Nachdem der Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Prof. Dr. Walter Mühlhausen in einer launigen Rede erzählt hat, was, wann, wer in der – und für die – Stiftung getan hat, kam der von ihm eingeladene Gastreferent Dr. Alfred Geisel (Fotos: Helmut Pfeifer) zu Wort, der 24 Jahre – davon 16 Jahre als Vizepräsident – Mitglied des Baden-Württembergischen Landtages war. Seinen engagierten Vortrag zum Thema „Was gefährdet die Demokratie?“ wollen wir Ihnen, stellvertretend für alle bei Neujahrsempfängen gehaltenen Reden, nicht vorenthalten:
Als langjährigem Mitglied im Kuratorium der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte ist mir die ebenso ehrenvolle wie schwierige Aufgabe übertragen worden, Ausführungen zu einem Thema zu machen, das viele Menschen aus Sorge um die weitere politische Entwicklung unserer Gesellschaft umtreibt – weltweit und bei uns in Deutschland. Ich danke unserer Stiftung für dieses Vertrauen und ich hoffe, meinem Auftrag einigermaßen gerecht zu werden. Dabei muss ich vorab um Ihr Verständnis für eine rein subjektive, persönliche Bewertung dieses Themenkomplexes bitten. Sie wird auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können.
Da das Jahr 2017 erst wenige Tage zählt, darf ich Ihnen allen, die Sie heute den Weg in unsere Gedenkstätte gefunden haben, ein gesundes, erfolgreiches und friedvolles Jahr 2017 wünschen. Dabei bin ich mir wohl bewusst, dass gerade der letzte Wunsch sehr viel Optimismus, ja Phantasie voraussetzt. Denn dieser Jahreswechsel fällt in eine aussergewöhnlich unruhige und turbulente Zeit. Nahezu täglich werden wir Zeugen terroristischer Anschläge mit verheerenden Folgen: In Afrika, im nahen und mittleren Osten, in Europa und auch bei uns hier in Deutschland. Das politische Geschehen ist auch in anderer Hinsicht in Bewegung geraten und zwar in eine Richtung, die bei kritischer Analyse wenig Gutes verheißt. Was bisher als beherrschbar galt, droht ins Ungewisse, ins Unwägbare abzugleiten. Einigermassen vorhersehbare politische Prozesse stehen in der Gefahr, unkontrollierbar aus dem Ruder zu laufen. An die Stelle kritischer Auseinandersetzungen, die eine Demokratie auszuhalten hat, ist zunehmend Verachtung, Verhöhnung ja blanker Hass gegenüber den politisch Handelnden, ja gegenüber dem demokratischen System überhaupt getreten. Ein Mindestmass an Solidarität, an Kompromissbereitschaft zwischen Völkern und Nationen, die als Voraussetzungen für ein einigermaßen friedliches Leben auf unserem Globus unabdingbar sind, drohen in Vergessenheit zu geraten.
Anlass zu schlimmen Befürchtungen
In wenigen Tagen wird in den Vereinigten Staaten ein neu gewählter Präsident in sein Amt eingesetzt werden. Dabei wird das wohl bedeutendste und verantwortungsvollste Amt, das die demokratische Staatengemeinschaft des Westens zu vergeben hat, einer politisch und diplomatisch völlig unerfahrenen Persönlichkeit übertragen, die nicht nur den schmutzigsten aller bisherigen Präsidentschaftswahlkämpfe in den USA geführt hat, sondern die auch – vor und nach der Wahl – politische Meinungen und Zielsetzungen proklamiert hat, die zu schlimmen Befürchtungen Anlass geben. Seine Sprunghaftigkeit, seine Unbeherrschtheit, seine bisweilen plumpen populistischen Thesen verhindern jede einigermaßen verlässliche Voraussage in Bezug auf die zukünftige Politik der USA – weltpolitisch und inneramerikanisch. Wer den Klimawandel mit seinen denkbar schlimmen Folgen leugnet, wer die Freizügigkeit durch Mauern zu verhindern sucht, wer den Zugang in die Vereinigten Staaten nach Rassen und Religionen kontingentieren will und wer die echten und vermeintlichen nationalen Interessen zum alleinigen Gradmesser seiner internationalen Politik zu machen trachtet, der kann nicht den Anspruch für sich erheben, Führungsperson einer demokratisch organisierten Wertegemeinschaft zu sein. Unterstrichen werden diese Befürchtungen durch die bis jetzt bekannt gewordene Besetzung der wichtigsten Ämter der zukünftigen amerikanischen Administration. Es sind dies fast durchweg politikunerfahrene millionenschwere Repräsentanten der profitorientierten Schwer- und Ölindustrie oder stramm rechtsgerichtete Exmilitärs. Man mag so vielleicht wirkungsvoll den Aufsichtsrat eines wirtschaftsbeherrschenden Großunternehmens besetzen. Für die politische Führungselite einer dem Gemeinwohl der Menschheit und der Demokratie verpflichteten Weltmacht scheint mir diese Auswahl höchst problematisch zu sein.
Wenden wir nun den Blick auf Europa.
Auch hier ist die Gesamtschau wenig erfreulich. In diesen Tagen und Wochen gehen meine persönlichen Gedanken häufig zurück in die 50iger und 60iger Jahre des letzten Jahrhunderts, als Politiker aus verschiedenen Ländern unseres Kontinents die Vision einer zukünftigen europäischen Union entwickelt haben. Beispielhaft seien nur der Franzose Robert Schumann, der Italiener Alcide de Gasperi, der Deutsche Konrad Adenauer und der Belgier Paul-Henri Spaack genannt. Vor dem Hintergrund der verheerenden Folgen des von Nazi-Deutschland entfesselten Vernichtungskrieges der Jahre 1939 – 1945 entwickelten sie auf der Basis abendländischer Kultur und der Aufklärung, verbunden mit Erkenntnissen liberaler und sozialer Ideen eine europäische Werteordnung, die die verschiedenen europäischen Völker und Nationen zusammenführen und vergleichbare kriegerische Katastrophen für die Zukunft verhindern sollten. Mir ist die Begeisterung und die Aufbruchstimmung noch deutlich in Erinnerung, die diese Visionen gerade bei jungen Menschen quer über den ganzen Kontinent ausgelöst haben.
Zwar sind in der Folge viele europäische Institutionen ins Leben gerufen worden und – beflügelt durch den Zerfall des Kommunismus im Osten unseres Kontinents im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts – umfasst die derzeitige Europäische Union insgesamt 28 Mitgliedsländer. An die Stelle der vorerwähnten Begeisterung und Aufbruchstimmung ist in der Zwischenzeit freilich nicht nur eine tiefgreifende Ernüchterung getreten.
Die verächtliche Vokabel vom „Moloch Brüssel“
kennzeichnet bedenkliche Anzeichen eines drohenden Zerfalls der europäischen Union. Denn niemand kann heute mit stichhaltigen Argumenten der Befürchtung entgegentreten, der Austritt Großbritanniens aus der Union im Juni des letzten Jahres sei erst der Anfang einer solchen bedrohlichen Entwicklung. Denn das Erstarken eigensüchtiger nationalistischer Bestrebungen in etlichen Ländern der Union ist unübersehbar. Die innenpolitischen Entwicklungen etwa in Frankreich und den Niederlanden, Länder, in denen in Bälde wichtige Wahlen anstehen, sind von einem bedenklichen Erstarken rechtspopulistischer, europafeindlicher Parteien gekennzeichnet. Auch in Italien sind nach dem jüngsten Sturz der Regierung Renzi vergleichbare Entwicklungen nicht mehr auszuschließen. Und auch die kürzliche Niederlage des rechtspopulistischen Kandidaten bei der österreichischen Präsidentenwahl darf uns nicht täuschen. Denn die europafeindliche FPÖ kann sich nach vor vor berechtigte Hoffnungen machen, bei den nicht mehr fernen Parlamentswahlen in unserem Nachbarland zu obsiegen.
Bedrohung der Union
Neben diesen Zerfallserscheinungen ist die Union und ihre demokratische Werteordnung noch von zwei anderen Seiten her bedroht.
So zeigt sich die Union – mindestens bisher – unfähig, die durch die Flüchtlingswelle ausgelöste ungewöhnlich hohe Zuwanderung vor allem nach Italien, Griechenland und Deutschland solidarisch zu lösen. Es kommt einem Trauerspiel gleich, wie vor allem die östlichen Mitgliedsstaaten weitgehend aus populistisch-nationalistischen Erwägungen heraus sich kategorisch weigern, irgend einen Beitrag zur Lösung dieses zweifellos schwierigen Problems zu leisten. Dass diese kompromisslose Haltung gerade in den überforderten Südstaaten, die ohnehin mit ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, europafeindliche Reflexe auslösen muss, liegt auf der Hand.
Die zweite, die demokratische Werteordnung der Union in hohem Maße gefährdende Komponente ist die innerstaatliche Entwicklung in einigen Ländern der Union. Genannt seien hier nur Ungarn und Polen. Die Gleichschaltung bisher unabhängiger Gerichte, die Unterdrückung des Rechts der freien Meinungsäusserung und die Einschränkung anderer rechtsstaatlicher Prinzipien – alles Grundwerte einer demokratischen Gesellschaftsstruktur – drohen inzwischen ein Ausmaß zu erreichen, die den ursprünglichen Wertevorstellungen der europäischen Union diametral zuwiderlaufen.
Das Fazit all dieser geschilderten Entwicklungen ist wenig verheißungsvoll.
Vor allem dann, wenn es nicht gelingt, durch eine enorme Kraftanstrengung, an der freilich alle Mitgliedsstaaten solidarisch und kompromissbereit mitwirken müssen, wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Leider sind insoweit keine verheißungsvollen Lichtblicke zu erkennen.
Stand der demokratischen Werteordnung
Lassen Sie mich nunmehr aus meiner Sicht einige Bemerkungen zum Stand der demokratischen Werteordnung in der Bundesrepublik machen.
Für einen unbefangenen Außenstehenden muss dieser Zustand ein ziemlich verwirrendes Bild abgeben. Im Gegensatz zu den meisten Staaten der EU ist die ökonomische Situation der Bundesrepublik durchaus erfreulich. Die Wirtschaft boomt, die Zahl der Arbeitslosen hat den tiefsten Stand seit vielen Jahren erreicht, die Aktienkurse verzeichnen ungeahnte Höhen und die Kauflust der Deutschen ist ungebrochen. Selten haben soziale Hilfsorganisationen, wie Adveniat, Brot für die Welt und andere vergleichbare Einrichtungen soviel Spenden erhalten wie im zurückliegenden Jahr. Ist Deutschland eine „Insel der Seligen?“ Vor einer solchen Feststellung kann nur gewarnt werden. So können und dürfen wir nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass weite Teile unserer Bevölkerung nicht nur von einer tiefen Verunsicherung, ja Angst hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft befallen und deshalb im Begriff sind, den Glauben an unsere vom Grundgesetz vorgegebene demokratische Werteordnung und das Vertrauen in die politisch handelnden Institutionen zu verlieren. Dass dies für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie höchst gefährlich ist, liegt auf der Hand. Denn eine lebendige Demokratie lebt vom Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger. Und Engagement kann nur da entstehen, wo ein hohes Grundvertrauen in diese Staatsform gegeben ist.
Für diesen misslichen Zustand gibt es viele Ursachen.
Da ist zum einen die fortschreitende weltweite Globalisierung und Digitalisierung, die in ihren undurchsichtigen Verflechtungen und ihrer Komplexität selbst für Experten oft nur schwer erfass- und erklärbar ist und einfache Antworten, nach denen viele Bürger angesichts der verwirrenden Informationsüberflutung lechzen, in vielen Fällen einfach nicht zulassen. Eine jüngste Studie der Bertelmannstiftung belegt diese Erkenntnis mit konkreten Zahlen und weist auch nach, dass diese Verunsicherung und Angst der Nährboden für verantwortungslose populistische Strömungen ist.
Schwelende Flüchtlingskrise
Eine zweite und besonders wichtige Ursache ist zweifelsohne in der weiter schwelenden Flüchtlingskrise zu sehen, die uns allein in den letzten 18 Monaten weit mehr als eine Million Migrantinnen und Migranten beschert hat. Dass dieses Phänomen zusätzliche Ängste in einer ohnehin verunsicherten Gesellschaft auszulösen vermag, ist verständlich: Angst um den Arbeitsplatz, Angst vor Überfremdung und schleichender Verlust der nationalen Identität sind die nachvollziehbaren Folgen. Sie schaffen den Boden für zunehmende Fremdenfeindlichkeit, für Abschottung und für einen neuen übersteigerten Nationalismus. Dies umso mehr, als bei dem Versuch zur Bewältigung dieser Flüchtlingskrise von den politischen Instanzen unleugbar Versäumnisse, Fehler und Fehleinschätzungen gemacht worden sind, deren Folgen immer wieder sichtbar werden.
Demokratie gefährdende Entwicklung
Der jüngste verheerende Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt hat nicht nur eine bisweilen obskure Sicherheitsdebatte ausgelöst; er ist auch die Folge unverzeihlicher Versäumnisse der Sicherheitsorgane unseres Landes. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich konnte vor 2 oder 3 Jahren niemand voraussehen, was auf diesem Sektor weltpolitischen Geschehens vor allen in den letzten 18 Monaten auf die Bundesrepublik zurollen würde. Manche unkoordinierten, bisweilen hilflosen ja blauäugigen Reaktionen auf diese Entwicklung haben das ohnehin angeschlagene Vertrauen vieler auch gutwilliger Bürger in die Funktionstüchtigkeit staatlicher Institutionen und deren Repräsentanten zusätzlich beschädigt und viele von ihnen in die Arme von Populisten – vertreten durch AfD und Pegida – getrieben. Noch ist nicht abzusehen, ob und wie dieser unsere Demokratie gefährdenden Entwicklung wirksam begegnet werden kann.
Krise der traditionellen demokratischen Parteien
Bei der Bewertung dieses Phänomens müssen neben Globalisierungs- und Flüchtlingsangst , sowie der Sorge um die persönliche und gesellschaftliche Sicherheit meines Erachtens noch zwei andere Ursachen einer näheren Betrachtung unterzogen werden:
Da ist zu einen die nicht zu leugnende Krise der traditionellen demokratischen Parteien zu sehen. Diese Krise lässt sich gerade am Beispiel der beiden Volksparteien CDU und SPD evident nachweisen. Seit Jahren geht die Mitgliederzahl in beiden Parteien kontinuierlich zurück, die nicht allein mit der Überalterung ihrer Mitglieder erklärt werden kann. So hat die SPD in den letzten 20 Jahren nahezu ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Noch weit bedenklicher ist der deutliche prozentuale Rückgang ihrer Stimmenanteile bei fast allen Wahlen der letzten Jahre. Waren nach früheren Wahlentscheidungen sog. große Koalitionen eine sichere mit breiten Mehrheiten ausgestattete „Bank“, so wäre dies beispielsweise nach der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg nicht mehr möglich gewesen – erreichten doch CDU und SPD zusammen nur rund 40% der abgegebenen Stimmen. Ganz offensichtlich geht die bisherige Bindungswirkung dieser beiden Parteien mehr als deutlich zurück. Auch wenn diese Entwicklung teilweise durch die entsprechende Kompensation bei anderen demokratischen Parteien aufgefangen wird, so lässt die zunehmende Zersplitterung des Parteienwesens und das Erstarken rechtsgerichteter populistischer Parteien ernste Sorgen bezüglich der Funktionsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems aufkommen.
Unerträgliche Parteienbeschimpfungen
Sie werden möglicherweise fragen, aus welchen Gründen ich dieser Entwicklung im Rahmen meines Themas eine solche Bedeutung beimesse. Die Antwort ist einfach: Nach Artikel 21 GG ist den politischen Parteien eine besonders wichtige Funktion bei der politischen Willensbildung und der Verwirklichung dieses Willens übertragen worden. Wenn deren Bindungswirkung jedoch immer mehr zurückgeht, wenn sie zunehmend als „elitäre Clique“ ja als „Volksverräter“ und „Lügenbolde“ beschimpft und verhöhnt werden, so stellt auch dieses Phänomen in meinen Augen eine ernst zu nehmende Bedrohung unserer demokratischen Werteordnung dar.
Sogenannte soziale Netzwerke
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch ein zweiter Geschehensablauf in gebotener Kürze anzusprechen: Die beängstigend zunehmende Verrohung der politischen Auseinandersetzung, wie sie bei politischen Demonstrationen, vor allem aber im Internet zu Tage tritt. Einige dieser Beispiele habe ich soeben zitiert. Was sich tag-täglich in den sog. sozialen Netzwerken – man müsste sie in vielen Fällen besser „asoziale Netzwerke“ bezeichnen – abspielt, ist an Hetze, Brutalität und Menschenverachtung kaum noch zu überbieten. Bei allen Schwierigkeiten, diesen unerträglichen Auswüchsen wirkungsvoll, v.a. gesetzgeberisch zu begegnen, sind die bisherigen Bemühungen in meinen Augen allzu zögerlich und bescheiden und werden der Tatsache nicht bewusst, dass diese widerliche Art der politischen Auseinandersetzung dem wichtigsten Grundwert unserer Verfassung, nämlich dem umfassenden Schutz der menschlichen Würde, wie er in Art. 1 unseres Grundgesetzes normiert ist, in eklatanter Weise Hohn spricht.
… und die „klassischen Medien?
In diesem Zusammenhang ist auch eine kurze Bemerkung in Bezug auf die „klassischen“ Medien zu machen. Nur eine sachliche, an Tatsachen ausgerichtete, durchaus kritische Berichterstattung und Kommentierung kann dazu beitragen, die aufgewühlte Stimmungslage in geordnete Bahnen zu lenken. Sensationslust und aufrührerische Spekulationen an der Wirklichkeit vorbei sind in meinen Augen unverantwortlich, schaden dem grundgesetzlich geschützten Recht der freien Meinungsäußerung und bieten oft den Nährboden für die beschriebenen verheerenden Auswüchse im Internet.
Populisten und politische Pharisäer
Nun gibt es in jüngster Zeit in der Bundesrepublik politische Kräfte, die sich zunehmend diese teilweise verständliche , teilweise irrationale Stimmungslage in unserer Bevölkerung in raffinierter Weise für ihre eigenen politischen und gesellschaftlichen Ziele zunutze zu machen trachten. Mit vermeintlich einfachen Lösungsvorschlägen, mit uneinlösbaren Versprechungen und mit der widerlichen Parole von der Notwendigkeit einer grundlegenden Systemveränderung in unserem Land suchen diese „Heilsprediger“ die weitere politische Entwicklung hier in Deutschland zu bestimmen. Dabei schrecken sie auch nicht vor nationalistischen Denkmustern und Thesen zurück, die uns aus der unsäglichen Zeit des Nationalsozialismus bekannt sind. Sprachrohr dieser wirren Zielsetzungen sind die Propagandisten von Pegida und weiten Teilen der AfD. Es wäre sicherlich falsch, alle Anhänger, alle Wähler dieser Partei in einen Topf zu werfen. Aber wir müssen uns immer bewusst bleiben, dass es in dieser Partei sehr viele „Wölfe im Schafspelz“ gibt, die sich zwar bürgerlich geben, aber umso radikaler denken. Etliche solcher politischen Pharisäer sitzen zwischenzeitlich auch im Parlament unseres Landes.
Ich bin mir bewusst, dass meine Bewertungen und Feststellungen über die politische Situation in unserem Land ernüchternd wirken müssen. Aber ich bin der Überzeugung, dass nur eine schonungslose Analyse der politischen Wirklichkeit es möglich macht, über wirksame Gegenmaßnahmen nachzudenken und danach zu handeln. Und es gibt sie! Sie tatkräftig und mutig beim Schopf zu packen, ist hohe Zeit!
Zwar über – aber mit!
Dass die demokratischen Parteien und weite Teile der Zivilgesellschaft die Herausforderungen der populistischen „Heilsprediger“ annehmen und ihnen offensiv begegnen, ist gut und richtig. Noch wichtiger ist freilich das ehrliche Bemühen, die Sorgen und Ängste einer verunsicherten Gesellschaft ernst zu nehmen und mit diesen Bürgerinnen und Bürger in einen aufrichtigen, ungeschminkten und besonnenen Dialog einzutreten. Mir scheint, dass dies in der notwendigen Weise bisher sträflich versäumt worden ist. Ü b e r diese, für Populismus anfälligen Teile der Bevölkerung ist lange genug geredet worden; jetzt ist es hohe Zeit, m i t diesen Menschen, die wahrlich nicht alle neonazistisch infiziert sind, zu reden: Mit Mut und Selbstbewusstsein, aber nicht von oben herab – mit Einfühlungsvermögen, entschlossen und mit Geduld, nicht aber mit Floskeln, Rechthaberei oder gar anbiederisch. Dass dies kein einfaches Unterfangen sein wird, liegt auf der Hand. Dabei muss auch klar erkannt werden, dass auch bei der redlichsten und aufrichtigsten Art und Weise des Dialogs ein gewisser Bodensatz an Bösgläubigen und Unbelehrbaren zurückbleiben wird.
Denn bei der Komplexität der politischen Probleme, ihrer weltweiten Verflechtungen gerade auch in Verbindung mit schwierigen völkerrechtlichen Verpflichtungen werden einfache Antworten nur selten möglich sein. Und bei dem verständlichen Ruf verunsicherter Bürger nach einem Höchstmaß an Sicherheit darf die Tatsache nicht aus dem Auge verloren werden, dass Sicherheit zwar ganz ohne Zweifel ein hohes Gut in einer demokratischen Werteordnung ist, dass es aber eine absolute Sicherheit selbst in einem totalen Überwachungsstaat – den wir alle nicht wollen – nicht geben kann. Und es muss bei diesem Dialog auch klar gemacht werden, dass die Forderung nach höchstmöglicher Sicherheit nach der vom Grundgesetz vorgegebenen Ordnung mit anderen Grundwerten, etwa dem Schutz der persönlichen Freiheit, der Gerechtigkeit und der allen Menschen zuzuordnenden Menschenwürde in Konkorrenz steht. Und gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine letzte persönliche Bemerkung: Der ständige Ruf nach noch schärferen Sicherheitsgesetzen ist letztlich nur Wasser auf die Mühlen der Populisten und auch so lange wenig zielführend, als die bereits bestehenden, bisweilen schon jetzt an den Grenzbereich der Verfassungswidrigkeit rührenden Gesetze nicht konsequent befolgt werden.
Glaubwürdigkeit der Politik, wo ist sie geblieben?
Der unabdingbare wahrheitsgerechte Diskurs zwischen politisch Verantwortlichen und verunsicherten Bürgern darf sich auch nicht auf die mit der Terrorgefahr verbundenen Sicherheitsfragen und mit den durch die Flüchtlingskrise hervorgerufenen Probleme beschränken. Denn bei allem sichtbaren Wohlstand gibt es in unserem reichen Land auch Bevölkerungskreise, die am Existenzminimum leben und die der sich weiter öffnenden Schere zwischen Reich und Arm fassungslos gegenüberstehen und auf Antworten und Abhilfe seitens der Politik warten. Gedacht sei nur an kinderreiche Familien, viele Rentner oder an Langzeitarbeitslose. Warum sollte es nicht möglich sein, ein einigermaßen gerechtes Steuersystem zu schaffen, das Jenen etwas mehr aufbürdet, die es ohne jede Not verkraften können? Und wo bleibt die Glaubwürdigkeit der Politik, wenn sie einerseits von der zwingenden Notwendigkeit eines friedlichen, gewaltfreien Zusammenlebens in der Welt spricht, andererseits aber zunehmende Waffenexporte gerade in jene Krisengebiete zulässt, in denen die kriegerischen Auseinandersetzungen stattfinden?
Wer Vertrauen zurückgewinnen will …
Und, wer Vertrauen zurückgewinnen will, der muss auch in seinem persönlichen Verhalten vertrauenswürdig sein. Politiker sind keine Heiligen und sollen es wahrlich auch nicht sein. Sie sind Menschen wie Du und ich, mit allen Unzulänglichkeiten, die einem Menschen eigen sind. Wer aber den Weg in die Politik wählt, der übernimmt damit auch eine höchst persönliche Verantwortung in Bezug auf seine eigene Lebensführung. Getreu dem alten lateinischen Spruch „Quod licet bovi non licet Jovi“ hat er sich einer besonderen Verantwortung der Gesellschaft und sich selbst gegenüber zu stellen. Auch eine solche untadelige Haltung scheint mir zwingend notwendig, um verloren gegangenes Vertrauen in die Politik und ihre Repräsentanten zurück zu gewinnen.
Und was mir als dritte Komponente bei diesem Dialog besondrers wichtig erscheint, ist das offene, uneingeschränkte und offensive Bekenntnis zu den Grundwerten unserer demokratischen Gesellschaftsordnung. Mit Grauen erinnere ich mich insoweit an eine kürzlich ausgestrahlte Diskussionsveranstaltung mit Bürgerinnen und Bürgern in einem Regionalprogramm der ARD, in der ein prominenter Vertreter der AfD und ein prominenter Vertreter einer großen demokratischen Partei Rede und Antwort stehen sollten. Neben durchaus berechtigten und kritischen Fragen wurden vom Publikum mehrfach auch Behauptungen aufgestellt, die einfach hanebüchen waren und mit der Wirklichkeit in unserem Land nichts mehr zu tun hatten: Niemand in unserem Land habe mehr das Recht, eine von der offiziellen Staatsraison abweichende Meinung ohne entsprechende Sanktionen öffentlich zu äussern, alles sei in unserem Staatswesen reguliert und manipuliert und nirgendwo könne ein Bürger mehr zu seinem Recht kommen, dies sei ausschliesslich Flüchtlingen vorbehalten. Während solche falschen, populistischen Behauptungen den höhnischen Beifall des AfD-Vertreters fanden, wurden sie von dem Vertreter der demokratischen Partei unwidersprochen hingenommen.
Es fehlt an patriotischen und entschlossenen Demokraten
Ich verhehle nicht, dass ich mich angesichts dieses Verhaltens an das Ende der Weimarer Republik zu Beginn der 30iger Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert fühlte. Denn diese Republik ist nicht allein an den Folgen der damaligen Weltwirtschaftskrise und den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der politischen Extreme zerbrochen. Mitentscheidend für ihr Ende war auch die betrübliche Tatsache, dass es viel zu wenig patriotische und entschlossene Demokraten gab, die leidenschaftlich zu dieser Demokratie standen und die bereit waren, sie notfalls wehrhaft und mit Zähnen und Klauen gegen ihre Feinde zu verteidigen. Erinnert sei nur an den 23. März 1933, als die noch in Freiheit befindlichen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten sich unter Einsatz ihres Lebens der braunen Flut entgegenstemmten, während die bürgerliche Mitte mit ihrem Ja zu Hitlers Ermächtigungsgesetz die Demokratie in Deutschland endgültig zu Grabe trugen. An diesen dunklen Tag deutscher Geschichte gerade hier in dieser Gedenkstätte mahnend zu erinnern, scheint mir in dieser Zeit, in der unsere demokratische Ordnung neuen Belastungsproben ausgesetzt ist, dringend geboten zu sein. Damit sich so etwas nie mehr wiederholt, damit unsere heutige demokratische Werteordnung gegen alle Schmähungen ihrer Feinde standhaft und offensiv verteidigt wird, bedarf es neben den politischen Parteien und ihrer Repräsentanten aber auch des nachhaltigen Engagements jedes aufrechten Demokraten in unserer Gesellschaft.
Möge sich jeder dieser Verpflichtung bewusst bleiben, das ihm Mögliche zu tun, dass dieses wertvolle Gut unserer freiheitlichen Demokratie nicht beschädigt wird.