenbar nicht weiß: Marlene Dietrich unterschrieb am 13. Februar 1930 einen Vertrag mit der Paramount in Hollywood und verließ Deutschland noch vor der Weltpremiere des „Blauen Engel“ auf einem eleganten Ozeanriesen im Blitzlichtgewitter der Fotografen, in viele Mikrofone Interviews gebend, und reiste in die USA. Genau so vage bis ungenau bezieht sich besagter Mitarbeiter auf einen Text von Kurt Tucholsky, von dem er schreibt, er sei „ersichtlich für das Publikum einer Kleinkunstbühne in den frühen Dreißigern verfasst“. Das ist ein apartes „ersichtlich“ – nachgeprüft hat der Autor nicht, dass dieser Text in der „Weltbühne“ vom 3. Mai 1932 erschien, und nachgedacht hat er auch nicht, ob Tucholsky denn je für „Kleinkunstbühnen“ geschrieben hat (was er nicht tat). Übertroffen wird dieser Unfug allenfalls durch das jüngste Gelärme über das Gör Hegemann, dessen Zusammenkliererei allen Ernstes zu umfangreichen Feuilleton-Nachdenklichkeiten führte, dass ja auch Brecht oder Thomas Mann… Der schöne alte Spruch „Quod licet Jovi, non licet Bovi“: vergessen. Vergessen in der Eile ebenfalls, dass der als Plagiat-Künstler herbeigerufene Celan eben NICHT plagiiert hatte (was durch viele Prozess-Instanzen hindurch bewiesen wurde).

Die E-Mail- und Notebook-Rapidität löst Sprache auf, und das Denken ist Opfer der Löschtaste. So wird – rasch, rasch – Hubert Fichte gleich in Überschrift wie Unterzeile eines Gedenk-Artikels zum 75. Geburtstag als „Achtzigjähriger“ gefeiert. Auf eine darob verärgerte E-Mail eines Lesers antwortete das Feuilleton wie folgt: „Wir bekamen sehr viele Briefe von Lesern, die sich darüber beschwerten. […] Die Fehler sind nicht zuletzt auch ständigen Stellenstreichungen geschuldet, die leider zur Folge haben, dass auf die nötige Sorgfalt beim Redigieren nicht mehr so geachtet werden kann, wie das noch vor ein paar Jahren möglich war. Durch die aktuellen personellen Kürzungen der letzten Wochen und Monate wird es wohl leider nicht viel besser werden.“

Sogar im Kultur-TV-Kanal 3sat wird Simone Veil als „erste Frau“ in der Académie Française gepriesen – so, als habe Marguerite Yourcenar nie gelebt. Und wozu sollen die Übersetzer des Papst-Hirtenbriefes noch lange darüber nachdenken, dass Benedikt XVI. den Missbrauch von Kindern nicht „aufrecht“ bedauert haben wird, sondern eher „aufrichtig“? Beifällig möchte man des nüchternen Schweiz-Reporters Jürg Altwegg Schauder zitieren angesichts des „außer Rand und Band geratenen deutschen Kulturbetriebs, der alle paar Wochen eine bunte Sau durchs Dorf treibt“.

Wie aber soll – bleiben wir beim Rezipieren von Literatur – ein Sprachkunstwerk, Roman, Gedicht, Essay, Drama, auch nur beurteilt werden, wenn das Instrument dazu nicht mehr funktioniert? Dem Chirurgen würde man es sagen wir: verübeln, benutzte er eine schartige Säge. Da das gängige Ansinnen einer Redaktion aber lautet „Heute ist Dienstag, können Sie bis Donnerstag…“ (im Glücksfall: bis Montag) ein 1000-Seiten-Buch auf 200 Zeilen rezensieren – ist Behutsamkeit, Nachdenken, Muße schon bei diesem Begehr ausgefiltert und ein sorgfältiges Lesen des Werkes von vornherein unmöglich gemacht; sofern das Buch oder die Fahnen überhaupt schon vorliegen … Ein befreundeter Theaterkritiker erzählt mir glaubwürdig, wie ein junger Kollege zu ihm kommt, er habe in seinem „Blog“ etwas über ein Stück gelesen und darüber wolle er „gleich etwas schreiben“. Die Frage, ob er denn das Stück gelesen oder gesehen habe, rief ungläubige Verwunderung ob dieser Altmännerattitüde des Kritikers hervor.

Der Sinkflug der Kultur des Geistes ergreift inzwischen auch die Kultur des „Umgangs mit Menschen“, wovon auch die Journalisten nicht ausgenommen sind. Da ich hier Situationen nachzeichne aus einem Boot, in dem ich selber mitrudere, gehört es sich, etwas konkreter zu referieren. Zu mir reist an der Chef einer renommierten Kulturzeitschrift; er unterbreitet mir Vorschläge und Vorhaben für die kommenden zwölf Monate – so viele, dass ich ihn schon bremse; er bekommt hinterher einen Brief von mir mit einer Bestätigung unserer Vereinbarung und einigen festen Zusagen; nun war er an der Reihe mit Terminvorschlägen; ich habe von dem Mann nie wieder etwas gehört.

An mich wendet sich ein Funkhaus mit der Bitte um ein „ausführliches, langes Interview“; es erscheint ein freundlicher junger Mann; ich frage ihn, ob er mit meiner Arbeit vertraut ist, etwas von mir gelesen hat; „Nein“, lautet die erschrockene Antwort, „aber ich habe hier ein paar Fotokopien von Archivunterlagen über Sie“; Unverständnis über mein noch immer höfliches, aber kurzes „Damit ist unser Gespräch beendet“. Die vergnüglichere Variante ist leider selten: Eine reizvolle junge Dame erscheint zum Interview in meinem Amsterdamer Hotel; ihre Unterlagen hat sie vergessen; das Tonband funktioniert nicht; „dann machen wir eben was anderes“, meinte sie keck.

Nun muss ich in meinem Alter nicht mehr Karriere machen, ich kann mir leisten, ob solcher Pars pro toto erzählten Begebenheiten zu lachen; wenn auch nicht, frei nach Tucholsky, „ohne Bitter“. Indes frage ich mich, wie sich der Sinkflug auch der Arbeitsmoral in einigen Jahren auf die ohnehin immer eingeschränkteren Möglichkeiten der journalistischen Arbeit auswirken wird. Was aber, wenn derlei einem jungen Kritiker widerfährt, einem, der sich noch einen Zukunftshorizont ausgemalt hat? Einem vielleicht, der Kunst und Literatur zu seinem Lebensinhalt gemacht hat, der noch weitermachen will?

Es geht weniger um ein „Sire, geben Sie Zeilenfreiheit“ für den Kritiker, als vielmehr um die Würde des Objekts, des Kunstwerks. Sein innerer Kern wird verletzt, wenn der Resonanzboden zerstört wird. Kann ein Kulturjournalist sich nicht mehr die Zeit nehmen, um sich der heiteren Spannung vor einem Bild von Velázquez oder Vermeer hinzugeben, die es ihm auferlegt; kann jemand nicht mehr dieser rätselhaft ziehenden Melancholie beim Anhören von Mischa Maiskys Spiel des Bachschen „Ave Maria“ (wenn auch in der leicht kitschbepuderten Fassung von Gounod) nachsinnen; kann er nicht langsam versinken im Unauflöslichen von Rilkes Grabspruch: Wie soll er dann Kunde geben von den Wundern der Kunst? Das jedoch ist die Aufgabe des Kritikers.

Wer den Mittler roh behandelt, verweigert damit dem Produzenten pflegliche Sorgfalt. Beiden wird die Lust am Spiel – Grundlage aller Kunst – geraubt; und die Freude. Denn es muss Freude machen, wenn ich Stefan George noch einmal lese, das Gundolf-Buch, bevor ich eine George-Biografie rezensiere; es muss Freude machen, zumindest in Frank Wedekinds Tagebüchern zu schmökern, bevor ich mich an die Arbeit über Anatol Regniers Wedekind-Biografie setze.

„Etwas geht zu Ende“, summierte kürzlich der Schriftsteller Thomas Hettche seine Überlegungen darüber, dass die Erwartungen der Literaturkritik „sich vom Werk abwenden“. Meine Klage betrifft den unguten Umstand, dass das jeweilige Kunstwerk nach dem ihm innewohnenden Gesetz nicht befragt werden kann, lässt man dem Befrager – vulgo: Kritiker – nicht Raum noch Zeit für freies Ausschwingen eigener Fantasie.

„Bitte nicht mehr als 8000 Zeichen incl. Leer…“ (ein „Zeichen“ ist auch der Abstand hinter dem Komma) – und wer so großräumig nicht denken mag? Schnell schnell, kurz kurz – das ist wohl eine gute Anweisung für Flachbildschirmgehirne wie Harald Schmidt. Für Walter Benjamin wäre sie es nicht gewesen. Um einmal jemanden zu zitieren, der gleichsam am anderen Schreibtisch sitzt, den Verleger Egon Ammann mit seinem Abschied von der Buchmesse 2009: „Eine vornehm zurückhaltende Diplomatie hat Einzug gehalten, ganz mit der Gegenwart beschäftigt. Die leidenschaftlichen Debatten um politisches Engagement wie um literarische Formen fehlen; auf dem Feld der Literatur fehlt auffallend das historische Gedächtnis.“ Traurig fügte er hinzu: „Es ist besser zu verschwinden als zu verwässern.“ In einem Intellektual-ICE ist dies verlorengegangene Gedächtnis nicht einzuholen.

Coda

Leisten wir uns ergo zum guten bösen Ende ein paar Zeilen Gedächtnis. 1789 erschien Schillers Aufsatz „Über Bürgers Gedichte“, in der Werkausgabe wohlweislich rubriziert unter „Rezensionen“. Hélas. Es ist ganz außerordentlich, wie Schiller zuerst einmal die eigenen Kriterien darlegt. Das hatte er auch in jener „Egmont“-Besprechung getan, den wichtigen Unterschied zwischen historischer Wahrheit und literarischer Authentizität ausführlich analysiert, jene Differenz, die er von Goethe „zerstört“ sah, um mit dem berühmt gewordenen Satz zu enden: „Rezensent gesteht, dass er gern einen witzigen Einfall entbehrt hätte, um eine Empfindung ungestört zu genießen.“ Empfindung darf man wohl als das Plausible übersetzen. Schillers Einwand gegen Bürgers Gedichte – der Autor war tief gekränkt – ist nicht obenhin. Der Rezensent entwickelt eine eigene poetische Theorie. Die nun ist hochaktuell. Er erläutert nämlich, wann und wie die Integrität – „die höhere Schönheit“ – eines literarischen Werks sich an die „Popularität“ verrät; seine Interpretation läuft darauf hinaus, dass das Schielen auf Erfolg nicht nur ein ästhetisches Vergehen, sondern auch eine charakterliche Schwäche ist: „Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein andrer sein, als dass es der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst zu verstecken suchen.“

Nun ließen sich darüber treffliche Disputationen führen. Diese Gleichsetzung von Moral und Ästhetik hat zumindest das 20. Jahrhundert ziemlich ins Wanken gebracht; Namen wie Pound oder Céline, Brecht oder Benn stünden als Gegenbeispiele parat. Kategorien der Kunst unterliegen dem Wandel. Wie die Urteile über ein Werk. Heinrich Heine schrieb nicht wie Gottfried von Straßburg, Matisse malte nicht wie Dürer, Mozart komponierte keine Gregorianik. Eben diese Unterschiede – das Gedächtnis! – hat der Kritiker zu bedenken, er, der ja Echo des einen großen Gesangs ist – oder zu sein habe – zu dem die Weltkultur sich fügt. Aber eben dazu soll man ihm Muße und Pfleglichkeit angedeihen lassen, vielleicht gar – pardon für (sollte dies denn eine solche sein) die Übertreibung – ein wenig Respekt.

Okt. 2010 | Essay, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren