Besteht nicht ein unüberbrückbarer Graben zwischen Vernunft, Wissen und Glauben? Gibt sich nicht Vernunft als präzises Denken nach dem Maßstab des Wissenschaftlichen aus, derweil dem Glauben zugestanden wird, solcher Maßstäbe nicht zu bedürfen, dass er hingegen ins Vage, das Unkontrollierbare und weniger Feste abdriften dürfe? Allenfalls mag er, um auch seinen sicheren Boden zu haben, sich an Offenbarungen, heilige Bücher und Dogmen halten, die aber nur aus ihm selbst Verbindlichkeit gewinnen und andere zu nichts verpflichtet.

Der Wurm drin …

„Das stärkste Argument gegen das Christentum sind die Christen; die Christen, die nicht christlich sind. Das stärkste Argument für das Christentum sind die Christen; die Christen, die christlich leben“. Das schrieb der katholische Theologe Hans Küng und, eigentlich ist daran kaum etwas erstaunliches. Hat sich nicht aus dem Marxismus der Stalinismus entwickelt, aus dem „Citoyen“ wurde flugs der „Bourgeois“, auf die Bergpredigt folgte die „Konstantinische Schenkung“ (diese Urkunde stammt allerdings nicht nur nicht aus dem 4. Nachchristlichen Jahrhundert, sondern ist eine viel spätere Fälschung, an der die Kirche mitwirkte, weil sie damit begünstigt wurde). Nehmen wir also zur Kenntnis: Überall ist der Wurm drin …

Versuchen wir uns mal in Glaubensfragen
mit dem „Buch der Bücher“ :

Sind da aber nicht denkende Menschen aufgeschmissen – es sei denn, sie lassen sich Inhalte von glaubend-denkenden Bibellesern interpretieren? Dies Buch nämlich überläßt die Lösung von Problemen der persönlichen Entscheidung, sie gängelt nicht, sondern provoziert individuelle Antworten.
Die Bibel ist ein mehrgängiges, scharf gewürztes und teilweise schwer verdauliches Menue. Wir dürfen nicht alle Zutaten einfach durch ein Sieb pressen und den Saft dann flaschenweise feilbieten, und, aber nein, da muß schon jeder selber dran kauen.
Nehmen wir als Beispiel dafür den bis heute nicht beigelegten Theologenstreit um das theologisch-physiologische Mysterium der Jungfrauengeburt – und geben Thomas von Aquin das Wort: „Wie die Strahlen der Sonne die feste Masse des Glases durchdringen, ohne sie zu brechen oder irgendwie zu verletzen, auf ähnliche und noch erhabenere Weise trat Jesus Christus aus dem mütterlichen Schoß ohne den geringsten Nachteil für die Jungfräulichkeit seiner Mutter hervor.“
Wer wird selig? Genau: Wers glaubt! – So einfach geht das …

Goethes „Erlösungsvorgang“

Gönnen wir uns noch einen kleinen Schlenker zu Johann Wolfgang von – und wenden wir uns hin zu seinem Faust:
„Der Erdenkreis ist mir genug bekannt, / Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; / Tor, wer dorthin sein Auge blinzelnd richtet, / sich über Wolken seinesgleichen dichtet.“
Wer im Zwiespalt lebt, verteidigt um so hartnäckiger die Widersprüche seiner Position. Das Heidnische und das Christliche sind gleichermaßen hienieden angesiedelt, die abendländische Geschichte bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Dividiert man dann noch Protestantismus und Katholizismus, gerät man in die bekannten Zerreißproben. Thomas Mann hat sich dagegen ereifert, er hat sich geärgert über den Erlösungsvorgang am Ende des Faust, wo ja Engel „Faustens Unsterbliches“ (so die Regieanweisung) der Verklärung entgegen tragen. Mit allem Glanz katholischer Versinnbildlichung.
Wo bleibt da, fragte Thomas Mann kokett entrüstet, die protestantische Charakterstärke. Worüber entrüstet er sich? Über einen weihrauchduftenden Opernhimmel mit Mater gloriosa, Engelchören, Pater profundus, Pater seraphicus, mit Büßerinnen und blondgelockt-seligen Knaben – lassen wir der Bühne ihr Spiel und lassen Faust unseren letzten Schlenker in Sachen letzte Dinge einleiten:

„Zwar weiß ich viel, doch möchte ich alles wissen.“

Heraklit (ca. 540 – 480 v. Chr.) bereits hat den symbolischen Charakter der Religion entdeckt: „Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger; er wandelt sich aber gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermischt wird, nach dem Duft eines jeden so oder so benannt wird.“ Im absoluten Geist Gottes lösen sich die Gegensätze auf, der innerste Kern der Natur ist das göttliche Weltgesetz.
Mählich beginnt es selbst den Profiteuren des Fortschritts zu dämmern, dass sich Unheil zusammenbraut über einer Gesellschaft, die bislang glauben durfte, ihre Existenz vornehmlich auf die regulierende Kraft der Märkte gründen zu können, und dies ohne Rückkoppelung an jene Bereiche, die wir, ohne Ansehen der Konfessionen, als Religion bezeichnen.
Keine der Religionen verheimlicht die Gebrechen der diesseitigen Welt und ihrer Menschen. Wer die Bibel liest, erfährt ungeschminkt menschliche Realität, vom Lächerlichen bis zum Erhabenen, vom Sanften und Rührenden bis zum Schrecklichen und Barbarischen, von der innigen Liebe bis zum tödlichen Hass. Von Kain und Abel bis zum Kreuzestod Christi durchzieht die Bibel eine einzige Kette von menschlichen Miserabilitäten, gegen die so manches Skandalon unserer Tage eher harmlos anmutet.
Trotz – oder wegen – dieses Wissens um die schreckliche Unzulänglichkeit des Menschen versucht die Religion in allem, was dieser ausrichtet und anrichtet, jenen Punkt ausfindig zu machen und auf ihn hinzudeuten, an dem Katharsis, Reinigung also, und somit Erlösung von menschlichem Übel möglich wird.

Der Boden unter den Füßen. Der Himmel über uns. Glauben?

Die kopernikanische Revolution hat das religiöse Erleben verändert. Da sie die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt entfernte, hat sie die Himmel abgeschafft, die bis dahin die Menschheit schützend umhüllten. Dies führte zu einer „Desastronomisation des Himmels“ im religiösen Sinn des Wortes. Er ist nicht mehr „oben“, er ist „jenseits.“ Insofern wird die Raumfahrt das religiöse Erleben wohl kaum irgendwann beeinträchtigen. Existentiell ist sie die Erfahrung, dass die Begriffe „oben“ und „unten“ nur relativ zu Körpern bedeutungsvoll werden, und dass auch die aus ihnen folgenden Begriffe wie „erhaben“ und „infernal“ relative Bedeutungen haben. Die Astronomie steht nicht mehr im Gegensatz zur Religion, und der Streit um Darwin war wahrscheinlich der letzte dieser Art von Auseinandersetzung. Denn die Begriffe „Glauben“ und „Wissen“ sind einem Bedeutungswandel ausgesetzt, der mit Kopernikus  einsetzte.
„Glauben“ bedeutet nicht mehr „Fürwahrhalten“, sondern „Vertrauen“.
„Wissen“ bedeutet nicht mehr, eine unbezweifelbare, sondern eine anzuzweifelnde, aber vertrauenswürdige Information zu besitzen.

Mithin sind Glaubensprobleme nicht mehr vom Typ „Ist das wahr?“,
sondern vom Typ „Kann ich mich darauf verlassen?“

Und, die Aussagen der Wissenschaft sind zwar vertrauenswürdig, aber wenn sie nicht zweifelhaft sind, sind sie nicht wissenschaftlich, also nicht „wirkliches Wissen.“ Dies aber bedeutet, dass Glauben und Wissen nicht mehr im Konflikt stehende, sondern komplementäre, also sich gegenseitig ergänzende Stellen in unserem Bewußtsein besetzen. Wir glauben an die Wissenschaft und halten dennoch religiöses Erleben für eine Quelle dieses Wissens. Ein derartig sich gegenseitig Ergänzendes ist aber wenig geeignet, Glauben und Wissen zu stützen. Beide, Religion und Wissenschaft, „verwässern“, wenn sie „verschwimmen“.
Ein Beispiel: Das Bett, in dem ich liege, ist ein Schwarm von Atompartikeln, welche im leeren Raum schweben. Ich weiß das und vertraue dennoch der Solidität, der Zuverlässigkeit meines Bettes. Ein solches Vertrauen zur Solidität der objektiven Welt ist keineswegs antiwissenschaftlich, es macht im Gegenteil Wissenschaft überhaupt erst möglich. Und das Wissen von den Atomstrukturen unterhöhlt nicht etwa das Vertrauen, sondern es stützt es. Dennoch entwirft die Wissenschaft das Bild einer hohlen Welt, was nun wiederum das Vertrauen unterhöhlt, das wir zu den Aussagen der Wissenschaft hegen. Der Kreis des sich gegenseitig Ergänzenden von Glauben und Wissen aber unterhöhlt beide.

Seis drum, es läßt sich einwenden, das gewählte Beispiel habe zwar mit Glauben im allgemeinen, nichts aber mit religiösem Glauben zu tun. Der religiöse Glaube sei gerade nicht Vertrauen zur objektiven Welt, sondern zu einem jene Welt transzendierenden, also einem die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt überschreitenden „Urgrund.“ Es sei gerade der religiöse Glaube ein Durchbruch durch die Welt der Objekte. Ein solcher Einwand ist falsch! Zwar gibt es religiöse Erfahrungen, welche die objektive Welt als einen die Wirklichkeit verhüllenden Schein erleben, jedoch sind sie für die Religiosität nicht charakteristisch. Im Gegenteil erlebt Religiosität die objektive Welt als wirklich, nämlich als „geschaffene Werke“.

Hinter den Dingen …

Jene unsere Erfahrungen überschreitende Welt, die Religiosität „hinter den Dingen“,  erlebt heute die westliche Wissenschaft, das heißt, sie öffnet den Raum, von dem aus die Dinge objektiv erkannt und behandelt werden können. Es ist eben dieser „Urgrund“ in welchem Theorien und aus welchem Techniken angewendet werden. So wäre, so ist der Glaube an die Zuverlässigkeit der objektiven Welt ein Aspekt des westlichen religiösen Glaubens. Mithin kann von einer „Krise des Glaubens“ keine Rede sein. In diesem Sinne nämlich sind wir alle religiös geblieben: Wir glauben an die Solidität, wir glauben an die Zuverlässigkeit der Dinge. Würden wir  d i e s e n  Glauben verlieren, wir würden wahnsinnig werden, unfähig, in der Welt, wie wir sie erleben, zu leben.

Ich glaube! Also bin ich?

Wissenschaft ist zu einer unserer traditionellen Religionen geworden. Und sie ist in der Krise. An der Oberfläche ist die religiöse Situation außerordentlich komplex. Die einen wollen den Glauben an Gott gewaltsam (zurück) erobern. Andere, weniger radikal, wollen zumindest das Vertrauen zur Wissenschaft aufrechterhalten. Und die ihres dumpfen Glaubensverfalls bewußte Masse läßt sich treiben. Hingegen ist die Lage außerordentlich einfach: Das Vertrauen zum Menschen – und daher zu Gott und zur objektiven Transzendenz – ist vernünftigerweise unmöglich geworden. Bei alledem ist es ja aber nicht so, dass wir an der Vertrauenswürdigkeit des Menschen zweifelten, hingegen sind wir überzeugt, dass der Mensch kein Vertrauen verdiene – weder als Handelnder, noch als Wissender. Wir zweifeln nicht am Menschen, wir verzweifeln an ihm. Wir verzweifeln an uns …

Der Glaube kann mit dem Zweifel leben, dies zumal, wenn wir meinen, er könne ohne Zweifel nicht sein. Die Verzweiflung aber tötet den Glauben. Die Wissenschaft ist nicht zuletzt eine Methode des Zweifelns. Infolge aber einer Verzweiflung am Wissen, bei totaler Skepsis, ist die Wissenschaft am Ende. Unsere Verzweiflung am Menschen – tötet sie Gott? Es ist gleichgültig, ob wir verzweifelte Ausbruchsversuche als Befreiungsversuche oder als letzte Verfremdung ansehen. Sag ich es zu guter Letzt „anders“: Das gegenwärtige religiöse Er-leben ist wieder allgemein („katholisch“) und abgründig geworden. In allem Erleben äußert es sich als Fehlen eines Grundes.
Dass wieder religiös empfunden wird (ohne dies freilich immer beim Namen zu nennen), das unterscheidet uns von unsren Vorfahren. Ob aber diese Tiefe des religiösen Erlebens uns Trost in der Verzweiflung spendet, das ist eine andere Frage. Diese vielleicht:

Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?

Solche Fragen rühren an „letzten Dinge“, die nach traditionellem Verständnis Sache der Theologie und des Glaubens sind. Was nicht sagen will, da werde am Ende ein irrationaler „Sprung“ gefordert. Auch die Theologie muss insofern „vernünftig“ bleiben, als sie im Sinne der von ihr ja beanspruchten Wissenschaftlichkeit ihre Aussagen nicht an einer besonderen Art von Wahrheit („Glaubenswahrheit“ contra „Vernunftwahrheit“) festmachen kann. Wollte sie das tun, entzöge sie sich jedem rationalen Diskurs. Auch wenn Theologie ihre Sache so betreibt, dass sie, was sie sagt nicht mehr auf sich selbst, sondern auf Offenbarung, auf das Wort Gottes oder was auch immer zurückführt, so bleibt ihr nicht erspart, eben diese Rückführung vor der Vernunft zu rechtfertigen. Der Pluralität vieler „Vernünfte“ wegen,  kann es nicht ausbleiben, dass die Theologie – und im weiteren Sinne der Glauben – das, was dort „Vernunft“ heißen soll, erst einmal angeben und ausweisen muß, und zwar im Hinblick auf die Möglichkeit, das Gespräch mit Nichttheologen und mit jenen, die dem Glauben fernstehen, weiterzuführen. Konkret fordert das ein Ernstnehmen solcher Rationalitätsformen, wie sie vom heute herrschenden wissenschaftlichen, insbesondere dem naturwissenschaftlichen Denken, praktiziert werden. Das meint keine modische Anpassung. Aber der Theologe wird am überzeugendsten bei seiner Sache bleiben können, wenn er die Sache auch der Physiker, der Biologen und der Techniker in sein Denken aufnimmt. Erst dann nämlich wird es ihm möglich sein, in Gemeinsamkeit mit anderen solche Fragestellungen zu entwickeln, die jeweils von jedem Punkt des Interesses aus auf das Grundsätzliche zielen. Denn nicht in fertigen Aussagen liegt das Verbindende unterschiedlicher Rationalitätsformen, sondern in der Offenheit für die Gewinnung neuer Horizonte des Fragens, in der Möglichkeit auch des In-Frage-Stellens.

Was allem Dasein, ja dem Sein im Ganzen, Ursprung und Grund gibt, kann keine Vernunft sagen, weil sie ja selbst in dieses Dasein verwoben ist. Aber, sie kann ihre Stärke darin erweisen, dass sie dem Glauben, da sei ein Grund, nicht feindselig widerspricht, sondern ihm den Weg offen hält.
Das walte …                                                                                                                          got

Jul 2023 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren