Mit einer Rede veränderte er die Bundesrepublik. Eindeutigkeit zieht wie ein roter Faden durch das  Leben des Mannes, der morgen seinen 90. Geburtstag feiert. Er hat stets Stellung bezogen, in welcher Funktion auch immer: als Präsident des Evangelischen Kirchentages, als CDU-Bundestagsabgeordneter, Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident – und er tut es noch heute. Sohn Fritz sagt mit witziger Anerkennung: „Vater ist immer beschäftigt. Er ist wie ein Fahrrad – wenn es nicht fährt, fällt es um.“

Richard von Weizsäcker wird am Donnerstag (15. April) 90 Jahre alt, er war von 1984 bis 1994 Bundespräsident

Alles scheint wie immer. Aber es scheint eben nur so. Denn alle wissen: Der vor gerade mal einem Jahr neu gewählte Bundespräsident wird am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Rede im Plenarsaal des Bundestages halten, mit der er ein politisches Zeichen setzen will. Richard von Weizsäcker kommt schnell zum Punkt: Auf Zeile 33 seines Manuskripts steht der Satz, der die Rede zu einem Wendepunkt in der deutschen Nachkriegspolitik machen wird: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“

Bundestagspräsident Philipp Jenninger, der vier Jahre später wegen einer instinktlosen Rede zum 50. Jahrestag der „Reichskristallnacht“ zurücktreten muss, erstarrt in der ersten Reihe. Dem Fraktionschef der CDU/CSU und Wortführer der „Stahlhelmfraktion“ in der Union, Alfred Dregger, ist sein Entsetzen anzusehen. Und dann Helmut Kohl: Der Kanzler sitzt Weizsäcker Auge in Auge gegenüber, in der ersten Reihe, kaum sechs Meter vom Redner entfernt. Vereist wirkt Kohls Mine, spärlich ist sein Beifall, als Weizsäcker nach einer knappen dreiviertel Stunde sein Manuskript beiseite legt.

Nur ein kurzer, undeutbarer Blickwechsel. Es wird kolportiert, der Kanzler habe dem Präsidenten später, im Herrenruheraum des Bundestages, dann doch noch zu seiner Rede gratuliert.

Foto: Thiel, Christian Bundespräsident Johannes Rau (l.), seine Frau Christina, Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (r.) während des Festaktes zur Bekanntgabe der Praemium-Imperiale-Preisträger im Pergamonmuseum. Foto: Thiel

Die deutsche Politik hat sich an diesem 8. Mai 1985 verändert. Hinter die Aussage aus dem Mund des Staatsoberhauptes, die deutsche Kapitulation sei ein Tag der Befreiung gewesen, gibt es kein Zurück mehr. Selbst der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, dessen Verhältnis zu Richard von Weizsäcker stets eher unterkühlt war, den Weizsäcker öffentlich attackiert hat, würdigt in seinen Erinnerungen die historische Bedeutung dieser Rede: „Wenn man von den Marksteinen auf dem Weg zur deutschen Einheit spricht, dann muss auch diese Rede erwähnt werden.“ Sie habe“weltweit ein Vertrauen geschaffen, das wir gerade in den Jahren 1989 und 1990 brauchten“. Ex-Kanzler Helmut Schmidt, Weizsäcker in einer tiefen Freundschaft verbunden, spricht von einem „historisch glücklichen Moment“ und gesteht 25 Jahre später: „Ich schwärme heute noch von dieser Rede.“

Weizsäcker selbst sagt, er habe „nicht eigentlich neue Einsichten“ verkündet an jenem Mai-Tag im Deutschen Bundestag. Das stimmt. Schon der erste Bundespräsident, Theodor Heuß, hatte 1949 von einem Tag der bitteren Niederlage und einem Tag der Befreiung gesprochen. Aber die „8.-Mai-Rede“, die ebenso wie Roman Herzogs „Ruck-Rede“ zum Markenzeichen einer Präsidentschaft wurde, fiel in eine Zeit, in der viele in der CDU/CSU von einer – wie der Historiker Hans Mommsen es nannte – „Rückwärtsrevision des Geschichtsbildes“ träumten.

Es war die Zeit, in der Kohl mit US-Präsident Ronald Reagan ausgerechnet auf dem Bitburger Friedhof Versöhnung demonstrieren will, auf dem auch SS-Angehörige begraben sind. Der Kanzler hatte sich zum Schlesier-Treffen angesagt – obwohl es zunächst unter dem Motto stand „Schlesien bleibt unser“. Ein Jahr später sollte er Kreml-Chef Michail Gorbatschow mit Joseph Goebbels vergleichen. Der CSU-Abgeordnete Lorenz Niegel war der Weizsäcker-Rede aus Protest ferngeblieben, weil er wusste, was ihn erwartete. Sein CDU-Kollege Wilfried Böhm ließ an den Schulen Schallplatten mit allen drei Strophen des Deutschlandliedes verteilen. Und „Der Schlesier“, Hausblatt des CDU-Abgeordneten Herbert Hupka, schäumte, weil Weizsäcker die Kriegsschuld allein den Deutschen angelastet habe, nicht aber den „Kriegsverbrechern“ Roosevelt und Churchill. Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel dankte Weizsäcker denn auch mit einem unverkennbaren Seitenhieb auf den Kanzler für die „große Rede“, die „vieles zurechtgerückt hat, was in bedrückender Weise ins Zwielicht geraten war“.

Spätestens an diesem 8. Mai beginnt ein Prozess, wie ihn die Bundesrepublik bis dahin – und auch seither – nicht erlebt hat: Der Bundespräsident profilierte sich zum intellektuellen Gegenentwurf zum Kanzler. Der sich bereits abzeichnende Bruch zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Männern ist nun endgültig vollzogen. Der Adlige in der Villa Hammerschmidt soll den Kanzler fortan schon mal als „der Kerl“ abqualifiziert haben. Kohl höhnte im benachbarten Kanzleramt gerne über „den Herrn von nebenan“.

Dabei hatte Helmut Kohl Richard v. Weizsäcker für die Politik entdeckt: Kohl, damals CDU-Fraktionschef in Rheinland-Pfalz und als „junger Wilder“ bei vielen Parteifreunden verschrien, wirbt ihn 1954 für die CDU und verhilft dem Freiherrn in Worms zu einem sicheren Wahlkreis. 1969 zieht Kohls Protegé in den Bundestag ein, dem er bis 1981 angehört. Kohl hatte auch dafür gesorgt, dass Weizsäcker 1967 in den CDU-Vorstand aufrückt, 1979 Bundestags-Vizepräsident und 1981 schließlich Regierender Bürgermeister von Berlin wird.

Zwei Mal drängt Kohl ihn zur Kandidatur um das Bundespräsidentenamt: 1969 unterliegt Weizsäcker schon seinem parteiinternen Gegenkandidaten, dem damaligen CDU-Verteidigungsminister Gerhard Schröder, 1974 tritt er auf Kohls Wunsch als Zählkandidat gegen Walter Scheel an. Doch als 1984 die Mehrheit in der Bundesversammlung für Weizsäcker sicher ist, sträubt sich Kohl gegen die Kandidatur – vergeblich. Weizsäcker ist auf dem Gipfel seiner Karriere angekommen.

Wiedervereinigung Erster Tag der Deutschen Einheit: Bundeskanzler Helmut Kohl (2.v.r.) winkt zum Geläut der Freiheitsglocke von der Freitreppe des Berliner Reichstages. Neben Kohl (l-r) Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Hannelore Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker (r, Archivfoto vom 03.10.1990).

Als Kohl Mitte der 50er Jahre anfängt, Weizsäcker zu umwerben, hat der gebürtige Stuttgarter bereits eine bemerkenswerte Karriere in der Wirtschaft gemacht: Von der wissenschaftlichen Hilfskraft bei Mannesmann war er bis zum Mitglied der Geschäftsführung des Pharmariesen C. H. Boehringer aufgestiegen. Seine politische und persönliche Prägung hatte der junge Jurist allerdings durch die Begegnung mit Nazi-Herrschaft und Krieg erhalten. In einem „schrecklichen Schnellkochverfahren“ muss er – so sein Bruder Carl-Friedrich – zu einem „erwachsenen, gereiften Mann“ werden: Der 19-Jährige ist vom ersten Tag des Krieges an dabei. Schon am zweiten Kriegstag fällt sein Bruder Heinrich, und Richard muss die Totenwache halten. Richard von Weizsäcker kämpft an der Ost- wie an der Westfront, liegt vor Moskau und Leningrad, wird verwundet – und bekommt Kontakt zu der Widerstandsgruppe um Claus Graf von Stauffenberg. Marion Gräfin Dönhoff schreibt später, Richard von Weizsäcker habe „mit vielen seiner Generation das Schicksal geteilt, sehr jung – viel zu jung – vor immer neuen Abgründen zu stehen“.

Die Erfahrungen dieser frühen Jahre lassen ihn später, als Bundespräsident und Gegenspieler eines Kanzlers, der von der „Gnade der späten Geburt“ spricht, diesen Satz sagen: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Inneren wird.“

Es muss ein schmerzhafter Prozess für den jungen Juristen Richard von Weizsäcker gewesen sein: Er verteidigt seinen Vater, Ernst von Weizsäcker, im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess. Als Staatssekretär im Auswärtigen Amt hatte Ernst von Weizsäcker sich als Mitläufer und Dulder in die Nazi-Verbrechen verstrickt. „Mein Verhalten ab 1939 ist unrühmlich,“ bekennt er. Er wird verurteilt. Für Richard von Weizsäcker ist der Auftrag aus dem persönlichen Erleben von Schuld, Verbrechen und Krieg eindeutig: So etwas darf nie wieder geschehen. Er will die Aussöhnung, vor allem mit Polen.

Als Kirchentagspräsident, als CDU-Abgeordneter, als Regierender Bürgermeister in Berlin und vor allem als Staatsoberhaupt kämpft er mit Worten und Taten für die Verwirklichung seines Zieles. Schon 1962 plädiert er für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, für ein CDU-Mitglied damals ein Tabubruch. In der Schlacht um die Ostverträge unterstützt er zum Ärger seiner Fraktion den SPD-Kanzler Willy Brandt. Er ist immer unbequem, ein Querdenker, von Franz Josef Strauß als „polit-ökumenischer Bischof“ verspottet.

… kommt an. Auch bei uns. Foto: Schwarz

Aber der silberhaarige Mann kommt an, bei der Bevölkerung, bei den Intellektuellen, im In- und im Ausland. Der Spross einer alten Württemberger Beamten- und Politikerfamilie, der kühle Protestant, verkörpert in Kohls Pantoffel-Republik alles, was ihn in eine Sonderrolle wachsen lässt: Adliger, Diplomatensohn, Jurist, Ex-Offizier, Manager, ein aufgeklärter Konservativer, ein Meister des geschliffenen Wortes. Ein wohl gemeintes Bonmot unter Weizsäcker gewogenen Bonner Journalisten auf dem Höhepunkt seiner Präsidentschaft lautete, ihm fehle nur noch die goldene Kutsche zum deutschen Ersatzkaiser.

Richard von Weizsäcker wird am Donnerstag 90 Jahre alt, er war von 1984 bis 1994 Bundespräsident

Apr. 2010 | Allgemein, Feuilleton, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren