Also gegen so einiges, was Israels Ministerpräsident tut oder was er nicht tut „etwas zu haben“, das macht er einem nicht gerade sonderlich schwer. Ein Kommentar in der SZ nämlich zeigt, dass man sich hierzulande noch immer schwer tut, zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus zu unterscheiden. Kaum spitzt sich die Lage in Israel und Palästina wieder einmal zu, geht es auch schon wieder los mit der beinahe atemlosen „Schnappatmung“. Und mit ihr, direkt „aus der Mitte der Gesellschaft“: mit dem als „Israelkritik“ getarnten Antisemitismus.
In der „Süddeutschen Zeitung“ echauffiert sich Moritz Baumstieger über Benjamin Netanjahus zwischenzeitliche Ankündigung, Flüchtlinge vor allem nach Deutschland, Italien und Kanada schicken zu wollen. Natürlich nicht unbedingt über die Ankündigung des UN-Deals an sich, dessen Annulierung am Dienstag wieder für Empörung sorgt, sondern vor allem über sein Timing, mit dieser Ankündigung von dem Tod von 18 Palästinensern im Gaza-Streifen ablenken zu wollen.
Zwar – so weit, so legitim – aber wie tut Baumstieger das? Er tut es, indem er antisemitische Klischees bedient. Im Nebensatz ist die Rede von Netanjahus „Vorliebe für teure Zigarren und Champagner“, die irgendwas mit seinem politischen Instinkt zu tun haben sollen. Und am Ende steht die These, Antisemiten würden sich durch Netanjahus Flüchtlingspolitik „in ihrem Hass auf den Staat Israel bestätigt sehen“. Wie aus dem Bilderbuch: Am Judenhass sind doch Juden eigentlich selbst schuld, oder etwa nicht?
Die Problematik dieses Kommentars wurde im Netz rasch erkannt: Der Journalist Filipp Piatov etwa warf Baumstieger vor, mit dem Text antisemitische Klischees zu bedienen, und der Redakteur der Frankfurter Rundschau Hanning Voigts nahm den Kommentar zum Anlass, um noch einmal das Einmaleins des Antisemitismus zu lehren.
„Was!“, schreien jetzt die Kritiker der israelischen Politik auf, darf man nach 18 toten Palästinensern denn immer noch nicht die Politik der israelischen Regierung kritisieren, ohne als Antisemit beschimpft zu werden?
Doch, darf man. Und, als Journalist muß man! Aber dabei ist es doch wohl nicht zu viel verlangt, sich nach all den Jahren der Auseinandersetzung des Unterschieds zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels und antisemitischen Denkmustern bewusst zu werden. Insbesondere in Zeiten, in denen hierzulande wieder Holocaust-Überlebende umgebracht und jüdische Mädchen an Schulen bedroht werden, weil sie nicht an Allah glauben. Und ja, insbesondere in Deutschland, wo das einst als unverrückbare „Nie wieder“ durch eine teils offen antisemitisch auftretende Partei in Frage gestellt wird.
Aufgabe von Journalisten ist es mithin, in der Kommentierung und Einbettung der Politik im Nahen Osten mit ruhigem Atem vorzugehen. Also ganz langsam: Natürlich bietet die Politik der israelischen Regierung derzeit Anlass für Kritik – oder zumindest für Besorgnis. Proteste der Palästinenser an den Grenzen des Gaza-Streifens wurden blutig beendet und bei 18 Toten und über 1400 Verletzten stellt sich zumindest die Frage nach der Verhältnismäßigkeit – deren Untersuchung durch die UN Netanjahu – was Wunder – jedoch ablehnt.
Natürlich ist die Migrationsdebatte in Europa extrem aufgeheizt und die Zureise von 16.000 Geflüchteten aus dem Sudan und Eritrea über Israel trägt vermutlich nicht dazu bei, die Situation zu entspannen. Natürlich ist die von Netanjahu womöglich noch immer geplante Massenabschiebung von Geflüchteten eine rechte Ausprägung von Migrationspolitik und ebenso zu kritisieren wie dies bei Ungarns, Tschechiens oder Polens Ablehnung der Aufnahme von Geflüchteten getan wurde und wird. Ebenso. Aber eben nicht außergewöhnlich scharf.
Was eine möglicherweise legitime Kritik an dieser Politik aber zum Antisemitismus macht, ist die außergewöhnliche Empörung über Netanjahus Flüchtlingspolitik, die etwa in der Formulierung einer „vermeintlichen Sonderrolle“ Israels deutlich wird. Wollen denn nicht alle Staaten Geflüchtete umverteilen oder gar nicht erst aufnehmen? Wo bleibt die Sonderrolle? Was die Kritik zudem antisemitisch macht, sind Netanjahu-Hassbilder, die vorgeben, seine Liebe für teure Zigaretten sei unter Spitzenpolitikern irgendwie einzigartig oder habe etwas mit seiner Politik zu tun. Und was eine Kritik an Netanjahu ganz eindeutig antisemitisch macht, ist das Argument, der Jude sei aufgrund seiner Politik doch eigentlich selbst schuld am steigenden Antisemitismus in Europa. Genau. Wie Orbán als Christ Schuld ist am zunehmenden Anti-Christianismus? Oder am zunehmenden Anti-Ungarismus? À propos: Wer benutzt eigentlich das Wort Ungarnkritik? Eben.
Wer dieses Einmaleins des Antisemitismus am Text Baumstiegers durchgehen möchte, muss inzwischen übrigens länger suchen: Der Kommentar wurde noch am späten Montagabend durch eine Version ersetzt, die nicht nur aktualisiert wurde, sondern auch von Schnappatmung bereinigt. Und gleichzeitig auch von antisemitischen Klischees.