cover-1-2In seinem neuen Buch „Ernstfall Frieden“ geht der bekannte Militärhistoriker und Friedensforscher der Frage nach, welche Lehren die Deutschen aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege gezogen haben. Statt den Krieg weiter als eine „Kulturerrungenschaft“ zu feiern und als Option bzw. „Ernstfall“ zu betrachten, vertreten sie heute überwiegend pazifistische Standpunkte und lehnen – wie Meinungsumfragen offenbaren – eine militärisch instrumentierte Machtpolitik ab.

Doch wie verbindlich ist die zentrale Lehre „Nie wieder Krieg“ angesichts der zunehmenden Enttabuisierung des Militärischen in der Berliner Republik?
Sind Deeskalation und nichtmilitärische Konfliktbearbeitung passé? Muss Machtzuwachs notwendig mit mehr Verantwortung bei weltweiten Einsätzen einherkommen? Erhält das Denken in militärischen Kategorien erneut Vorrang vor zivilen Lösungen? Was ist zur neu eingerichteten Militärjustiz, den ungebremsten Waffenexporten und Militäreinsätzen im Innern zu sagen?

Wettes Blick zurück fördert zu Tage, wie bedenklich es ist, Politik ohne Geschichte zu machen. Die Gewaltabsage großer Teile der Bevölkerung in den Wind zu schlagen und mit den Mitteln gescheiteter Politik-Konzepte beizukommen, führen das Land all zu leicht in ein unkontrollierbares Fahrwasser. Umso mehr plädiert Wette dafür, weiterhin militärische Zurückhaltung zu üben, sich auf zivile Maßnahmen und Projekte zu besinnen und sich zu erinnern, in welches Schlepptau eine Politik gerät, die sich dem „Ernstfall Krieg“ überantwortet.

es-ist-fast-unmc3b6glich-die-fackel-der-wahrheit-durch-ein-gedrc3a4nge-zu-tragen-ohne-jemandem-den-bart-zu-versengen-zitat-2Mit über 500 Abbildungen und vielen Quellentexten, die ebenfalls dazu beitragen, Geschichte durchschaubar zu machen, wendet sich das Buch sowohl an die Befürworter von „Ernstfall Frieden“ als auch an deren Gegner. Es bricht mit wohlbehüteten Tabus, fordert zur Abkehr von Legenden auf und lädt den Leser zu einer neuen Sichtweise auf die deutsche Geschichte und Gegenwart ein.
Dies Buch ist keine Kriegs-Geschichtsschreibung, sondern ein Friedensdiskurs entlang der geschichtlichen Kriegs- und Friedensdiskurse. Mit dem Inhaltsverzeichnis und dem Untertitel „Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“ wird der Zeitraum eines Jahrhunderts abgesteckt.

Die beiden von Deutschland zu verantwortenden Weltkriege waren keine unerklärlichen „Jungfrau-Geburten“, sondern Erzeugungen einer ganz und gar männlichen sowie ganz und gar deutschen Gewalt-„Religion“. Heinrich Heine sah – eingedenk der Totalitäten im deutschen Denkerkosmos – schon 1834 etwas nie Dagewesenes auf die Menschheit zukommen:
„Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht.“

Wer von der neueren deutschen Geschichte sprechen will, darf vom preußischen Militarismus und von der mit diesem einhergehenden Menschenverachtung nicht schweigen. Erschreckend sind die Warnrufe (und einzelne Ansätze zu Selbsterkenntnis) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Um 1900 kann die Militarisierung der deutschen Landschaften als weitgehend abgeschlossen gelten.

Mit Wolfram Wette, der ein prominenter Vertreter der kritischen Militarismus-Forschung ist, sollte man hingegen weit zurückgehen, um besser zu verstehen, was dem deutschen Kriegsdonnern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange im Voraus den Weg bereitet hat. Diese Notwendigkeit wird im neuen Werk auch verdeutlicht.

Nun behandelt Wolfram Wette jedoch das Jahrhundert ab 1914 keineswegs in gleichgewichtigen Kapiteln. Auf weiter Strecke sind der Erste Weltkrieg und seine Folgen die maßgeblichen Bezugspunkte der Darstellung. Die deutschen Militärs hofften 1914 auf einen schnellen Sieg, nahmen zugleich aber in Kauf, dass ihr Kriegsvotum Europa in ein Schlachthaus verwandeln könnte.

Hat am Ende im Gedenkjahr 2014 doch die Geschichtsverdrehung der revisionistischen Bestseller obsiegt, womit dann auch die Anschauung durchgesetzt wäre, es gäbe gar keine besonderen „Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“?

Gemeinhin wird diagnostiziert, die Weimarer Republik sei so etwas wie eine Demokratie ohne Demokraten und deshalb ohne Bestand gewesen. Das ist vielleicht weniger als die halbe Wahrheit. Ein schlimmes Erbe der Republik blieb der Militarismus, wie in Abteilung II von „Ernstfall Frieden“ aufgezeigt wird. Es gab keinen Bruch mit dem Schwertglauben und weithin auch keinen Abschied von den alten kriegerischen „Eliten“.

Die Soldaten durften nach Ausrufung der Republik das Mordhandwerk im Inneren weiter ausüben – und das gar unter Weisungen eines „National-Sozialdemokraten“ wie Gustav Noske. Die preußische Parole hatte schon 1848 gelautet: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.“

Die militaristische Rechte der Weimarer Zeit setzte dem etwas hinzu, was man so zusammenreimen könnte: „Gegen Pazifisten helfen nur Haubitzen.“ Die Pazifisten der Weimarer Zeit wurden an den Rand gedrückt, diskriminiert, bedroht und sogar ermordet. Einige von ihnen – so etwa Carl Mertens und Friedrich Wilhelm Foerster – waren mutige „Whistleblower“ und enthüllten, wie im Geheimen ein neues deutsches Kriegswesen entstand.

London während des Zweiten Weltkrieges. Bild: US-National-Archives (195566) / gemeinfrei

London während des Zweiten Weltkrieges. Bild: US-National-Archives (195566) / gemeinfrei

Heute beschleicht uns ein Grauen, wenn wir die frühen Warnungen vor den Folgen von Antisemitismus und Militarismus einer neuen Lektüre unterziehen. Eine solche Relecture war freilich nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht erwünscht. Wer allein nur die Quellen zur Geschichte des Pazifismus in der Weimarer Republik zur Kenntnis nimmt, ist schon davor gefeit, den deutschen Faschismus irgendwie als Ergebnis einer plötzlichen Volksverführung im Jahr 1933 zu deuten.

Mit Blick auf die Entwicklung nach 1945 und Gegenwartsphänomene sollten nicht leichtfertige Vergleiche mit der Weimarer Republik angestellt werden, zumal dann nicht, wenn Hinweise auf entscheidende Unterschiede fehlen. Wolfram Wette legt großes Gewicht auf die Unterschiede. Er wirft jedoch die Frage auf, ob in der Berliner Republik die zentrale Lehre „Nie wieder Krieg!“ ihre Verbindlichkeit verliert.

Die diesbezügliche Sorge ist mehr als berechtigt. Der letzte Text der Neuerscheinung trägt die Überschrift: „Die richtigen Lehren aus 1914: Deeskalation und nicht-militärische Konfliktbearbeitung.“

Wolfram Wette
Ernstfall Frieden
Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914
640 S., 504 Abbildungen, Hardcover, 24.80 €
ISBN 978-3-943425-31-4
(= Schriftenreihe Geschichte & Frieden, Bd. 38)
Der Autor
Wolfram Wette, * 1940, Prof. Dr. phil. Historiker, Friedensforscher und
freier Autor

Jan 2017 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Politik, Sapere aude | Kommentieren