Die klassische Aufklärung hat dem Individuum die Vernunft geschenkt und seinen Intellekt bedient, es vermißt aber die Herzenswärme in der großen Gesellschaft und bleibt auf seinen Ängsten sitzen. Es leidet unter dem Zustand der »Wirlosigkeit« (Norbert Elias). Unter dem Druck ständiger Veränderung und der Ungewißheit über den Weltenlauf nagen die Zweifel an dem, was ihm diese westliche Zivilisation, der es sich verdankt, tatsächlich an Glück gebracht hat. Skepsis und Selbstkritik, auch sie originäre Abkömmlinge und zugleich Motoren der Aufklärung, ballen sich zusammen und stellen das bisher Errungene immer lauter in Frage. Den Jammer des modernen, atomisierten Individuums, von seiner Innenwelt bedrängt und der sozialen Außenwelt mit ihren Anforderungen hilflos ausgesetzt, hat Rainer Maria Rilke Anfang des 20. Jahrhunderts mit großem Pathos beschrieben: »Den Menschen bin ich noch ferner als den Dingen; sie sind Zufälle, Stimmen, Ängste, kleine Glücke, immer verkleidet, immer vermummt hinter Masken. Keiner lebt sein eigenes Leben. Vielleicht gibt es irgendwo Schatzhäuser, wo alle diese ungelebten Leben aufgehäuft sind wie Panzer, Wiegen und Gewänder, von denen nie jemand Gebrauch gemacht hat. Letzten Endes führen alle Wege zu diesem Arsenal der ungelebten Dinge. Es ist wie ein Gefängnis ohne Fenster. Tore mit Eisenspangen und Gitter verwehren den Eintritt. Und die Gitter sind von Menschen gemacht.« Der Dichter beklagt darin nichts anderes als den Zustand der Entfremdung, der die Menschen in der Moderne ereilt hat und mit dem sie ständig zu kämpfen haben, nachdem sie alter, traditioneller Bindungen verlustig wurden. Zeitgemäßer und ungleich beliebter faßt Bob Dylan diese melancholische Kulturkritik in seinem berühmten Lied Like a Rolling Stone:
»How does it feel
To be on your own
With no direction home
Like a complete unknown
Like a rolling stone?«
Es ist die Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Unbekannten und Offenen und zugleich das Unbehagen und die Angst, in der Weite und Unvorhersehbarkeit der Moderne unter die Räder zu geraten, anonym zu bleiben und nicht als besondere, einzigartige Person erkannt und geschätzt zu werden. Diese Sogkraft nach beiden Seiten hin treibt das Individuum in Konflikte, mit denen es lebenslang zu hadern hat. Es kämpft mit dem beängstigend Neuen und Fremden und wird sich zuweilen selbst fremd, wenn es in den Spiegel schaut. Einerseits stolz auf seine Freiheit und Unabhängigkeit und die Fähigkeit, eigenverantwortlich zu handeln, selbst zu entscheiden und sein Glück zu suchen, ringt das Individuum zugleich mit seiner Angst davor. Um sie zu besänftigen und sich zu trösten, wünscht es sich Wärme und Geborgenheit. Getrieben von der Sehnsucht nach Gemeinschaft, dem Wunsch unter Gleichen zu sein, nach Harmonie und höherem Sinn, nach Eindeutigkeit und Perfektion, nach Fürsorge und Unterwerfung, will es erlöst werden von den Qualen und Selbstqualen der Ambivalenz im Diesseits.
Die Religion und ihre säkularen Verwandten bedienen dieses tiefsitzende Bedürfnis des Menschen nach Heil. Normalerweise lebt er eingebettet im Alltäglichen, Vertrauten und Vorhersehbaren, das weitgehend seiner Kontrolle unterliegt. Zugleich ist er immer wieder konfrontiert mit Krisen, die diesen Alltag außer Kraft setzen, wie Geburt und Tod, Einsamkeit, Krankheit, Gewalt oder Krieg. Sie stürzen ihn ins Unbekannte, Gefährliche, Lebensbedrohliche, das unvorhergesehen hereinbricht und ihn aus der Bahn werfen könnte. Mit seinem Latein am Ende und bangend, was die ungewisse Zukunft ihm möglicherweise bescheren wird, ist er dann geneigt, das Außeralltägliche, das sich seiner alltäglichen Beherrschung und Kontrolle entzieht, auf andere Mächte zu projizieren und sich ihnen zu unterwerfen: Gottvater, der Geschichte, der Glaubensgemeinschaft, der Partei, dem Klassen- oder Rassenkollektiv. Er sucht in ihnen Stärkung, um seine Krise zu bewältigen. Die Religion ebenso wie ihre säkulare Variante versuchen, das Unerklärbare zu erklären. Das Unheil erhält damit Sinn, und das Versprechen des ewigen Heils tröstet und relativiert aktuell erfahrenes Unheil. Er nutzt sie als eine Art Abwehrschirm vor den Ungewißheiten und der Unberechenbarkeit des Lebens.
Die in der Zivilisationsgeschichte entstandenen religiösen Mythen und kollektiven Rituale sind also Ausdruck und zugleich Besänftigungsversuche gegenüber der dem Menschen eigenen Angst- und Aggressionspotentiale. Es sind Versuche, Einsamkeit, aber auch Ressentiments, Neid und Haß, die der konflikthaften Dynamik einer Gesellschaft eigen sind, zu kompensieren und zu überwinden. Der Glaube an das Heil und das Heilige will die Entfremdung und Entzauberung der Moderne mildern. Die Imagination vom gütigen Walten einer göttlichen Vorsehung bzw. eines historischen Determinismus beschwichtigt die Ängste und Gefahren des Lebens und verspricht obendrein die Erfüllung universaler Gerechtigkeit im Himmel wie auf Erden.
Diese Wünsche, die die Religion wie die säkulare Religion widerspiegeln, sind die ältesten, stärksten und beharrlichsten der Menschheit. Sie zählen damit zum psychischen Inventar der abendländischen Zivilisation. Gegen alle Anfechtungen der Vernunft und des Wissens hält sich überaus hartnäckig der uralte Traum von einer letzten, endgültigen Lösung aller Übel, von einem Zustand, in dem die Menschheit auf Dauer glücklich, tugendhaft und gut sein möge. Es ist die große Illusion, die Widersprüche der menschlichen Natur aus der Welt räumen zu können.
Während der jahrhundertelangen Säkularisierung und erst recht in der entzaubernden Moderne haben sich die Bewußtseinsstrukturen der Menschen im Sinne ihrer Rationalisierung verändert, hin zum selbstbewußten Individuum. Glauben und Wissen sind in diesem historischen Prozeß Zug um Zug auseinandergetreten. Aber mit der Verweltlichung der Religion sind ihre Ideale keineswegs verschwunden. Als ethische Gebote überwintern sie im kulturellen Über-Ich der Gesellschaft, ganz im Sinne ihrer Selbsterhaltung, auf daß sie nicht an Mord und Totschlag zugrunde gehe. Verinnerlicht hat sie auch das Individuum und befolgt sie, wenn sein Gewissen aktiv ist. Da die Gesellschaft infolge der primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander immer wieder vom Zerfall bedroht ist, schafft sie sich Idealgebote wie die Nächstenliebe. Paradoxerweise liegt ihre Rechtfertigung gerade darin, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. Denn das Gebot »›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹«, so Sigmund Freud, »ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression«. So wie im Bildungsprozeß der individuellen Psyche kindliche aggressive Potentiale abgespalten und umgewandelt werden und der gereiften Person in den Geboten des strengen Über-Ich erhalten bleiben, so verhält es sich auch in der Menschheitsgeschichte. Die ursprünglichen Aggressionen und Feindseligkeiten der Menschen verwandeln sich zugunsten des Fortbestands der Gattung und des zivilisatorischen Fortschritts in die Idealgebote eines Kultur-Über-Ichs, das ethische Forderungen erhebt. Doch das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« ist nicht durchführbar, warnt Freud, »eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen. Die Kultur vernachlässigt all das, sie mahnt nur, je schwerer die Befolgung der Vorschrift ist, desto verdienstvoller ist sie. Die Ethik, die sich an die Religion anlehnt, läßt hier ihre Versprechungen eines besseren Jenseits eingreifen.« Die Religion wie die säkularen Nachfolger beherbergen Wünsche und Gebote, die den unwissenden Kinderzeiten der Menschheit entlehnt sind. Trotzig beharren sie auf Erfüllung, obwohl uns die Erfahrung gelehrt hat, daß die Welt keine Kinderstube ist. Trostbedürftig sind die Menschen ganz offensichtlich bis heute, angesichts der drei großen Kränkungen, die ihnen auf dem Weg in die moderne Zivilisation widerfahren sind. Die erste kam in Gestalt von Kopernikus, der sie darin desillusionierte, unsere Erde sei der Mittelpunkt des Weltalls. Die zweite Kränkung erfuhren sie von Charles Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte. Er verwies die Menschheit auf ihre Abstammung vom Tierreich und die Untilgbarkeit ihrer animalischen Natur. Die dritte Kränkung bestand in der Entdeckung des Unbewußten: daß nämlich trotz Aufklärung und wissenschaftlichem Fortschritt im modernen Individuum Abgründe lauern, daß das Ich nicht einmal Herr im eigenen Hause ist, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vor sich geht.
Leseprobe: Ulrike Ackermann – Eros der Freiheit, Teil 2
Insbesondere Intellektuelle werden nicht müde, mit unserer Gesellschaft, ihren sozialen, ökonomischen Spielregeln und kulturellen Werten hart ins Gericht zu gehen. Moralisch wird dem Westen erneut sein rücksichtsloser Wettbewerb, der Hab- und Genußsucht, Gier und Neid befördere, vorgehalten. Der Egoismus habe über Mitleid, Stolz und Großherzigkeit gesiegt. Eine utilitaristische Ethik, der fortschreitenden Arbeitsteilung folgend, zerlege den Menschen in seine einzelnen Funktionen. Seines Identitätsgefühls und seiner Würde verlustig gegangen, seien ihm Moral und Güte abhanden gekommen. Entfremdet von sich selbst, von der Natur und seinen Mitmenschen und letztlich vereinsamt, habe er jeglichen Sinn für sich und die Welt eingebüßt. Trotz demokratischer Verfassung und der Gleichheit vor dem Gesetz nehme die Ungleichheit der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse stetig zu, Ausbeutung und Ungerechtigkeit führten weiterhin das Regiment. Schuld daran trügen Fortschrittsgläubigkeit und Kapitalismus, beides naturgemäß Abkömmlinge des westlichen Zivilisationsprozesses. »Die Befreiung des europäischen Individuums erfolgte im Zusammenhang einer allgemeinen kulturellen Umwandlung, die im Innern der Befreiten die Spaltung von Geist und Körper desto tiefer eingrub, je mehr der physische Zwang von außen nachließ.« Im Verlauf dieser Entwicklung, so mußte auch der Kulturkritiker Theodor W. Adorno einräumen, »ist Europa zu seinen sublimsten kulturellen Leistungen befähigt worden«, auch wenn auf dem Weg dahin die menschlichen Instinkte und Leidenschaften »entstellt« worden seien. Die Menschen hätten die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem bezahlt, worüber sie die Macht ausübten. Die Aufklärung verhalte sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen: »Aufklärung ist totalitär, wie nur irgendein System … für sie ist der Prozeß von vornherein entschieden.« Die Vernunft verkam, so Adorno, zum bloßen Hilfsmittel der allumfassenden bürgerlichen Wirtschaftsapparatur, versachliche und verdingliche die Menschen. Deshalb wetterte er gegen den »Zwangscharakter der Selbsterhaltung«; im Arbeitsdruck der Jahrtausende habe sich die Lust hassen gelernt und bliebe »in der totalitären Emanzipation durch Selbstverachtung gemein und verstümmelt.«
Adorno (1903-1969) und Horkheimer (1895-1973) zählten zu den wichtigsten Köpfen der Frankfurter Schule. Beide lehrten vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Frankfurt. Als Juden verfolgt und von der Lehre suspendiert, emigrierten sie in die USA und kehrten 1949 wieder zurück. Ihre »Kritische Theorie« ist ein Paradebeispiel für einen revidierten Marxismus, der die linke Gesellschafts- und Kulturkritik in eine neue Sprache gegossen und modernisiert hat. Auch wenn die Hochzeit ihrer Rezeption längst vorbei, prägen ihre Denkfiguren bis heute den Blick auf unsere Geschichte.
Das Verdienst ihrer Dialektik der Aufklärung – die 1947 erschien, aber erst 20 Jahre später breiter rezipiert wurde – ist zweifelsohne ihr Blick auf die Fallstricke einer Rationalität, die ihre irrationale Grundlage vergessen hat. Doch ihre apokalyptisch gefärbte Vernunftkritik war durchdrungen von einem so heftigen antikapitalistischen Ressentiment, daß ihnen die Sicht auf die Errungenschaften der Zivilisationsgeschichte abhanden kam. Ihr Fazit war entsprechend düster: »Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift«, orakelten sie. Bereits 1939 beschwor Horkheimer die auf Josef Stalin zurückgehende sogenannte Kontinuitätsthese, wonach der Faschismus die höchste und entwickeltste Form des Kapitalismus sei, und mahnte: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« Beide kritisierten zwar den historischen Determinismus des Marxismus mit seinem Postulat der historischen Notwendigkeit, weil ihm das Verhältnis der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit ein bloß quantitatives und mechanisches sei. Aber letztlich sahen sie in der errungenen politischen und persönlichen Freiheit der Aufklärung – gemeinsam mit Karl Marx – nur die »bürgerliche« Freiheit, die den verhaßten Kapitalismus nährt und im »totalen Verblendungszusammenhang« gipfelt. Die Aufklärung habe sich als bürgerliche an ihr positivistisches Moment verloren. Sie sei vor der Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung nie gefeit gewesen. Denn der Bürger in den sukzessiven Gestalten des Sklavenhalters, freien Unternehmers und Administrators sei das logische Subjekt der Aufklärung und müsse als bürgerliches scheitern. »Nach dem kurzen Zwischenspiel des Liberalismus, in dem die Bürger sich gegenseitig in Schach hielten, offenbart sich die Herrschaft als archaischer Schrecken in faschistisch rationalisierter Gestalt.« Der Liberalismus, der die freie Wirtschaft propagiere, sorge dafür, daß sich die Vernunft selbst zerstöre. In diesem melancholisch gefärbten Kulturpessimismus und profunden Antikapitalismus konnte das moderne Individuum selbstredend nur die Lüge sein. Die Aufklärung mußte, so Horkheimer und Adorno, zwangsläufig im Totalitarismus münden. Nach der Erfahrung des 2. Weltkriegs, des Nationalsozialismus, des Holocausts und des Faschismus war ihnen zufolge jegliche positive Utopie obsolet geworden: »… und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.«
(…)
Ganz entgegengesetzte Schlußfolgerungen hat Friedrich von Hayek (1899-1992) gezogen. Nicht die Katastrophen in der westlichen Zivilisationsgeschichte sind ihm Richtschnur, sondern ihre Dynamik und ihr Regelwerk, die die Freiheit auf den Weg gebracht haben. (…) Ohne sich explizit auf Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation zu beziehen, knüpfte Hayek an dessen Arbeit an. In der Menschheitsgeschichte sah er eine kulturelle Evolution, die sich weder einem natürlichen oder künstlichen noch rationalen Entwurf verdankt. Über die Jahrhunderte wuchs ein soziales Regelwerk, das den Rahmen für die individuellen Handlungsakte liefert, ohne daß der Einzelne sich über die Genese, den Sinn und den Zweck der einzelnen Regeln bewußt wäre und alle im Detail begreifen würde. Damit entstanden selbsterhaltende, komplexe Strukturen, d. h. Eine sich selbst generierende Ordnung der Gesellschaft. Die grundlegenden Werkzeuge der Zivilisation sind die Sprache, Ethiken, Gesetze und der freie Markt. Sie bilden sich im offenen Prozeß der kulturellen Evolution heraus, in der die Menschen ständig Neues lernen, entdecken und entwickeln. Hayek sprach deshalb von »spontanen Ordnungen«, die zwar Resultat menschlichen Handelns, aber nicht rationaler Planung sind. »In viel größerem Maß als bisher muß erkannt werden, daß unsere gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung nicht in erster Linie das Ergebnis eines menschlichen Entwurfs ist, sondern aus einem wettbewerblichen Prozeß hervorging, in dem sich die erfolgreicheren Einrichtungen durchsetzten.«
Die Kulturentwicklung, die diese spontanen Ordnungen hervorbringt, ist also ein weitgehend unbewußter Prozeß. Hayek war sich selbst ganz offensichtlich nicht darüber im Klaren, wie nahe er mit dieser Einsicht der Psychoanalyse stand. Denn er polemisierte heftig gegen ihren Gründer. Freuds Betonung der irrationalen Triebnatur des Menschen, die rationaler Planung widersteht, mißverstand er als eine freiheitsbeschränkende Konditionierung. Aber auch Hayek geht davon aus, daß wir in gewissen Maßen unser Schicksal Kräften anvertrauen, die wir selbst nicht beherrschen und vollständig kontrollieren können. Darin liegt ja gerade das Freiheitspotential. Deshalb ist allein schon das Ansinnen, alles, also auch die Entwicklung des menschlichen Geistes, könne bewußt gelenkt werden, ein Zeichen für das Unverständnis jener Kräfte, die das Leben des menschlichen Geistes und der menschlichen Gesellschaft gerade ausmachen. Denn Freiheit ist Voraussetzung, um Raum für das Unvorhersehbare und Unvoraussagbare, für das Neue und für Fortschritt überhaupt zu lassen. Sie kann nur gedeihen in der Anerkenntnis der dem Menschen eigenen Unwissenheit und seiner Unvollkommenheit, also nur im Wettbewerb des Wissens.
Das Mißtrauen gegenüber spontan entstehenden Ordnungen, wie etwa dem Markt, die ohne bewußte Steuerung dennoch funktionieren, obwohl man ihre Dynamiken und Regeln nicht vollständig begreift, hat sich bis heute erstaunlich zäh gehalten. Insbesondere Intellektuelle hatten und haben die Neigung, die Menschheit zu beglücken mit ihren Entwürfen, die die Welt in eine bessere Richtung steuern wollen. Aber, so kann man Hayek nur beipflichten, »es hat keinen Sinn, die Maßstäbe bewußten Verhaltens auf jene unbeabsichtigten Folgen individueller Handlung anzuwenden, worin alles wirklich Soziale besteht, außer, indem wir das Unbeabsichtigte eliminieren – was die Eliminierung alles dessen bedeuten würde, was wir Kultur nennen.«
Das unbewußte Regelwerk und die sich darin entwickelnde soziale Dynamik ist das gemeinsame, von allen geteilte Fundament, auf dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann.
Vakuum der negativen Freiheit
Warum findet aber eine solche liberale Denktradition im Geiste Hayeks, die die Moderne reflektiert und sie als Errungenschaft der Zivilisationsgeschichte ausdrücklich bejaht, bis auf den heutigen Tag so wenig positive Resonanz?
Offensichtlich sorgt die Einsicht, daß in unserer Gesellschaft Kräfte und Dynamiken am Werk sind, die nicht vollständig zu begreifen, geschweige denn zu beherrschen sind, nach wie vor für große Verunsicherung. In diesem Mißtrauen gegenüber dem Unbekannten, nicht Planbaren, nicht Kontrollierbaren spiegelt sich nichts anderes als die Angst vor der Freiheit wider. Abgewehrt wird sie unter anderem, indem der kapitalistische Markt zum Sündenbock und Verursacher allen Übels erklärt wird. Dies ist im übrigen auch einer der Gründe, warum der Liberalismus in erster Linie als Wirtschaftliberalismus wahrgenommen und kritisiert wird, der nur die Interessen der Profiteure der globalisierten Moderne verteidige. Daß er als politische Philosophie das moderne Individuum, seine Aktivitäten und Freiheitsrechte ins Zentrum stellt, wird ihm nicht etwa zugute gehalten, sondern stößt auf große Skepsis. Umgekehrt gewinnt der Liberalismus kaum an Attraktivität, wenn die Marktakteure Freiheit ausschließlich auf die Wirtschafts- und Konsumfreiheit reduzieren.
Ulrike Ackermann (Hg.)
Klett Kotta
Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung.
180 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
19,90 €
ISBN: 978-3-608-94305-4
Zur Autorin: Ulrike Ackermann ist promovierte Sozialwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Frankfurt/Main (u. a. für SZ, FAZ, taz, Die Welt und Merkur). Sie ist Verfasserin und Moderatorin zahlreicher Rundfunksendungen. Seit 2008 ist sie Professorin für Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt »Freiheitsforschung« an der Hochschule SRH in Heidelberg. Zu ihren Büchern gehören „Sündenfall der Intellektuellen“ (Klett-Cotta, Stuttgart 2000), „Versuchung Europa“ (Hg., Humanities Online, Frankfurt 2003), „Welche Freiheit – Plädoyer für eine offene Gesellschaft“ (Hg., Matthes&Seitz, Berlin 2007).
13.Mai.2009, 10:38
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