Ein Evolutionsbiologe und ein Historiker analysieren die Bibel – und verwandeln verstaubte Gottesehrfurcht in ein spannendes – und unterhaltsames – Tagebuch der Menschheit.
⇐ Zweifler got frug am Ostersonntag 2019 im Petersdom nach „oben“ –
ER hat sicher sehr viele glaubwürdige Antworten, aber, dann …
Adam und Eva, der Turmbau zu Babel, Sintflut, Exodus und Apokalypse: Es ist höchste Zeit, die so faszinierenden wie rätselhaften Geschichten der Bibel neu zu lesen.
Nicht als Gottes Wort. Sondern als Versuch der Menschen, dem Unheil der Welt zu trotzen: Abel ist das erste Opfer eines biblischen Geschwisterstreits, dessen Furor den Reigen eröffnet.
Das Alte Testament erzählt immer wieder von Konflikten, die der Übergang vom Nomadenleben zur Sesshaftigkeit mit sich gebracht hat: Brüder, die früher gemeinsam zum Wohle der Sippe jagten und sammelten, sind zu erbitterten Konkurrenten geworden – oft um den väterlichen Grundbesitz, den nun mal eben – damals jedenfalls – nur einer erben konnte.
1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 8
Ist es nicht gar sehr seltsam? Kaum hat Gott die Welt erschaffen und seine Schöpfung für „sehr gut“ befunden, da geht es drunter und drüber: Adam und Eva verweigern den Gehorsam, Kain erschlägt seinen Bruder Abel (Dürer), und die Menschen treiben es so wild, dass Gott sie in der Sintflut ertränken muss. Auch der Turmbau zu Babel endet im Desaster, und in den Sippen der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob herrschen Zank und Zwietracht, Sodom und Gomorra.
Die Bibel– das Wort eines guten Gottes? Oder das Werk eines fürchterlichen Dilettanten? Der katastrophale Start der Bibel stürzt seit jeher Menschen in Glaubenszweifel. Längst ist die Heilige Schrift zum Sturmgeschütz der Atheisten avanciert. Der Evolutionsbiologe und Religionskritiker Richard Dawkins poltert, sie sei „in großen Teilen nicht systematisch böse, sondern einfach nur grotesk“ – von „einer chaotisch zusammengestoppelten Anthologie zusammenhangloser Schriften“ sei ja auch nichts anderes zu erwarten.
Da überrascht es nicht, dass die Bibel allenfalls noch an Weihnachten hervorgeholt wird.
Die meisten anderen Episoden erscheinen im besten Falle unverständlich, im schlimmsten Fall schockieren sie mit Gemetzel, Vergewaltigung, Völkermord. Bibeln, die in den Nachtschränkchen von Hotels liegen, enthalten oft nur noch die Psalmen und das Neue Testament. Der Rest scheint Albträume zu bereiten.
Höchste Zeit für eine Rehabilitierung der Bibel!
Sie trägt keine Schuld daran, zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden zu sein. Sie ist das Opfer von Missverständnissen, Fehlinterpretationen und falschen Erwartungen. Räumt man diese beiseite, wird die Bibel nicht nur erstaunlich verständlich, dann geht sie uns alle an, selbst wenn wir gar nicht an einen Gott glauben.
Skeptisch? Die Sache ist denkbar einfach: Ein Buch, das seit über 2500 Jahren einen Großteil der Menschheit in Atem hält, das heute noch weltweit von mehr als zwei Milliarden Menschen als Heilige Schrift angesehen wird und mit einer geschätzten Auflage von fünf Milliarden Exemplaren unangefochten auf Platz eins der ewigen Weltbestsellerliste steht – ein solches Buch sollte doch Einblicke in die Natur des Menschen und seine kulturelle Evolution geben wie kein zweites Werk.
„Das war die Ausgangsüberlegung, mit der wir uns an die Lektüre der Bibel machten“.
Wir – das sind ein Evolutionsbiologe und ein Historiker – lasen das Alte und das Neue Testament nicht aus einer religiösen, sondern aus einer anthropologischen Perspektive. Also nicht als Wort Gottes, sondern als Tagebuch der Menschheit.
Und das, das ist es tatsächlich: Gut tausend Jahre lang haben die verschiedensten Autoren Seite um Seite zum Buch der Bücher hinzugefügt. Viele werden namentlich genannt – von Mose und David über die Propheten und Evangelisten bis zu Johannes von Patmos, dem Visionär der Apokalypse. Wer sich hinter diesen Namen verbirgt, bleibt oft im Dunkeln. Sicher aber ist die Bibel ein Gemeinschaftswerk, geschrieben von Menschenhand.
Erkenntnis 1:
Wir sind fürs Paradies geschaffen. Nicht für das Leben, das wir jetzt führen
Wer die Bibel liest als Wort Gottes, dem fällt es schwer, zu erklären, weshalb sie von Gewalt und Elend dominiert wird. Aus der Tagebuchperspektive liegt die Erklärung jedoch auf der Hand. Denn warum schreibt man Tagebuch? Weil das Leben vor Schwierigkeiten strotzt, weil man versucht, sich selbst und die Welt zu verstehen – und weil man nach Rezepten sucht, existenzielle Probleme in den Griff zu bekommen. Genau das tut die Bibel: Sie dokumentiert das Unheil der Zeit. Und entwirft Strategien, es zu bewältigen. Die Autoren der Bibel schlagen sich aber weniger mit den „ewigen Fragen“ der Menschheit herum als mit einem speziellen Typus neuer Probleme: jenen, die aus dem tatsächlichen Sündenfall des Homo sapiens resultieren. Wir meinen damit das Sesshaftwerden, den Übergang vom Jagen und Sammeln dessen, was die Natur hergab, zur Nahrungsproduktion durch Ackerbau und Viehzucht. Schon der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond bezeichnete die Sesshaftigkeit als den „schlimmsten Fehler der Menschheit“.
Zwei Millionen Jahre lang hatten unsere Vorfahren als umherziehende Jäger und Sammler in kleinen, egalitär organisierten Gruppen gelebt. Weil die Evolution sie bestens an ihre Umwelt angepasst hatte, besaß das Dasein eine Selbstverständlichkeit, die uns heute fremd ist. In dieser Zeit formten sich unsere psychischen Präferenzen, also jenes Spektrum an Emotionen, Bedürfnissen und moralischen Intuitionen, die es braucht, um das Leben in überschaubaren Gruppen zu meistern.
Solche menschlichen Universalien begleiten uns bis heute: unser Sinn für Fairness etwa, die Sorge um unseren Ruf, aber auch das Misstrauen gegenüber Fremden und die Bereitschaft, sie abzuwerten. Zwar war auch das Dasein der Jäger und Sammler kein Zuckerschlecken, doch die Herausforderungen, mit denen sie sich abmühten, waren vertraut, die Bewältigungsstrategien bewährt.
Seit aber die Menschen vor rund 12 000 Jahren anfingen, im Fruchtbaren Halbmond sesshaft zu werden, Getreide anzubauen und Tiere zu züchten, gerieten sie in die Bredouille. In den zusehends größeren Gemeinschaften trat Konkurrenz an die Stelle von Kooperation. Von domestizierten Tieren sprangen Krankheitserreger auf die Menschen über und entwickelten sich zu tödlichen Seuchen. In Städten und Staaten, die im Laufe der Jahrtausende entstanden, verschärften sich die Probleme: Anführer schwangen sich zu Despoten auf, führten Kriege, versklavten Unterlegene und Schwächere.
Das daran Wichtige:
Die wenigen Jahrtausende, die Menschen so leben, sind aus der Perspektive der Evolution ein sehr kurzer Zeitraum. Vor rund zwei Millionen Jahren begannen die ersten Vertreter der Gattung Homo, als Jäger und Sammler umherzuziehen. Würde man sich ihre Entwicklung bis heute als einen Tag von 24 Stunden vorstellen, dann fingen die ersten Menschen vor acht, vielleicht neun Minuten an, sesshaft zu werden. Diese Zeit ist viel zu kurz, als dass sich unsere genetisch fundierten Intuitionen und Verhaltensmuster an neue Lebensbedingungen hätten anpassen können.
Die Bibel hat – insofern – also recht:

Eine steile These stellt der Wissenschaftler Benny Shannon auf: Gott habe dem Propheten nicht die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai überreicht. Vielmehr habe Moses unter Drogen gestanden. Führten bewußtseinserweiternde Stoffe zu diesem grundlegenden Werk christlicher Werte?
Halluzinogene hätten eine wichtige Rolle bei den religiösen Riten der Israeliten im biblischen Zeitalter gespielt, erklärt Shannon. Im Fall Moses glaubt er nicht an ein „übernatürliches, kosmisches Ereignis“. Viel wahrscheinlicher sei ein Vorfall, der sich unter dem Einfluss von Drogen ereignete, erläuterte der Psychologe im israelischen Rundfunk. Auch als Moses den brennenden Dornbusch sah, stand er unter dem Einfluss eines pflanzlichen Betäubungsmittels.
Shannon selbst experimentierte während einer religiösen Zeremonie im Amazonas-Regenwald mit pflanzlichen Drogen. „Ich hatte Visionen, die religiös-spirituelle Bedeutung hatten“. Die Substanz, die die dortigen Völker noch heute bei ihren Riten einnähmen, sei derjenigen ähnlich, die aus der Rinde des Akazienbaums gewonnen werde. Und dieser Baum werde häufig in der Bibel erwähnt, erklärte der Wissenschaftler. ts
Obgleich für das Paradies geschaffen, müssen wir unser Dasein jenseits von Eden fristen, müssen wir unter nicht artgerechten Bedingungen leben.
Im letzten Jahrtausend vor Christus wurden die Nöte so dringlich, dass an vielen Orten unter Hochdruck nach Lösungen gesucht wurde. In Indien, Persien und China formierten sich Protestbewegungen gegen selbstherrliche, als Gottkönige agierende Herrscher, aus denen neue Religionen hervorgingen: Buddhismus, Zoroastrismus und Konfuzianismus. In Griechenland begehrten Philosophen gegen Tyrannei auf.
Nirgendwo aber war die Lage prekärer, das Bedürfnis nach Rettung größer als in zwei kleinen, unbedeutenden Ländern namens Israel und Juda. Eingeklemmt zwischen Hammer und Amboss mächtiger Imperien wie Ägypten, Assyrien und Babylon, lebten die Menschen in ständiger Gefahr, Opfer von Krieg, Unterdrückung und Sklaverei zu werden.
Es ist frappierend, mit welcher Akkuratesse die fünf Bücher Mose, die Tora, gerade jene Probleme beleuchten, die durch das Sesshaftwerden entstanden sind.
Erkenntnis 2:
Eigentum bringt nur Ärger. Auch für jene, die es besitzen …
Die Zehn Gebote, die Mose – im Bild von Rembrandt dargestellt – nach seiner Rückkehr vom Berg Sinai dem Volk Israel präsentiert, sind nur ein winziger Ausschnitt aus einem umfangreichen Gesetzeswerk. Mit diesem verbindet sich ein unerhörtes Versprechen: Gott wird von nun an berechenbar sein. Wer sich an seine Ge- und Verbote hält, soll künftig von Krankheit, Krieg und anderen himmlischen Strafen verschont bleiben Und da der HERR mit Mose zu Ende geredet hatte auf dem Berge Sinai, gab er ihm die beiden Tafeln des Gesetzes;
die waren aus Stein und beschrieben von dem Finger Gottes 2. Buch Mose, Kapitel 31, Vers 18
Das im Schnelldurchgang an, beginnend bei Adam und Eva: Tatsächlich mussten die Menschen nicht schon immer „im Schweiße ihres Angesichts“ ihr Brot erarbeiten, wie es die Bibel als Gottes Strafe für Adams Sündenfall formuliert. Anthropologen und Archäologen haben vielmehr gezeigt, dass Jäger und Sammler weniger schuften mussten als die ersten Bauern, um auf die gleiche Menge Kalorien zu kommen. Sie waren gesünder, größer und lebten länger.
Auch Eva hatte es vor der Vertreibung aus dem Paradies besser. Archäologische, ethnografische und genetische Indizien sprechen dafür: Die Frauen waren nicht seit jeher den Männern untertan, litten nicht schon immer unter schweren Geburten. Zwar gab es bereits vor der Landwirtschaft eine gewisse körperliche Dominanz der Männer, doch die Frauen besaßen weitgehende ökonomische und sexuelle Autonomie. Vor allem brachten sie im Schnitt nur alle viereinhalb Jahre ein Kind zur Welt.
Die Bibel beschreibt erstaunlich treffsicher, welches Schicksal Gott dann Eva für den Missgriffim Garten Eden aufgebürdet hat: „Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.“ Als Sesshafte wurden die Frauen in kürzeren Abständen schwanger, die Geburten mühseliger und gefährlicher.
Die Landwirtschaft brachte eine fatale Innovation mit sich: das Eigentum an Vorräten und Boden, das verteidigt werden musste. Jenseits von Eden entfaltete diese Erfindung ihre Dynamik. Die alten Gemeinschaften, welche als Kontrollinstanz für den menschlichen Egoismus fungiert hatten, verloren an Einfluss. Wo fortan nur einer erben konnte, wurden Brüder, die unter Jägern und Sammlern beste Partner waren, zu Todfeinden. Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt, ist kein Einzelfall: Immer wieder trachten sich in der Bibel Brüder nach dem Leben.
Die Stunde des Patrarchats hatte geschlagen
Konkurrenz und Konflikte standen auf der Tagesordnung. Despoten leisteten sich mehrere Frauen. Lamech, ein Nachkomme Kains, ist es, der sich rühmt: „Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule.“ Er wird der Erste sein, der sich in der Bibel zwei Frauen nimmt.
Die Sesshaftigkeit und später das dicht gedrängte Zusammenleben in Städten machten die Menschen verwundbar. Davon erzählen die nächsten Episoden der Bibel, wie jene von der Sintflut. Menschen, die an ihre Felder gebunden und auf Gedeih und Verderb auf das Wasser der großen Ströme angewiesen sind, werden von Fluten viel existenzieller getroffen als Jäger und Sammler. Die ziehen in der Not einfach an günstigere Orte und müssen auch die anderen Katastrophen kaum fürchten, die uns auf fast jeder Seite der Bibel begegnen: Dürren und Epidemien, Hungersnöte und Heuschreckenplagen. Die Bauern waren alldem ausgeliefert.
Der Turmbau zu Babel wie die Geschichte von Sodom und Gomorra illustrieren dann, welche Gefahren das Entstehen der Städte mit sich brachte. Sie waren Unruhe- und Seuchenherde. Hier entfaltete sich der Größenwahn der Herrscher, sammelten sich die Verlierer der Konkurrenz: Männer, die keine Frauen abbekamen und einzig in der Gewalt eine Chance sahen, es zu etwas zu bringen. Sie stellten den vergewaltigungslüsternen Mob in Städten wie Sodom und Gomorra.
Auch die Geschichten der Patriarchen, welche das erste Buch Mose, die Genesis, beschließen, strotzen vor Gewalt. Abraham, Isaak und Jakob erfreuen sich ihres Reichtums und besitzen meist mehrere Frauen. Doch diese geraten in erbitterten Wettstreit, ihre Söhne in die beste Position im Kampf ums Erbe zu bringen.
Abrahams Frau Sara lässt ihre Konkurrentin Hagar mitsamt Sohn Ismael in die Wüste schicken. Und wieder gehen sich Brüder gegenseitig an die Gurgel: Jakob erschwindelt sich das Erstgeburtsrecht seines Bruders Esau, Jakobs Söhne wollen dessen Lieblingssohn Joseph töten, verkaufen ihn dann aber für zwanzig Silberstücke in die Sklaverei nach Ägypten. Nur zufällige Episoden? Nein, ein wiederkehrendes Thema: Abimelech wird seine Halbbrüder umbringen und Salomo seinen älteren Brüdern zum Trotz den Thron besteigen, weil seine Mutter Batseba seinen Vater König David betörte.
Erkenntnis 3:
Gottes Zorn ist nicht nur furchtbar. Er verheißt auch Rettung
Soweit eine Auswahl der neuen Krisenphänomene. Aber die Bibel begnügt sich nicht mit der Bestandsaufnahme, sie liefert auch Lösungsstrategien. Die Problemschilderungen der Genesis sind nur die Ouvertüre zum eigentlichen Opus magnum – einem Unheilbewältigungsprogramm im Namen Gottes.
Wir haben es mit einer der folgenreichsten Innovationen der Weltgeschichte zu tun: Ausgerechnet der Gott des „kleinsten unter allen Völkern“ (O-Ton Bibel) nennt heute eine nach Milliarden zählende Anhängerschaft sein Eigen, während die Götter der Imperien des Altertums wie Amun, Marduk oder Zeus im Orkus der Geschichte verschwunden sind.
Was dem Zwergstaatengott Jahwe den entscheidenden Karrierevorteil brachte? Der Monotheismus! Er war die einzige existierende Gottheit.
Das hieß vor allem: Allein er konnte hinter allem Übel stecken. Daran lassen die fünf Bücher Mose keinen Zweifel. Gott verdammte Adam und Eva mitsamt Nachkommen, ihr Dasein unter Mühsal jenseits von Eden zu fristen. Er ging höchstpersönlich nach Babel, um die Menschen in alle Welt zu zerstreuen. Auch ließ er Feuer und Schwefel auf Sodom und Gomorra regnen, peinigte die Ägypter mit zehn Plagen, damit sie das Volk Israel aus der Sklaverei entließen, und ertränkte die Armee des Pharaos in den Fluten des Roten Meeres.
Die Bibelautoren reklamierten Gottes Urheberschaft für Katastrophen jeglicher Art. Selbst für die große Flut, von der schon die berühmten Epen Mesopotamiens erzählten. Die Bibel übernimmt diese Urkatastrophe einfach und macht unmissverständlich klar: Auch die Sintflut ist ein Werk unseres Gottes!
Aber er darf das Unheil nie aus heiterem Himmel schicken. Immer wieder betont die Bibel daher die Sündhaftigkeit der Menschen als Grund für Gottes Strafen: Jeder Krankheit, jeder Niederlage und jeder Naturkatastrophe muss eine menschliche Verfehlung vorausgegangen sein. Entsprechend hebt die Sintflutgeschichte an: „Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar …“ – die Folgen sind bekannt.
Gottes Zorn mag Gläubige heute befremden, für die Autoren der Bibel und ihre Adressaten hatte er jedoch nichts Verstörendes. Im Gegenteil: Er bot Rettung. Die Menschen damals wussten ja nichts von Viren und Bakterien, von Plattentektonik oder Klimaschwankungen.
Für Naturkatastrophen, Krankheiten oder Kriege machten sie seit jeher böse Geister, missgünstige Ahnen oder die Launen der Götter verantwortlich. Diese versuchten sie mit Opfern zu beschwichtigen. Weil es jedoch so viele überirdische Akteure gab, war nie restlos zu klären, wer nun welches Unglück geschickt hatte. Auch bestand stets die Möglichkeit, dass es sich um Kollateralschäden göttlicher Zwietracht handelte – der Krieg um Troja resultierte bekanntlich aus dem Streit der Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite.
Wo aber nur ein einziger Gott existierte, war dessen Verantwortlichkeit über alle Zweifel erhaben. Und diese Erkenntnis wiederum eröffnete eine einmalige Chance: den Willen des Allmächtigen zu rekonstruieren und sich zukünftig so zu verhalten, dass ihn nichts mehr zornig machte und er keine Katastrophen schicken musste.
Sechshundertunddrei Ge- und Verbote – Das ist die Meisterleistung der Tora:
Stellte die Genesis eine Bestandsaufnahme der Schwierigkeiten dar, präsentieren die restlichen vier Bücher Mose die Bewältigungsstrategie. Sie findet sich, genial verpackt, in der Geschichte vom Exodus des Volkes Israel aus ägyptischer Gefangenschaft. Es sind nicht nur die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten, die Gott Mose auf dem Berg Sinai übergibt; auf der Wüstenwanderung erhält Israel noch weitere 603 Ge- und Verbote. Von „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ über „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau“ bis „Und du sollst draußen vor dem Lager einen Platz haben, wohin du zur Notdurft hinausgehst“ ist alles dabei.
Diese Flut von Gesetzen stellt das Kleingedruckte des Bundes dar, den Gott mit seinem Volk schließt. Sie sind die Hausordnung der Schöpfung. Halten die Menschen sie ein, wird es ihnen gut ergehen. Gehorsam, verspricht Jahwe, wird er mit Regen, reicher Ernte, Frieden und Freiheit belohnen; für den Fall des Ungehorsams wählt er deutliche Worte: „Ich will euch heimsuchen mit Schrecken, mit Auszehrung und Fieber, dass euch die Augen erlöschen und das Leben hinschwindet. Ihr sollt umsonst euren Samen säen, und eure Feinde sollen ihn essen. Und ich will mein Antlitz gegen euch richten, und ihr sollt geschlagen werden vor euren Feinden, und die euch hassen, sollen über euch herrschen, und ihr sollt fliehen, ohne dass euch einer jagt.“
Woher aber wussten die Priester und Schriftgelehrten, was Gottes Zorn erregte? Heute heißt es, Gottes Wege seien unerforschlich – so schreibt es Paulus im Neuen Testament. Dieses Denken steht aber nicht am Anfang der Bibel. Der Gott der Tora ist berechenbar; seine Gerechtigkeit vollzieht sich im Hier und Jetzt.
Erkenntnis 4:
Auch wenn es Gott nicht gibt – helfen kann er dennoch
Die Bibelautoren verfolgten zwei Strategien, um seinen Willen zu erkunden. Die erste ist empirischer Natur. Ein gehäuftes Auftreten göttlicher Strafen in bestimmten Lebensbereichen zeigt, dass Gott dort besonders reizbar ist. Also gilt es, das Verhalten zu identifizieren, das ihn erzürnt, und dieses zu verbieten – und alles wird gut.
Einen einzigen Gott zu verehren, von dem man sich zudem kein Bild machen darf – das fällt dem Volk Israel zunächst schwer. Denn es ist noch seiner traditionellen Glaubenswelt verhaftet, die von einer Vielzahl überirdischer Mächte bevölkert ist. Nicht zufällig handeln viele Geschichten der Bibel von religiösen »Rückfällen« – etwa beim Tanz um das von Aaron geschaffene Goldene Kalb, dessen Faszination der Maler Nicolas Poussin in Szene gesetzt hat. „Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.“
2. Buch Mose, 32, Vers 8
Am offensichtlichsten ist das im Bereich der Krankheiten. Gott lässt an seiner Urheberschaft keinen Zweifel: „Der HERR wird dich schlagen mit ägyptischem Geschwür, mit Pocken, mit Grind und Krätze, dass du nicht geheilt werden kannst. Der HERR wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Verwirrung des Geistes.“ Entsprechend wimmelt es in der Tora an gesundheitsrelevanten Regulierungen. Speisen, Sex, menschliche Notdurft – alles ist Gegenstand göttlicher Gesetze. Und das Entscheidende ist: Diese wirken, obwohl die Menschen keine Ahnung von Krankheitserregern haben!
Allein ihre Erfahrung lehrt sie: Was in den Körper hinein- oder aus ihm gelangt, kann zu Unwohlsein oder Krankheiten führen. Da gilt es, höchste Vorsicht walten zu lassen und alle Handlungen zu verbieten, die ein erhöhtes Gesundheitsrisiko mit sich bringen. Das Ergebnis: Die Ansteckungsraten sinken. Gott mag es nicht geben, helfen tut er trotzdem.
Der zweite Weg, Gottes Willen zu rekonstruieren, folgt der Intuition: Gerät er in Rage, dann vermutlich über dieselben Dinge wie wir. Ungerechtigkeit erzürnt ihn besonders. Das ist Jäger- und Sammler-Erbe. Der Zusammenhalt der Kleingruppen basierte auf Fairness und Gegenseitigkeit. Niemand durfte einen anderen ausnutzen.
Aus dieser Quelle speist sich auch die Despotenkritik der Bibel. Sie prangert all jene an, die zu sehr nach Macht und Reichtum streben, und scheut dabei nicht einmal vor dem König zurück: Der soll nicht zu viele Pferde besitzen und sich auch „nicht viele Frauen nehmen, dass sein Herz nicht abgewandt werde, und soll auch nicht viel Silber und Gold sammeln“. Aus einer ähnlichen Motivation wird „liebe deinen Nächsten“ propagiert. Gute Beziehungen stellten die längste Zeit der menschlichen Evolution eine Lebensversicherung dar. Dass nun uralte moralische Selbstverständlichkeiten zum Willen des Höchsten erklärt werden mussten, zeigt, wie sehr die Welt aus den Fugen geraten war. Trotzdem ist es das große Verdienst der hebräischen Bibel, die Moral zur Sache Gottes erklärt zu haben: Damit entzog sie diese dem Zugriffder Mächtigen.
Viele dieser Gebote und Verbote sind heute hoffnungslos veraltet und haben mit dem, was wir unter Religion verstehen, nichts zu tun. Zur Erbauung liest das keiner. Aber das war auch nicht die Absicht der Autoren. Im Namen Jahwes, des Gottes der Tora, formulierten sie ein rationales Gesetzeswerk, das es den Menschen ermöglichte, sich ohne Kenntnis der realen Zusammenhänge vor Epidemien, Ausbeutung oder Gewalt zu schützen. Die Tora ist ein kulturelles Schutzsystem; ihre Autoren haben einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie der Wissenschaft verdient.
Erkenntnis 5:
Eine Religion muss sich im Alltag bewähren – sonst besteht sie auf Dauer nicht
Wir tun uns heute schwer mit der Idee eines ebenso rationalen wie strafenden Gottes, und das ging den Menschen damals nicht anders. Die Bibel erzählt es selbst: Das Volk Israel will ihm nicht folgen! Kaum ist Mose auf dem Berg Sinai, umtanzt es selig das Goldene Kalb. In der Tora finden sich rund ein Dutzend Geschichten, in denen das Volk murrt und sich an die Fleischtöpfe Ägyptens zurücksehnt.
Immer und immer wieder verweigert es die Gefolgschaft. Der Theologe Erik Aurelius befand, im Alten Testament werde man eines Volkes gewahr, „das durch seine ganze Geschichte hindurch in offenem und hingebungsvollem Streit mit seiner eigenen Religion liegt“.
Und es ist ja eine neue Religion, die in der Bibel propagiert wird, mit einem radikal neuen Gott. Selbst Mose ist er zunächst fremd. Als er ihm im brennenden Dornbusch erstmals begegnet, muss er ihn nach seinem Namen fragen und fürchtet, die Israeliten würden sich von ihm nicht überzeugen lassen.
Alle Offenbarungsreligionen haben diese Achillesferse: Ihnen fehlt die Selbstverständlichkeit. Deshalb treiben die Bibelautoren immensen Aufwand, um die Innovation eines monotheistischen Gottes überzeugend zu machen. Deshalb lassen sie Jahwe so viele Wunder tun: Von den zehn Plagen, mit denen er die Ägypter quält, bis zur Teilung des Roten Meeres – all das sind solch überwältigende Beweise seiner Macht, dass noch Hollywood sie alle paar Jahre neu verfilmen muss.
Es ist sinnvoll, sich in die Situation der Bibelautoren zu versetzen. Erkenntnissen der Bibelforschung zufolge wurde die Hauptarbeit an der Tora im Exil in Babylon geleistet, wohin viele der Israeliten deportiert worden waren, und in der Zeit danach. Die Autoren wollten erklären, wieso das Gelobte Land verloren und Jerusalem im Jahr 587 v. Chr. von den Babyloniern zerstört worden war. Zugleich wollten sie verhindern, dass sich solch eine Katastrophe wiederholte. Ihre Erklärung: Das Volk Israel hatte es Jahwe gegenüber an Treue vermissen lassen, weshalb sich dieser der Feinde bediente, um es zu züchtigen.
Archäologen haben gezeigt, dass neben dem offiziellen Kult des Staatsgottes Jahwe im alten Israel eine Alltagsreligion blühte, also der Glaube an viele Götter und Ahnen, die für Familie, Gesundheit oder gute Ernten zuständig waren. Das Ziel der Bibelautoren, die der intellektuellen Oberschicht entstammten, lag auf der Hand: sicherzustellen, dass Israel allein Jahwe die Treue hielt und dieser keinen Grund mehr zum Strafen hatte! Deshalb untersagt die Tora die uralten Praktiken der Alltagsreligion. Kein leichtes Unterfangen: Obwohl sich der biblische Gott fürchterlich eifersüchtig gebärdet, lässt sich selbst König Saul von einer Totenbeschwörerin helfen, und der weise Salomo betet auf seine alten Tage fremde Götter an.
Indem die kunterbunte Glaubenswelt verboten wurde, entstand ein Vakuum, das der eine und einzige Gott zunächst kaum füllen konnte. Als Staatsgott hatte Jahwe die Gesellschaft im Blick und dem Einzelnen wenig zu bieten. So hält er in der Tora keinen Trost für Kranke parat. Krankheiten sind schließlich von ihm verhängte Strafen, weshalb die damit Geschlagenen auch keinen Trost verdienen: Vielmehr ordnen die Gesetze für sie Quarantäne oder gar Ausschluss an. Nein, alltagstauglich war eine solche Religion nicht.
Deshalb bessert die Bibel nach. Sie ist lernfähig! In den späteren Psalmen tritt uns ein barmherziger Gott entgegen, der auf die spirituellen Bedürfnisse der Individuen Rücksicht nimmt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Während der Gott der Tora Krankheiten als Strafe schickt, tritt der Gott der Psalmen als Tröster und Heiler auf. Inkonsequent oder gar schizophren? Nur dann, wenn die Bibel das Wort Gottes wäre.
Wie die Bibelautoren sich den Kopf zerbrechen, um ihr Konzept mit den Bedürfnissen der Menschen und den Erfordernissen der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Denn diese zeigt: Selbst jene, die Gottes Gesetze treu befolgen, werden von Unglück geplagt, während die Gottlosen triumphieren. Wie kann ein Gott, der selbst kleinste Verfehlungen unnachsichtig straft, solch großes Unrecht zulassen?
Die Antwort findet sich in den späten Teilen der hebräischen Bibel. Danach handelt es sich bei irdischem Leid nicht um Strafen, sondern um Glaubensprüfungen. Wer sie besteht, wird von Gott belohnt. Wie der so schrecklich heimgesuchte Hiob, der zur Belohnung das Doppelte seines Verlustes zurückerhält.
Erkenntnis 6:
Den »lieben« Gott gibt es nur, weil die Bibel den Teufel erfand
Die Umdeutung des Unheils wirft aber neue Probleme auf. Ist das Leid eine Prüfung, muss für jene, die sich bewähren, eine Belohnung erfolgen. Warum aber bleibt diese so oft aus? In besonderer Schärfe stellt sich die Frage bei den Märtyrern, die sich während des Makkabäeraufstands im zweiten Jahrhundert vor Christus für ihren Glauben geopfert haben sollen. Diese erfuhren im Diesseits definitiv keine Belohnung! Wann dann?
Für das Jenseits war der Gott Jahwe bisher nicht zuständig gewesen. Er hatte seine Karriere in einer polytheistischen Welt als Gott des Wetters und des Krieges begonnen und war, wie die meisten seiner Kollegen, ein Gott des Lebens gewesen. Noch in den Psalmen heißt es: „Die Toten werden dich, HERR, nicht loben“.
Der Verstorbenen wurde im Rahmen des Ahnenkults gedacht, der Teil der Alltagsreligion war. Als diese eliminiert wurde, entstand in Sachen Tod ein Vakuum. Der Tod geriet zum „großen Gleichmacher“, der nicht zwischen Gerechten und Frevlern unterschied.
Ein Skandal! Für einen monotheistischen Gott war es inakzeptabel, dass seine Macht an der Schwelle des Todes enden sollte. Und für einen moralischen Gott war es undenkbar, dass seinen Anhängern keine Gerechtigkeit widerfuhr. Die Lösung des Dilemmas findet sich im Buch Daniel, einem der jüngsten Bücher des Alten Testaments. „Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen“, heißt es da, „die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.“ Eine zukunftsträchtige Innovation: Das Jenseits als Ort, an dem sich Gottes Gerechtigkeit erfüllt, wird zur Killerapplikation des Christentums.
Die Umdeutung des Unheils von der Strafe Gottes zur Prüfung hat noch eine weitere Konsequenz: Sie verschafft Teufel und Dämonen ihren Platz in den heiligen Schriften. Denn mutet es nicht wie blanker Sadismus an, wenn Gott die Seinen mit Qualen prüft?
Also muss es der Satan sein, der Gott anstachelt, den Glauben des treuen Hiob auf die Probe zu stellen, oder, Bild: Satan entführt Jungfrau (1512 – Bayern). Undenkbar auch, dass Gott die Prüfungen eigenhändig durchführte – immerhin wurden Hiobs Kinder getötet. In solchen Angelegenheiten wird sich künftig der (Das? Oder doch: Der Böse?) Teufel die Hände dreckig machen. Auch diese Innovation entfaltet ihre volle Wirkung erst im Neuen Testament.
Sind zu bekämpfen: „Ketzer, Hexen, Heiden und Juden“
Krankheiten sind dann nicht mehr Strafen oder Prüfungen Gottes, sondern das Werk von Dämonen. Jesus von Nazareth wird den Kranken diese gleich im Dutzend austreiben. Was dieses Konzept über die Bibel hinaus überzeugend macht: Wenn das Unheil Teufelswerk ist, muss es nicht mehr demütig ertragen werden, wie noch die Strafen Gottes; dann darf man die Kräfte des Bösen bekämpfen. Und damit auch all jene, die man dazu erklärt hat: Ketzer, Hexen, Heiden, Juden (Bild: Anna Vögtlin wird als Hexe vor dem Unteren Tor von Willisau (Schweiz), 1447 verbrannt).
Den Gläubigen, die im Leben vergebens auf Gerechtigkeit hoffen, gibt die christliche Bibel ein Versprechen: Am Ende aller Tage wird das Jüngste Gericht die Bösen verdammen und den Guten einen Platz im Himmel zusprechen. Weil aber der Tag des Weltgerichts in ungewisser Zukunft liegt, definieren Theologen des Mittelalters den Zeitpunkt der Erlösung neu: Schon im Moment seines Todes soll jeder Mensch die ewige Vergeltung empfangen – wie in der Vision des Malers Peter Paul Rubens. Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet als eine geschmückte Braut für ihren Mann Offenbarung Kapitel 21, Verse 1,2
Es ist nicht zuletzt der Teufel, dem wir den lieben Gott verdanken. Weil der Leibhaftige die Verantwortung für das Unheil der Welt übernommen hatte, konnte der Höchste seinen Zorn ablegen und gut werden. Der Haken an der Sache ist: Wie kann ein guter Gott nur so viel Böses in der Welt zulassen? Eine bessere Antwort, als dass seine Wege unerforschlich seien, ist bislang nicht in Sicht.
Die Bibel als ein Tagebuch der Menschheit:
Wenn man die daraus resultierende Entwicklungsdynamik einmal erkannt hat, verliert das Buch der Bücher seine Rätselhaftigkeit. Dann wird verständlich, dass an seinem Anfang eine Innovation von enormer Strahlkraft stand: die Annahme, dass eine einzige Wirkmacht die ganze Welt beherrscht. Durch genaue Beobachtung lässt sie sich in ihrer Gesetzmäßigkeit verstehen; das Unheil wird beherrschbar. Doch dieses rationale Konzept kollidiert mit den Bedürfnissen der Menschen ebenso wie mit der Ungerechtigkeit der Welt; die Bibel muss deshalb nachbessern. Am Ende wird das Christentum als das Schweizer Taschenmesser unter den Religionen Weltkarriere machen: Mit Jesus, Maria und dem Teufel, mit Engeln, Heiligen, Dämonen und einem Gott, der das absolut Gute verkörpert, ist für jeden Bedarf etwas dabei.
In der Tagebuchperspektive lässt sich auch jener Kern erkennen, der uns über die Zeiten hinweg mit den Menschen von damals verbindet. Das Buch der Bücher dokumentiert die Anstrengungen, sich in einem Leben einzurichten, für das wir nicht gemacht sind. Es macht verständlich, wie wir seit Jahrtausenden mit Problemen kämpfen, für die uns die biologischen Adaptionen fehlen und für die wir deshalb immer neue kulturelle Bewältigungsstrategien finden müssen: Ungerechtigkeit, Unterdrückung der Frauen, Krieg und Epidemien.
In kaum einem Punkt sind sowohl das Alte als auch das Neue Testament so deutlich wie in der Kritik an Ungleichheit, Reichtum und Despotie. Da protestiert unsere egalitär veranlagte menschliche Natur, die sich während eines fast zwei Millionen Jahre langen Daseins als Jäger und Sammler entwickelte. Deshalb fasziniert auch eine Figur wie Jesus noch heute: Er steht bedingungslos aufseiten der Armen und Schwachen.
Wieso konnte die Bibel überhaupt zu einem unverständlichen Buch werden? Ihr Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies der Verständlichkeit, ist dem Aufstieg des Christentums geschuldet. Als neue Staatsreligion des Römischen Reichs brauchte die Kirche ein festes Fundament verbindlicher Schriften, weshalb sie die Tagebucharbeit einstellte und einen festen Kanon der heiligen Texte bestimmte.
Um fortan die Autorität von Päpsten, Kaisern und Königen zu zementieren,
avancierte die Bibel zu dem, was sie selbst nie behauptet hat zu sein: zum Wort Gottes.
In Rom geriet das einstige Tagebuch der Schwachen in die Hände der Mächtigen und verwandelte sich damit grundlegend: Ursprünglich ein Medium des Zweifels und der Suche nach Schutz, wurde es nun zu einem Herrschaftsinstrument. Das Machtpotenzial des Glaubens an einen einzigen Gott, der das Universum erschaffen hatte und die Moral bestimmte, war nicht zu übertreffen.
Mit der Kanonisierung aber wurde die Bibel auf dem Stand der Spätantike eingefroren. War sie als Tagebuch immer aktuell gehalten worden, veraltete ihr Wissensbestand nun fortwährend. Die Kluft zu ihren Lesern wuchs von Jahrhundert zu Jahrhundert – und die Bibel wurde zu einer kryptischen Schrift.
Ob die Geschichte des christlichen Abendlandes anders verlaufen wäre, hätten neue Generationen von Autoren die Bibel fortgeschrieben? Auf jeden Fall würde sie heute nicht im Regal vor sich hin stauben, als unverständliche Schrift, die nur noch zu Weihnachten hervorgeholt wird. Womöglich läge ihr voller Spannung erwartetes siebtes Testament gerade allerorten auf dem Gabentisch unterm Weihnachtsbaum.
Carel van Schaik, Anthropologe und Evolutionsbiologe
Kai Michel, Literaturwissenschaftler und Historiker:
„Das Tagebuch der Menschheit.
Was die Bibel über unsere Evolution verrät“.
Rowohlt, Reinbek. 569 S., 24,95 €.
ISBN: 978-3-498-06216-3
Die Niederschrift der Bibel zog sich über Jahrhunderte hin; viele Autoren wirkten an ihr mit, die die Ursprungstexte immer neu überarbeiteten und ergänzten. Es entstand ein Geschichtenbuch, das aber oft auf historische Ereignisse Bezug nimmt: die Entstehung erster großer Reiche, Kriege, Eroberungen und Naturkatastrophen.