herrscherDarf die Türkei noch EU-Mitglied werden?

Die EU hat der Türkei mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen gedroht, sollte sie die Todesstrafe wiedereinführen. Präsident Erdoğan hatte gesagt, er sei dazu bereit, wenn das Parlament die Verfassung entsprechend ändere. Verhandlungen mit der türkischen Führung sind unter diesen Umständen unmöglich, meinen einige Kommentatoren. Andere warnen davor, Ankara die Tür zur EU komplett zuzuschlagen.

KAUPPALEHTI (FI)

EU-Beitritt ist ausgeschlossen

Angesichts der jüngsten Entwicklungen kann die Türkei kein EU-Mitglied werden, meint Kauppalehti:

„In den ersten Jahren der EU-Beitrittsverhandlungen war in der Türkei unter anderem bei Menschenrechtsfragen ein Fortschritt zu beobachten. … Ende des letzten Jahrzehnts kam die vielversprechende Entwicklung zum Stillstand und kehrte sich um. Die EU-Beitrittsverhandlungen treten praktisch schon seit Jahren auf der Stelle. Nach den Entwicklungen der letzten Zeit muss man fragen, ob es für die Beitrittsverhandlungen noch eine Grundlage gibt. … Eine enge Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der EU ist sowohl politisch als auch wirtschaftlich wichtig. Das Ziel muss jedoch realistisch sein. Ebenso wie sich die EU und Großbritannien nach dem Brexit Gedanken über ihre künftige Beziehung machen müssen, sollte Brüssel sich überlegen, wie die Beziehung zur Türkei am besten gestaltet sein sollte. Eine Vollmitgliedschaft scheint derzeit ein unmögliches Ziel.“

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DER STANDARD (AT)

EU darf Tür nicht zuschlagen

Auch nach den scharfen Reaktionen Ankaras auf den gescheiterten Putschversuch darf sich Europa nicht von der Türkei abwenden, meint Der Standard:

„[E]s gibt sehr gute Gründe, warum die Europäer in der Union (und auch die Nato) gut beraten sind, kühlen Kopf zu bewahren und die Tür zu Ankara nicht gleich zuzuschlagen: EU und Nato brauchen die Türkei als Partner, auch in dieser schlimmsten Krise der wechselseitigen Beziehungen seit Jahrzehnten. Brüssels diplomatische Antwort kann nicht Abwendung sein: Eine solche würde die Lage nur verschlimmern. Vielmehr zeigt sich, dass man in den vergangenen Jahren verabsäumt hatte, sich den Türken viel aktiver zuzuwenden, mit Kritik an Erdoğan, Hilfe für die Opposition. Die Türkei habe wegen ihrer geostrategischen Lage eine ‚enorme Narrenfreiheit‘, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Damit muss die Union einige Zeit weiterleben – leider.“

Thomas Mayer    Zum Originalartikel

 HOSPODÁŘSKÉ NOVINY (CZ)

Türkei raus aus der Nato

Sollte Präsident Erdoğan seinen angekündigten Rachefeldzug durchziehen, muss die Türkei aus der Nato ausgeschlossen werden, findet Hospodářské noviny:

„Die Türkei galt bisher als einzigartige und zudem geopolitisch bedeutsame Oase der Stabilität im Nahen Osten. Das ändert sich, falls der Präsident sein Versprechen umsetzt und sich in Stalinscher Manier an allen rächt, die angeblich am gescheiterten Militärputsch beteiligt waren. Also dann, wenn er die Todesstrafe wieder einführt und Erschießungen anordnet. … Es wäre nicht sonderlich glücklich, zu sagen, dass es die Todesstrafe auch in den USA gibt. Ja, die gibt es dort, aber nur für Einzelne und für konkrete Straftaten. In der Türkei wäre die Todesstrafe ein Instrument zur schnellen und flächendeckenden Strafe nach dem Prinzip der Kollektivschuld, das westlichen Werten fremd ist. Darauf könnte die zivilisierte Welt nur mit dem Ausschluss der Türkei aus der Nato reagieren.“
Teodor Marjanovič    zur Homepage

ROMÂNIA LIBERÂ (RO)

Demokratie nur störend für Erdoğan

Nach dem vereitelten Militärputsch in Ankara ignoriert Westeuropa weiterhin, nach welchen Regeln das Erdoğan-Regime funktioniert, meint Romania Libera:

„Im Land von Erdoğan ist die Korruption unendlich groß. Die meisten der Türken wollen jedoch gar keinen Kampf gegen das System führen. Nur die intellektuelle Elite, die im Westen ausgebildet wurde, sehnt sich nach etwas anderem. Das System in der Türkei ist nach herrschenden Kasten organisiert. Reiche Familien machen das Gesetz. … In der Türkei ist es nicht wie in einer konsolidierten Demokratie. Dort zählen nicht die Parteien, sondern die herrschenden Kasten. Parlamentarische Demokratie nach dem Westminster-Modell, mit einer Gewaltenteilung und mit politischem Pluralismus ist [für Erdoğan] eine moderne Entwicklungsstörung. Doch trotz alledem tun die westlichen Staatskanzleien so, als wüssten sie nicht, dass er ihnen etwas vormacht.“

Marius Ghilezan    Zum Originalartikel


MEHR MEINUNGEN

LE COURRIER (CH)

Erdoğan kaum besser als Assad (auf Französisch)

 

DARF DIE TÜRKEI NOCH EU-MITGLIED WERDEN? 

Wird die Türkei zur Diktatur?

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei hat die Regierung rund 6.000 Menschen festnehmen lassen sowie mehr als 2.700 Richter und Staatsanwälte abgesetzt. Die Türkei wird zur Diktatur, fürchten einige Kommentatoren. Andere warnen vor dem Staatskollaps.

DELFI (LT)

Der wahre Putschist ist Erdoğan

Die massive Verhaftungswelle, die dem misslungenen Putsch folgte, lässt den Journalisten Rimvydas Valatka auf Delfi erschauern:

„Das einstige Vorbild für Demokratie in der islamischen Welt, die Türkei, verabschiedet sich von Europa und der Demokratie. Statt den Generälen, die nach dem Vorbild Atatürks erzogen wurden, sehen wir einen selbstverliebten, rachsüchtigen, islamistischen Kalifen. … Wieso haben alle EU-Führer der Türkei dazu gratuliert, die Demokratie vor den Soldaten verteidigt zu haben? Die ‚Verteidiger der Demokratie‘, die mit Messern wehrlose Soldaten köpften? Nach solchen Siegen der ‚Demokraten‘ bleibt einem das Wort ‚Terrorist‘ in der Kehle stecken. Erdoğan hat schon 3.000 Richter entlassen. Das erinnert an Säuberungen in der Sowjetunion 1937. Wozu? Was verbindet Richter und Soldaten? Nichts. Die Attacke gegen die Richter beweist, dass die Türkei zur Diktatur wird, in der die Richter die Befehle der Regierung ausfüllen sollen. Ist das nicht der wahre Putsch?“

Rimvydas Valatka    Zum Originalartikel

MILLIYET (TR)

Wer soll öffentliche Ordnung aufrechterhalten?

Nach der Entlassungs- und Verhaftungswelle in Militär und Justiz fragt sich Milliyet, ob der Staat überhaupt weiter funktionieren kann:

„Es scheint, als haben die türkischen Streitkräfte den verheerendsten Schlag abbekommen, insbesondere in Bezug auf Moral und Ruf. Schon die nötigsten Militärübungen werden von nun an den Verdacht eines Putschs erwecken. … Wie werden die gestörten Streitkräfte, die viel Personal verloren haben, mit dieser Moral den Kampf im Südosten [gegen die PKK] führen? Können sie das überhaupt? … Auf der anderen Seite wird die Entlassung von 7.000 Polizisten und 3.000 Mitgliedern der Justiz diese Institutionen zweifellos schwächen. Es wird Schwierigkeiten geben, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. In der Justiz werden sich die Fälle stapeln. Besonders in den Streitkräften und in der Justiz wird es Jahre dauern, einen Nachwuchs heranzuziehen, der die Reihen füllt.“

Melih Aşık    Zum Originalartikel

NÉPSZAVA (HU)

Auch die Macht von Autokraten währt nicht ewig

Erdoğan dürfte nach dem gescheiterten Putsch das Ziel verfolgen, eine Autokratie zu errichten, doch er muss sich vorsehen, warnt die Tageszeitung Népszava:

„Die Türkei ist seit Langem keine echte Demokratie mehr. Gleichwohl hat Erdoğan Kritik aus dem Ausland nicht sonderlich zu fürchten. Für die USA ist die Türkei ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, aus Sicht der EU wiederum ist das Land ein unerlässlicher Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise. Mit dem Putsch wurde das letzte Hindernis für Erdoğan beiseite geräumt, um sich seinen großen Traum zu erfüllen: die Einführung einer Präsidialrepublik, um wie einst Muammar al-Gaddafi in Libyen und Saddam Hussein im Irak über sein Volk zu herrschen. … Die Geschichte lehrt uns indes, dass die Macht von Autokraten nicht ewig währt. Sie schafft Machttrunkenheit und Realitätsferne. Der türkische Sultan sollte sich dies vor Augen halten.“

Tamás Rónay    Zum Originalartikel

Juli 2016 | Allgemein, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren