Unmittelbar am Rande des Gebiets der ehemaligen Pontinischen Fiebersümpfe Latiums, deren Trockenlegung schon die Römer, dann Papst Leo X. zu Leonardo da Vincis Zeiten, dann die Preußen und schließlich – erfolgreich – Mussolini zu bewerkstelligen versucht hatten, liegt direkt am Meer die italienische Kleinstadt Nettuno, früher ein Fischerdorf, heute ein Badeort. Schon der italienverliebte Dichter Goethe hatte zusammen mit seinem Freund, dem Maler Tischbein, diese Sümpfe dereinst besucht und schließlich auch in Nettuno Halt gemacht. Das soll im Februar 1787 gewesen sein.
Und wie es heißt, ließ sich der Dichter damals von der modrigen Naturlandschaft zu einer ahnungsvollen Szene in seinem Faust II anregen:
Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
verpestet alles schon errungene;
den faulen Pfuhl auch abzuzieh´n,
das Letzte wär das Höchsterrungene.
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen.
Gut 150 später, im Januar 1944, landeten in völlig anderer Mission die West-Allierten bei Nettuno und der unmittelbar anliegenden Zwillingsstadt Anzio. Es begann damit die „Operation Dachschindel“, eine amphibische Landungsoperation, angeführt vom sechsten Corps der US-Armee. Sie hatte das Ziel, eine Hauptverteidigungsader der Okkupatoren der Deutschen Wehrmacht bzw. SS-Divisionen zu zerschlagen und den Weg nach Rom von dieser Seite her freizumachen. Nettuno und der Hafen von Anzio konnten schließlich erobert werden. Rom wurde alsbald befreit.
Heute ist Nettuno, dessen Name auf den römischen Gott Neptun zurückgeht, ein zierliches und zugleich doch auch wuchtig umrahmtes Hafenstädtchen. Zierlich wegen seiner verspielten Parks, Gassen, Plätze und liebevollen Marktstände. Wuchtig wegen seines antiken Hafens, in dem nun stattliche Segeljachten festgezurrt sind, wegen seiner großen Festung Sangallo am Meer und auch wegen des riesigen, amerikanischen Gedenkfriedhofs, wo die in der Großregion von Sizilien bis Rom gefallenen US-Soldaten ihre letzte Ruhe gefunden haben, darunter auch die von Anzio-Nettuno. 7862 weiße Kreuze legen hiervon Zeugnis ab.
Nettuno im Juni 2017:
Jene bellizistischen Zeiten von damals sind längst vorbei, wenngleich sich neue Bitterkeiten wie ein Mentekel am Horizont abzeichnen. Auch das Meer bei Nettuno scheint nicht mehr zu sein, wie es einmal war. Es ist unabdingbar Teil des tödlich verwundeten Mittelmeers. An einem herrlichen Sommertag mit klarem Licht spaziere ich mit meiner für jedwedes kulturell wertvolle Besichtigungserlebnis leicht zu gewinnenden Römerin, der ich 48 Jahre zuvor etwas weiter südlich am Strand von Rio Martino begegnet war, zunächst durch den Stadtkern von Nettuno. Ich ziemlich fußlahm wegen zweier mich plagender Fersensporne, sie ihren deutlich schnelleren Schritt beständig abbremsend und besorgt dem meinen anpassend, kommen wir schließlich zum Hafen, durchstreifen wir die Festungsgemäuer und geraten wie in eine andere, stillere Zeit. Trotz angenehmer Brise schwitzend und Schatten suchend verlieren wir uns in jenen Gassen und Ecken unweit des Meeresstrandes. Wir können das gleichmäßige Rauschen der nahen Wellen immer wieder hören. Noch ist es nicht Saison für den Massenansturm der Touristen. Wir sind allein mit ein paar anderen, verträumten Pärchen.
Schlendernd kommen wir zu einer anheimelnden Piazetta
Diese unsere Aufmerksamkeit weckt sie auch deshalb, dieweil es gerade angenehm nach guter Küche duftet. Auf dem kleinen, fast versteckten Platz sehen wir in einem Winkel, wo oben im ersten Fenster frische Wäsche hängt, ein paar mit weißen Papierdecken drapierte Tische und dazu gehörende Stühle. Ein junges Paar sitzt verloren, jedoch sehr einander zugetan, an einem der Tische. Offenbar sind viele, andere Gäste schon gegangen, es ist bereits weit über Mittag. Die lauschige, einfache Lokalität bietet Schatten, und unsere Mägen beginnen wie auf Kommando zu knurren. Ein älterer Herr, offenbar der Chef des kleinen Ristorante del Barone, der uns mit wachen und interessierten, jedoch nicht eilfertigen Augen beobachtet, weist uns nach einer Weile einen Platz zu, obwohl er sichtlich schon daran war, bis zur Wiederöffnung am frühen Abend sein Lokal zu schließen. „Alles kein Problem, Signori! Bitte, am besten hier vielleicht oder da oder vielleicht besser dort?“
Gerne nehmen wir Platz und bestellen durstig erst einmal eine Flasche Wasser, die von einem jungen Kellner, der uns ebenfalls neugierig beäugt, aus der etwa vierzig Meter entfernten Küche auf der diagonalen Gegenseite der Piazetta zusammen mit dem unverzichtbaren Körbchen Weißbrot gebracht wird. Italiener sind notorische Weißbrotesser.
Sage ich: „neugierig beäugt“, so ist dies zumindest im Deutschen eher das falsche Wort, denn es geht, man spürt es auch in diesem Fall an der Art des Blickens, keineswegs um „Gier nach Neuem“, es ist ein alleweil reges Interesse am fremden Gast, das auf eine sehr besondere Weise unaufdringlich und zugleich zugewendet daher kommt. Es ist ein mit Milde und Freude gepaartes, gerne auch staunen wollendes Herantasten und Begutachten, wie man es selbst in Italien nicht so einfach findet. Es ist, wie wir später feststellen: neapolitanische Curiositá gepaart mit Gastfreundschaft im besten Sinne der Worte, ein unter Menschen seit archaischen Zeiten eigentlich übliches, aber in unseren Breitengraden weitgehend ausgestorbenes Verhalten mit Haltung.
Während wir nach Durchsicht der auf den ersten Blick einfachen Karte und mit dem Odeur von gesottenem Fisch oder Meeresgetier in der Nase die nächste Bestellung aufgeben, sind plötzlich wie aus dem Nichts fünf Kellner oder Gesellen zusätzlich zum Chef aufgetaucht, vier junge Männer und eine junge Frau. Indessen haben wir uns für ein Antipasto aus dem Meer entschieden – alice fritte, calamaretti, merluzo in pastella – und dieser ward unverzüglich gebracht. Das Team des kleinen Restaurants umkreist uns in feiner Distanz, wobei es, wie man erkennen kann, versucht, unsere Wünsche beziehungsweise den Grad unserer gastronomischen Zufriedenheit zu erraten beziehungsweise an unserer Körperhaltung und unseren Gesten abzulesen.
Schließlich, nachdem wir die ersten Platte mit großem Genuss fast geleert haben und an unserem vino bianco di casa nippen, tritt der untersetzte Chef mit den großen Augen, nennen wir ihn fortan Barone, an unseren Tisch und beginnt ein kleines Gespräch.
Natürlich möchte er wissen, wo wir her kommen, wer wir sind. „Ach ja, aus Rom die Dame, sehr wohl, Italienerin, na klar, und der Herr aus Germania, ach ja, schön, sehr schön. Aha, aus der Stadt Heidelberg. Nein, die kenne ich nicht, aber sicher ist es eine sehr schöne Stadt. Rom ist ja groß, aber auch schön. Ich bin in Neapel geboren. Oh, aha, der Herr ist Journalist, welche Freude, mein Herr, willkommen!“ Meine Römerin hatte mich in ihrer unvergleichlichen Art als einen solchen vorgestellt, wo ich doch gerade mal „Jungautor“ bin mit meinen bald siebzig Jahren.
Die Mittagssonne duckt sich allmählich über das Restaurantdach weg, der kühlende Schatten wird intensiver, während wir immer mehr in ein angeregtes Plaudern vertieft sind, zu dem sich nun auch das gesamte Team gesellt, um zuzuhören und ab und zu eine Bemerkung zu den angebotenen Speisen der neapolitanischen Küche, in deren Genuss wir gerade gekommen sind, zu machen oder uns einfach zuzunicken oder zu scherzen. Sicher speist der „Signore Scrittore“ aus Germania zu Hause an einem Tisch, der mit gutem Stoff gedeckt ist, meint unser aufmerksamer Chef. „Hier haben wir leider nur Papier, entschuldigen Sie bitte.“ Nein, nein, winke ich ab, auch bei mir zu Hause kommt es auf die Speisen an. Diese hier sind exzellent, füge ich hinzu.
Das ist das Zeichen, auf das der Barone gewartet zu haben schien
„Mein Herr, meine Dame, was dürfen wir Ihnen noch bringen, bitte, das geht nun aufs Haus. Noch ein anderer Antipasto, ein Primo Piatto, ein Secondo, was darf es sein?!“ Wir danken und geben uns als bereits gesättigt aus, aber ein dezidierter Wink genügt und etwas später wird eine Platte mit Frutti di Mare, vor allem Muscheln, gebracht, denen Spaghettoni beigefügt sind. Es handelt sich um ein Sauté di Cozze e Vongole, das prima passt und trefflich mundet, während der Wein allmählich zur Neige geht. Den Vorschlag des Barone, noch eine zweite Karaffe mit Wein zu bringen, wehrt meine Römerin entschlossen ab. Wir haben noch zu fahren, begründete sie ihren Willen zu unserer Abstinenz. Rom besiegt sozusagen in diesem Moment Neapel und der begehrliche Bacchusjünger aus Heidelberg bleibt dabei auf der Strecke.
Aber manchmal macht man, in diesem Fall meine Römerin, die Rechnung eben ohne den pfiffig-entschlossenen Wirt aus Neapel. Derweil die Rechnung, um die wir zwischenzeitlich gebeten hatten, beglichen wird, steht plötzlich noch ein kleines Tablett mit zwei Espresso und einer gelben Grappa auf dem Tisch, einer Grappa Invecchiata, also was Gutes und Edles, weil Altes, von den zuckrigen, braun-schwarzen Schlückchen aus den Tässchen gar nicht erst zu reden. Ich muss wohl meiner manchmal recht protektiven Römerin leicht triumphierend in die Augen gesehen haben, während ich das Gläschen hob, jedenfalls meinte ich ein Blitzen in ihren dunklen Augen zu spüren, das sowas auszusagen schien wie: Männerpakte, caramba, die kriegen´s immer irgendwie hin! Ist gut gegen Malaria, gebe ich verbal scherzend unter Anspielung auf die Pontinischen Sümpfe zurück.
Das junge Lokalteam ist wieder auf feiner Distanz, man lächelt uns zu, während wir die letzten Schlückchen zu uns nehmen. Längst ist deutlich mehr als ein Stunde vergangen, wir fühlen uns etwas schuldig, Zeit geraubt zu haben. Bleiben Sie, bleiben Sie, bleiben Sie hier sitzen, Signori, wir sehen uns in zwei Stunden wieder, wir sind nur mal kurz weg, kontert der Barone unsere erratenen Gedanken. Dann ist er ebenso wie sein Team plötzlich verschwunden. Auch das Paar am Nebentisch hat sich zwischenzeitlich entfernt, ohne dass wir dies so recht bemerkt hatten. Allein zu zweit sitzen wir noch eine Weile einfach so da – schweigend und träumend im neapolitanischen Ristorante al Barone in Nettuno. Ein Hauch von Neapel in Nettuno. Dann, nach dieser Weile der Ruhe beschließen wir ganz rasch, im nächsten Jahr Neapel zu sehen. Unser Weg wird über Nettuno führen.
Vom deutschen Dichterfürsten, der den berühmtesten aller lokalen Neapel-Sprüche aufgegriffen hat, ist auch die folgende Sentenz überliefert:
„Neapel ist ein Paradies,
jedermann lebt in einer Art
von trunk´ner Selbstvergessenheit.
Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum,
ich scheine mir ein ganz anderer Mensch.“
Ja, einmal in diesem Sinne sich ein ganz anderer Mensch sein …
Es ist wohl auch heute noch so mit dieser Stadt. Wir müssen da hin, dies zu prüfen, zu erleben!