Ein Gespenst geht um in Europa: die Angst vor dem Aussterben. In Deutschland wird die Debatte besonders heftig geführt. Warum eigentlich? „Was wir an den Deutschen haben, merken wir vielleicht erst dann, wenn sie noch weniger geworden sind. Warum nicht hundert Jahre früher?“ So die unausweichliche, ironische Reaktion der Engländer auf Prognosen, dass es mit dem deutschen Volk bergab gehe und es – möglicherweise sogar ganz
aus der Welt würde entschwinden können. Warum aber, warum haben die Engländer uns, das walte Gott, so lange warten lassen?
Würde weniger mehr gewesen sein?
Kriegen wir jetzt die wenigen Sachen, die wir an uns Deutschen so schätzen: die BMWs, die Brauereien, die Elektrogeräte, den legalen Datenklau – und all das?
Doch dann fällt mir was ein: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Phänomen des deutschen Nationalismus im zwanzigsten Jahrhundert, dieser außergewöhnlichen Freisetzung von Energie, die so viel Zerstörung verursacht hat, und der Orientierungslosigkeit dieser Tage?
Warum haben die Deutschen aufgehört, sich zu vermehren? Wollen Sie keine blonden Kinder mehr, ist ihnen Bratwurst und Weißbier kein emotionales Engagement mehr wert? Sind sie nicht mehr stolz auf ihre herrlichen Buchläden, auf ihre Kunst, selbst mittelmäßige Mannschaften immer wieder ins WM-Finale zu bringen, auf ihren effizienten öffentlichen Nahverkehr, die Müllabfuhr und die exzellente Straßenreinigung?
Gemeinschaft
Buße für alle
Jedes Land in Westeuropa ist sich der Schande unserer nationalistischen Vergangenheit bewußt. Gewaltige, kampfbereite Gemeinschaften standen sich gegenüber, die nur im Verlangen nach der gegenseitigen Zerstörung zu sich finden konnten. Da dieses Phänomen in Deutschland in seiner häßlichsten Form zum Ausdruck kam, empfinden die Deutschen diese Schande tiefer als andere. Und man hat die Deutschen ermuntert, für alle zu büßen. Nach dem Krieg war verständlicherweise ein Umschwenken ins andere Extrem zu verzeichnen. Der Wunsch nach Gemeinschaft war nicht kleiner geworden, aber jetzt mussten immer größere Gemeinschaften konstruiert werden, die sich nicht auf sich selbst beriefen und die Werte anderer ausschlossen – deutsche, französische, britische, katholische oder protestantische Werte. Diese Gemeinschaften beruhten auf Werten, die Schopenhauer negative Werte, negative Ideale genannt hat: Freiheit (das zu tun, was wir nicht kennen), Frieden und Nicht-Einmischung (ungeachtet der Gefahren), genderalistische Emanzipation*In (egal, wovon und mit welchem Ergebnis), Gleichbehandlung (egal, wie groß die Unterschiede). Das alles war zweifellos richtig.
Was sonst hätten die Europäer im Schutt von 1945 tun sollen? Im Grunde basierte die gesamte Nachkriegskultur auf einem einzigen verneinenden, durch und durch bewundernswerten Gedanken: So etwas darf nie wieder passieren.
So entstand die Europäische Gemeinschaft, der erste große Zusammenschluss von Menschen, der nicht auf Zuwachs und Verstärkung einer kollektiven Identität abzielte, sondern sich als eine Folge von kleinen Kapitulationen begriff: Jedes Land hängte seine Flagge etwas niedriger, und jedes Volk war darauf bedacht, den Wahn von einem separaten Schicksal zurückzudrängen.
Europa über alles …
Wir haben versucht, das Projekt mit Begeisterung anzupacken. Wir hatten ja wohl auch keine andere Wahl. Die Franzosen sehen darin die Stärkung sozialistischer Ideale. Die Engländer stellen es sich als eine Erweiterung der Ideologie vom freien Unternehmertum vor. Und die Deutschen haben vielleicht die Chance gesehen, dass sich ihre nationale Schande in einem großen, optimistischen und entschieden pazifistischen Superstaat in nichts auflösen würde, als finale Blütezeit der Aufklärung wie auch – merkwürdigerweise – als Vollendung einer geläuterten christlichen Welt. Inmitten der Aufregung um die Wiedervereinigung Deutschlands gewann das beruhigende Projekt zweifellos noch zusätzlich an Bedeutung. Der Tatsache, dass auf einer tiefer liegenden geistigen Ebene das Projekt Europa nicht zufriedenstellend verlief und oft mehr Zwist als Gemeinsamkeit produzierte, begegnete man mit immer ehrgeizigeren Idealen: der Einführung des Euro, der Osterweiterung, der Europäischen Verfassung.
Langzeitengagement für irgendein Ideal
Man könnte sagen, dass die Europäer dann am besten funktionieren, wenn man die Langeweile und die Kompromisse des Alltagsgeschäfts als etwas Vorläufiges begreift, das eingebettet ist in ein Langzeitengagement für irgendein in der Zukunft liegendes Ideal: Demokratie, Sozialismus, die Einheit Europas, das Königreich Gottes. Es fällt leichter, die Freuden und Annehmlichkeiten einer hedonistischen Konsumgesellschaft zu genießen, wenn man gleichzeitig davon überzeugt ist, dass man selbst – wie auch die Gesellschaft als Ganzes – im Einklang steht mit verantwortungsvollen und idealistischen politischen Entwicklungen.
Dumm nur, dass es immer schwieriger wird, diese bequeme Strategie durchzuhalten. Idealismus – wohin man auch blickt – interessiert seit über zehn Jahren niemanden mehr. Wir können uns selbst einfach nicht mehr davon überzeugen, dass da tatsächlich an einem verantwortungsvollen, fortschrittlichen Projekt gearbeitet wird. Der Sozialismus hat – was Wunder – uns nicht erlöst; das freie Unternehmertum beschwört nur das Schreckgespenst von Importfluten aus China (oder Polen) herauf; und das Ideal Europa überzeugt keine junge Frau von der Mutterschaft. Und das vielleicht Entscheidendste: Wir haben jegliches Vertrauen in eine Medienlandschaft verloren, die doch eigentlich unsere zersplitterte Gesellschaft zusammenhalten will. Die seichte Phrasendrescherei, die Endlosschleife aus Melodram und Beruhigungspille ist abstoßend.
Bleibt also doch noch nur das Königreich Gottes ?
Nach den orgiastischen Gefühlsausbrüchen nämlich, fangen wir mal damit an: rund um den Tod von Johannes Paul II. hatte der religiöse Konservatismus mit Benedikt, diesem fundamentalistischen Bigottling, Konjunktur, besonders (und merk-würdig genug) unter jungen Menschen – und dann kam Franziskus, der Revolutionär – wie es schien. Aber, musste mittlerweile festgestellt werden dürfen: Der wäscht auch nur mit Wasser. Aber halt mit allen …
Und wenn man dann an garnichts mehr glauben kann oder nichts mehr da ist, um das herum sich eine Gemeinschaft bilden kann, dann kehren wir zurück zu Gott? – Wer immer das ist …
Es ist nämlich der christliche Glaube in Westeuropa eine ziemlich armselige und kraftlose Zuflucht, verglichen mit dem starken, stolzen, oft genug fundamentalistisch ein herkommende Islam. Sicher, es gibt eine christliche Liturgie, und für die krankhaft Ängstlichen auch einen Moralkodex, aber die alles durchdringende Leidenschaft fehlt. Tief im Innern wissen wir, jeder steht (und stirbt) für sich allein. Wir sind nicht mehr Teil einer „religiösen“ Gemeinschaft, die uns Mut macht und zur Mutterschaft ermuntert.
Wo aber bleibt der Glaube – an uns selbst?
Kürzlich ergab eine Umfrage, dass wir fast auf allen Gebieten pessimistisch in die Zukunft blicken, derweil derzeit Flüchtende nicht nur aus Syrien gespannt und hoffnungsfroh nach vorn schauen. Sie bilden eine Gemeinschaft. Oder viele Gemeinschaften. Oder Parallel- sowie Gegengesellschaften. Sie wollen es schaffen, ihre gemeinsame Identität ist von Kampfbereitschaft geprägt. Sie fangen in tiefster Armut an, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse werden sich bessern in dem Maße, indem sie für unser aller Bruttosozialprodukt einen Beitrag geleistet haben werden.
Es werde Licht …
und ihr religiöser Glaube wird durch den Kontakt mit dem dekadenten Westen gestärkt. Sie setzen freudig Kinder in die Welt, damit die ihre Zuversicht und ihren Glauben teilen können.
Nur noch Fußball sinnstiftend?
Wir können ihnen weder nacheifern noch von ihnen lernen. Unseren Individualismus und Skeptizismus kann man nicht einfach wieder zurückdrehen. Manchmal müssen wir den Eindruck haben, dass die einzigen begeisterungsfähigen, positiven Gemeinschaften, die wir uns noch zu bilden trauen, die rund um derzeit gerade um angesagte Fußballmannschaften sind.
Versuchen wir, ernst zu bleiben und zu guter Letzt: Könnte es sein, dass der militante Islam oder die chinesischen Importe uns retten werden? Mit dem Rücken zur Wand werden wir erkennen, dass unsere Freiheiten es tatsächlich wert sind, sich Gedanken darüber zu machen. Wenn wir erst mal arbeitslos und ärmer sind, dann werden wir gezwungen sein, auf neue Art und Weise zusammenzuleben. Der Fehler aller grobschlächtigen demographischen Vorhersagen ist, dass wir nicht wissen, wie die Menschen auf den Ernstfall reagieren werden. Das Leben wird sich (seis drum!) ziemlich verändern, wenn es nur noch sechzig Millionen Deutsche gibt. Oder zwanzig … (gott)