Auch wenn globale Krisen der Wirtschaft, der Umwelt und der Politik die Medien beherrschen, liegt der Beginn jeder Dramatik noch immer in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit: der Familie. Ob im Single-Haushalt, der Kleinfamilie oder der Wohngemeinschaft, einem Kibbuz oder einer Armee-Einheit – familiäre Strukturen jeder Art prägen und deformieren Identitäten, bilden und lösen in ihrem internen Zusammenspiel Konflikte und sind Ausgangs- und Fluchtpunkt von Erinnerungen und Geschichten. Als Hauptthema unserer mehrjährigen Zusammenarbeit haben wir uns daher „Familie und Identität“ in Israel und Deutschland heute gesetzt. Identitäten konstruieren sich aus Erfahrung, … Familien aus Erinnerungen, insofern sind die Leitthemen bisheriger israelisch-deutscher Dialoge wie Shoa, Vergangenheitsbewältigung, aber auch israelische Besatzung und Palästina-Konflikt in diesem Projekt präsent, sollen aber nicht Ausgangspunkt der künstlerischen Zusammenarbeit sein. Für uns Deutsche gilt es, das heutige Israel als Land auf der Suche nach Normalität zu erfahren, einer verblüffend komplexen, im permanenten Ausnahmezustand zersplitterten und durch die politische Situation zusammengehaltenen Normalität. Deutschland ist für Israel ein ambivalentes Land, mit schrecklicher Geschichte, historischer Verantwortung und vielversprechender Gegenwart, auf die gerade die jungen Israelis sehr neugierig sind. Normalität ist ein Unwort in der Beziehung beider Länder – und gerade deswegen Fokus unserer Suche.

Höchst spannend an der Zusammenarbeit wird das Zusammentreffen von sehr unterschiedlichen Theaterstrukturen und Erzählweisen sein, in Israel das absolut gegenwärtige, von Klassikern unbelastete, in am Fernsehen geschulter Direktheit erzählende realistische Drama; in Deutschland das Regie-, Sprach- und Bildertheater als intellektuelle und zugleich dezidiert künstlerische Auseinandersetzung mit einer großen klassischen Tradition.

Zum Überthema „Familienbande“ arbeiten sechs künstlerische Teams (Regie, Dramaturgie, vier bis fünf Schauspieler), die jeweils deutsch-israelisch zusammengesetzt sind und mit Unterstützung der technischen Abteilungen der Theater relativ autonom arbeiten. Die Produktionen erleben teils in Heidelberg, teils in Tel Aviv ihre Uraufführung und werden danach jeweils am anderen Ort gezeigt, in Israel gebündelt während der Festivals für neue Dramatik „Open Stage“ am Partnertheater Beit Lessin Anfang September 2010 und 2011, in Heidelberg an mehreren Punkten der Saison mit dem Schwerpunkt den Stückemärkten 2010 und 2011. Der Stückemarkt 2010 wird mit dem Gastland Israel weitere Dramatiker und Produktionen aus Israel vorstellen, der Stückemarkt 2011 mit dem Gastland Türkei bietet einen spannenden Ansatz zum Dialog zwischen jüdischen, muslimischen und christlichen Kulturen.

Die Ausstattung wird das Cross-Over–Prinzip fortführen: Junge bildende Künstler aus Israel (aus den Bereichen Zeichnung, Malerei, Street Art, Video und Skulptur) entwickeln zusammen mit dem künstlerischen Leiter Ausstattung Sebastian Hannak Raum-Installationen, die mit den Arbeiten der Regieteams in Dialog treten und von diesen wie fremde Wohnräume in Besitz genommen werden.

Dokumentiert wird der gesamte Prozess des Projekts durch zwei jugendliche Video-Teams. Das Medienforum Heidelberg und eine Partner-Gruppe aus der Thelma Jellin Schule bei Tel Aviv werden jeweils vor Ort Recherche-, Proben- und Aufführungsmomente drehen und im Internet-Dialog vorab kurze Clips schneiden und online bereitstellen. Je einmal werden sich die Teams in der anderen Stadt besuchen. Eine Langfassung des Dokumentarfilms soll zum Abschluss des Projekts im Juli 2011 in Heidelberg sowie im September 2011 in Tel Aviv präsentiert werden.

Prolog: EXCHANGING IMAGES
Die israelische Kuratorin Galit Eilat (http://www.digitalartlab.org.il) stellt ein Programm aktueller künstlerischer Video-Arbeiten aus Israel zusammen. Die politisch akzentuierten Positionen führen die
Heidelberger Zuschauer in die Komplexität und auch verblüffende Normalität der gegenwärtigen Situation jenseits des von Medien konstruierten Bildes einer bipolaren Dauerkrise ein.

IDENTITY PARADE
Team 1 mit der freien Performance-Gruppe Public Movement (ISR, www.publicmovement.org) tritt zur Eröffnung des Stückemarkts 2010 auf öffentlichen Plätzen in Heidelberg auf (Bahnhofsplatz, Bismarckplatz) und setzt damit ein öffentliches Signal für den Israel-Schwerpunkt. Die Leiter der Gruppe, Dana Yahalomi und Omer Krieger, recherchieren für ihre Performance zum Thema Freiheit / Individualität in der Gruppe in Heidelberger „Großfamilien“ wie amerikanischen Militärs, Burschenschaften, Wohngemeinschaften, Vereinen und Kliniken. Performer sind junge Heidelberger aus den Tanz- und Theaterensembles des Hauses der Jugend. Damit erfährt die Zusammenarbeit zum Heimspiel-Projekt „Das neue Wunderhorn“ eine weitere Fortsetzung.

STRANGER THAN FAMILIES
Team 2, Regie Nina Gühlstorff (D), recherchiert in israelischen Familien in Tel Aviv zum Stichwort „Familienaufstellung“. Thema ist Konstruktion von Normalität und Individualität in einem Land, das sich zugleich als Gesellschaft von Pionieren und als historisch belastetes Volk begreift. Das Team (Regie Dramaturgie, je zwei deutsche und israelische Schauspieler) wird sich vor allem mit der 3. und 4. Generation von Jeckes, aus Deutschland eingewanderten Israelis, beschäftigen.

UNDERCOVER
Team 3, Regie Stéphane Bittoun (D / ISR; www.bittounbittoun.com), recherchiert in Israel zum Thema „illegale Identitäten“ und entwickelt daraus mit zwei israelischen und zwei deutschen Schauspielern einen doku-fiktiven Abend mit Video.

THE ART OF MEMORY
Team 4, Regie Avishai Milstein (ISR), inszeniert mit vier deutschen Schauspielern als Uraufführung den Text der jungen israelischen Autorin Maya Scheye, die für ihr Drama im Herbst 2009 in Heidelberg recherchiert. Thema könnte „the art of memory“ sein, die Kunst der Erinnerung, die jede Familie konstituiert, deren Lücken und Möglichkeiten, Geheimnisse und Lügen. Ausgangspunkt sind historische und gegenwärtige Heidelberger Familien und vergleichbare Strukturen, von der amerikanischen Soldatenfamilie bis zur Burschenschaft, vom George-Kreis bis zur WG von Altlinken.

BLACK MASK
Team 5 inszeniert mit vier israelischen Schauspielern und einem israelischen Regisseur einen eigens geschriebenen Text des jungen deutschen Autors und Regisseurs sowie mehrfachen Stückemarkt-Teilnehmers Kristo Sagor. Dieser recherchiert für sein Stück in Israel wahrscheinlich zum Thema europäisch- und orientalisch-jüdische Familien, über Leitkultur und Interkulturalität, Absorption und Assimilation. Ist Israel noch ein europäisches Land oder schon ein arabisches – oder beides, in- und übereinander? Wie setzen sich Kulturtraditionen in Israels Familien fort, wie werden sie transformiert?

FORBIDDEN GAMES
Team 6, Regie Hanna Rudolph (D), arbeitet zum Abschluss des Projekts wahrscheinlich mit vier deutschen und zwei israelischen Schauspielern. Ausgangspunkt der Recherche ist wahrscheinlich die Arbeit der unzähligen internationalen NGOs und ihrer hochmotivierten Mitarbeiter, die in Israel und Palästina den Konflikt begleiten, analysieren, moderieren und durch wirtschaftliche, medizinische, soziale und vor allem auch kulturelle Kooperationsprojekte zu mildern versuchen.

Alle genannten Themen sind Ansatzpunkte einer fokussierten, aber offenen Recherche, die aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen bewusst aufgreifen will. Erfahrungen aus den ersten Projekten werden in die weiteren Projekte einfließen.

„Familiengeheimnisse“
Die Zusammenarbeit von Beit Lessin und dem Theater Heidelberg wird nicht nur die künstlerischen Bereiche berühren und betreffen. Gerade wegen der systemischen Differenzen wird es für Mitarbeiter aus Verwaltung und Technik interessant sein, das jeweils andere Modell einer Theaterorganisation vor Ort kennenzulernen und in ihm probeweise mitzuarbeiten. Weil das Theater Heidelberg einen viel größeren Stab an Mitarbeitern hat, sind zwei Phasen des Personalaustausches jeweils in Vorbereitung des „Open Stage“-Festivals geplant. Je ein Mitarbeiter aus Festivalorganisation, Betriebsbüro, Öffentlichkeitsarbeit, Bühnentechnik, Verwaltung und Maske werden 2009 und 2010 für 10 Tage nach Tel Aviv reisen. Geplant sind neben der intensiven Begleitung des Betriebs auch zwei Workshops zur Analyse von Arbeitsansätzen und ihrer Übertragungsmöglichkeit auf das deutsche Stadttheater. Im Gegenzug werden aus der wesentlich schlankeren Organisation des Beit Lessin im Mai 2010, in der unmittelbaren Vorbereitungsphase zum Stückemarkt, drei Mitarbeiter aus Produktionsleitung, Disposition und Technik das Heidelberger System kennenlernen und ebenfalls in einem Workshop auswerten.

Angefragt sind weitere Institutionen in Heidelberg für eine Erweiterung der Zusammenarbeit: Der benachbarte Kunstverein Heidelberg mit seinem Direktor Johan Holten präsentiert immer wieder avancierte künstlerische Positionen aus der Region, so zuletzt Beiträge des israelischen Künstlers Eyal Weizman in den Gruppenausstellungen „Islands + Ghettos“ und „Camp“ sowie neue Arbeiten des New Yorker Libanesen Walid Raad (The Atlas Group). Deutschlands einzige Hochschule für Jüdische Studien, ebenfalls in unmittelbarer Nachbarschaft, ist mit seiner Professorin Anat Feinberg daran interessiert, den Austausch mit Gesprächen und Analysen zu begleiten.

Konzept und künstlerische Leitung:

Avishai Milstein, Teatron Beit Lessin, Chefdramaturg
Jan Linders, Theater Heidelberg, designierter Schauspieldirektor

Stand: 6. Mai 2009

Mai 2009 | Allgemein | Kommentieren