Gefeiert als Powerfrau, kritisiert als Lustobjekt – keine andere Video- spielfigur hat so viele Kontroversen ausgelöst wie die legendäre Heldin von «Tomb Raider».
Sie war ein Er. Im Zeitalter von chirurgischen Geschlechtsumwandlungen eigentlich keine Sensation, doch wenn über 60 Prozent von Deutschlands männlicher Bevölkerung gemäß einer repräsentativen Umfrage des Gewis-Instituts die Sie für attraktiver befindet als Supermodel Heidi Klum, dann läßt das aufhorchen. Die Rede ist von Lara Croft, der berühmtesten Heldin der Computerspielgeschichte. Vor 10 Jahren erblickte Lara Croft das Licht ihrer virtuellen Welt.
«Auf den ersten Zeichnungen hatte ich tatsächlich einen Mann, aber das änderte sich sehr schnell», erinnert sich ein etwas blasser Toby Gard, der Lara Croft erfunden hat. Grund für den radikalen Schritt war ein rechtlicher, denn ursprünglich trug der «Tomb Raider» des Game- Studios Core einen Schlapphut und eine Peitsche ganz wie Indiana Jones. Die Angst, von Seiten Hollywoods mit Klagen eingedeckt zu werden, war so groß wie berechtigt, und so machte sich Gard an neue Entwürfe.
Als Inspirationsquelle dienten dem zurückhaltenden Briten die aufmüpfige Comic-Heldin Tank Girl, Sängerin Neneh Cherry und eine angeborene Trotzhaltung: «Wann immer Leute auf mich zukamen und sagten: ‹Du mußt dies und jenes machen, um ein erfolgreiches Spiel zu kreieren›, machte ich das Gegenteil.» Die Videospielfigur wurde mit zwei Pistolen ausgestattet und mit einer eigenen Biografie, gemäss der sie als Tochter von Lord Richard Croft und Gemahlin Amelia 1968 in Wimbledon geboren wurde. Die 1,80 Meter grosse, fast 60 Kilogramm schwere Gräfin von Abbingdon besuchte nach Privatunterricht eine weiterführende Schule in Schottland und – hört, hört – schloß mit 21 Jahren ihre Ausbildung an einer Schweizer Schule ab. Zu ihren Hobbys gehören deshalb auch Free Climbing und Extrem-Skifahren. Die Lieblingsfilme der Motorradfahrerin sind «Aguirre – der Zorn Gottes» und der Hillbillythriller «Deliverance».
Aber auch eine wohlbehütete Jugend konnte etwas nicht verhindern: daß Lara fremdging. Toby Gard glitt seine Schöpfung aus der Hand und entwickelte eine Eigendynamik, die vom Videospielvertrieb Eidos schamlos ausgeschlachtet wurde. Lara Croft wurde zur Cybersexbombe emporstilisiert. Gard packte seine Sachen: «Ich war nicht einverstanden damit, daß Lara als Sexobjekt vermarktet wurde. Lara Croft sah einfach gut aus und verfügte zu Beginn über Würde. Dadurch unterscheidet sie sich von Frauenfiguren aus anderen Videospielen.»
Ware Lara
Mit der britischen Grabräuberin erfaßte eine Welle der Erotisierung die junge Videospielbranche. Bis anhin dominierten männliche Figuren das Geschehen oder harmlose Gestalten wie Ms. Pac-Man, deren Geschlechterzugehörigkeit sich auf ein rotes Täschchen beschränkte. Die offensichtlichen Attribute von Lara Croft – Atombusen, Wespentaille, lange Beine – waren zu Beginn noch eine Folge der vergleichsweise kruden Bildauflösung, setzen aber noch im High-Definition-Zeitalter den Maßstab für das Design von Frauenfiguren in Computerspielen. Auf die Kritik von feministischer Seite folgte die Kritik der Kritik: «Laßt Laras Brüste nicht den Weg zu einem tollen Abenteuerspiel versperren», verkündete Nikki Douglas, Gründerin der Frauengamer-Website Grrlgamer.com bereits nach dem Erscheinen des ersten «Tomb Raider»-Titels 1996. «Kanalisiert euren feministischen Zorn durch Lara und springt über schwindelerregende Klippen und rennt Wölfe erschießend durch Höhlen. Schlüpft in Laras Haut und fühlt euch für einen Moment wie eine wunderschöne englische Abenteurerin.»
Die Aufforderung von Nikki Douglas haben viele Fans in den letzten Jahren fast wörtlich genommen. Als Body-Doubles posieren sie in typischer Croft-Montur – eng anliegendes Top, knappe Shorts und Schnürstiefel – vor der Kamera, stellen die Bilder ins Internet oder nehmen an eigenen Wettbewerben teil. Von der immensen Popularität profitieren natürlich auch Profis wie Rhona Mitra, welche das virtuelle Überweib 1997 erstmals verkörperte. Um den hohen Anforderungen gerecht zu werden, ließ die 1976 geborene britische Schauspielerin ihren ursprünglichen Brustumfang von 34A auf wuchtige 34DD hochrüsten – jenseits der digitalen Vorgabe von 36D. Popbands wie U2 und «Die Ärzte» luden den Cyberstar zu Auftritten in ihren Konzerten und Musikvideo-Clips ein. Gucci und andere Mode- Designer entwarfen für die üppigen Rundungen der ambitiösen Archäologin fließende Roben.
Jedem seine Lara
Lange konnte ein solches Phänomen den Filmemachern Hollywoods nicht verborgen bleiben. Mit gebührender Verspätung machten sie sich auf die Suche nach ihrer Lara Croft. Während Monaten grummelte es wie bei einer James-Bond-Neuwahl in der Gerüchteküche; Namen wie Demi Moore wurden als mögliche Kandidatinnen genannt. Schließlich fiel die Wahl auf Angelina Jolie. Die frisch ausgezeichnete Oscargewinnerin («Girl, Interrupted», 1999), damals noch nicht wirklich auf dem Promi-Radar sichtbar, genoß einen Ruf als Messerfetischistin und Femme fatale. Allerdings fehlte es an der Oberweite. Dem Problem rückte Jolie für die bisher erfolgreichste Videospielverfilmung «Lara Croft: Tomb Raider» (2001, weltweites Einspielergebnis: 225 Millionen Dollar) nicht mit Silikon, sondern mit einem gepolsterten BH zu Leibe.
Das Phänomen Croft beschäftigt auch die Wissenschaft. Führend in diesem Gebiet ist Birgit Richard, Professorin für Neue Medien an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Autorin von «Sheroes – Genderspiele im virtuellen Raum». Gefragt nach der Attraktivität der Spielfigur Lara Croft, wartet die Wissenschafterin nicht mit der geläufigen Gängelband-Theorie auf, die besagt, daß weibliche Videospielfiguren der Kontrolle des (männlichen) Gamers ausgeliefert seien. Vielmehr deutet sie das Faszinosum Croft als Möglichkeit einer Geschlechtsumwandlung auf Probe. «Nebst der Kontrolle bieten Games auch noch die Möglichkeit, mit dem anderen Geschlecht zu experimentieren und andere Körperformen auszuprobieren.»
Für Designer Toby Gard bedeutete das 10- Jahr-Jubiläum auch eine Rückkehr zu den Wurzeln, hatte er doch seit seinem Exodus beim Studio Core Lara den Rücken zugekehrt. Für ihr vorerst letztes Abenteuer, «Lara Croft Tomb Raider: Legend» – ein Jubiläumsspiel ist angekündigt -, hat er die virtuelle Schöne seinen Vorstellungen entsprechend gestrafft (Körbchengrösse C) und noch athletischer gestaltet: «Es gibt einen klaren Unterschied zwischen sexy und billig.»