Endlich wissen wir also, wie das Imperium Germanicum sterben wird. Guido Westerwelle, FDP-Vorsitzender, Außenminister und jetzt offenbar auch Teilzeit-Historiker, hatte eine Horrorvision vom Ende deutscher Größe. Er teilte sie in einem Gastbeitrag für die Zeitung „Die Welt“ mit: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“
Gerichtet war dieser Kassandra-Ruf an alle, die jetzt höhere Hartz-IV-Sätze fordern. Das Bundesverfassungsgericht hatte der Politik am Mittwoch eine schallende Ohrfeige verpasst: Die Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern müssen neu berechnet werden.
Westerwelle vermutet also spätrömische Dekadenz in Deutschland und macht indirekt Hartz-IV-Empfänger dafür verantwortlich. Da darf man sich schon mal besorgt fragen: Welche apokalyptischen Szenen mag Westerwelle der Seher vor seinem inneren Auge erblickt haben? Enthemmte Hartz-IV-Horden, die sich für ihren Regelsatz von 359 Euro kistenweise Aldi-Schampus kaufen? Und die dann auf ihren Third-Hand-Sofas aus dem Caritas-Möbellager wilde Orgien feiern, bei denen ganz neue Almosenempfänger-Generationen gezeugt werden?
Man muss kein Populist sein, auch kein Anhänger der Linkspartei, ja man muss nicht einmal finden, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind, um Westerwelles so warnende Worte als das zu sehen, was sie sind: Eine historisch unhaltbare, perfide, aus rein populistischem Kalkül betriebene Beleidigung des schwächsten Teils der deutschen Bevölkerung.
Wenn Westerwelle über spätrömische Dekadenz in Deutschland reden will, sollte er über andere Menschen reden als Hartz-Empfänger – doch dann müsste er seine eigene Klientel beleidigen. Die Historiker sind notorisch zerstritten, wenn es um die Frage geht, wie das Römische Reich im Orkus der Geschichte verschwinden konnte. Die Invasion der Barbaren aus dem Norden und die ständige Bedrohung durch das Persische Reich im Osten stehen relativ weit oben auf der Liste, auch der Aufstieg des Christentums mag das römische Staats- und Gesellschaftswesen unterminiert haben.
Dekadenz des Geistes
Nur in einem sind sie sich ziemlich sicher: Wenn da etwas richtig faul war im Staate Rom, dann die intellektuell korrumpierte und luxussüchtige Elite. Also das eine Prozent der Bevölkerung, das alle Reichtümer Roms unter sich aufteilte – aber ganz sicher nicht die verarmte Unterschicht.
Guido der Seher hätte also von materieller Dekadenz in Deutschland sprechen können, über die Banker zum Beispiel, die nach einer Krise, an deren Folgen die ganze Welt leidet und die sie maßgeblich verantwortet haben, nun fette Boni einstreichen. Und er könnte – ohne dem Stammtisch das Wort zu reden – auch vom lebensfernen Dasein der Berliner Classe Politique berichten, von fahrbereitschaftlich zur Verfügung gestellten Luxuskarossen, von Empfängen und Anlässen, bei denen Büffets aufgetürmt sind, so reichlich bestückt, das noch jedem Hartz-IV-Empfänger der Magen übergehen würde.
Aber Westerwelle ist Chef einer Partei der Besserverdienenden, einer Elitenpartei. Und einer FDP, die – und hierin steckt womöglich der größte Affront – intellektuell so verkommen ist, dass sie den Liberalismus als Glaubensbekenntnis herunterbetet, nur um gleichzeitig ihrer Klientel großzügige Staatsgeschenke zu überreichen, die jeder liberalen Marktlogik widersprechen.
Statt sich um das Gemeinwohl zu sorgen, schaufelten sich die Machthaber im alten Rom mit Luxus zu und garnierten diese Selbstversorgung auf Kosten der Allgemeinheit mit wohlfeilen Worten. Der Verfall des Staates ging einher mit einem Verfall der Sitten und dem Verrat an einem Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit – so nahm das Ende des Imperiums seinen Anfang.
Wenn man sich also der berühmt-berüchtigten Anfänge erwehren will, wenn es also in Deutschland tatsächlich eine Dekadenz geben sollte, über die man jetzt dringend reden müsste, dann ist es die des Geistes, die in Guido Westerwelles Worten ihren schamlosen Ausdruck gefunden hat. Lesen Sie hier die Einleitung zur Urteilsverkündung in Sachen Hartz IV vom Vorsitzenden des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier.
Kategorie | Ausgaben* | Anteil in Prozent, den die Regierung Hartz-IV-Empfängern anerkennt | Hartz-IV-Bezug in Euro |
Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren | 133 | 96% | 127 |
Bekleidung und Schuhe | 34 | 100% | 34 |
Wohnen einschl. Energie, -instandhaltung | 322 | 8% | 24 |
Einrichtungs-, Haushaltsgegenstände | 27 | 91% | 25 |
Gesundheitspflege | 18 | 71% | 13 |
Verkehr | 59 | 26% | 16 |
Nachrichtenübermittlung | 40 | 75% | 30 |
Freizeit, Unterhaltung, Kultur | 71 | 55% | 39 |
Bildungswesen | 7 | 0% | 0 |
Beherbergungs- /Gaststättendienstleistung | 28 | 29% | 8 |
Andere Waren und Dienstleistungen | 40 | 67% | 27 |
Insgesamt | 779 | ||
Insgesamt ohne Wohnkosten | 483 | 345 | |
*Errechnung des Hartz-IV-Satzes auf Basis der Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach Nettoeinkommen geschichteten alleinstehenden Haushalte. Empfänger, die überwiegend von Leistungen der Sozialhilfe gelebt haben, sind nicht berücksichtigt. Quelle: EVS 2003 **Seit 1. Juli 2009 beträgt der Regelsatz 359 €. |
12.Feb..2010, 19:06
Wunderbar! Dem obigen kritischen Beitrag ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Vizekanzler Westerwelle hat den neoliberalen Ungeist mit spätrömisch-imperatorischer Dekadenz auf den Knackpunkt gebracht. Dagegen brauchen wir den vehementeren Aufbruch als bisher, denn so viel Klarheit war selten in letzter Zeit.
Ich empfehle, z.B. dem Institut „Solidarische Moderne“ beizutreten, das gerade gegründet wurde und bereits viele Unterstützer gewonnen hat – lagerübergreifend, aber antineoliberal! Es gibt viele Möglichkeiten.
Gruß
F.Feder