
Helmut Gollwitzer (links) im Gespräch mit dem Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz (November 1967)
Helmut Gollwitzer wäre heute, am 29. Dezember 2018, hundertundzehn Jahre alt geworden. Ich habe ihn – 20jährig – 1963 auf dem Hohen Meißner kennengelernt – seine Rede auf diesem jugendbewegten Treffen im Anschluss an Erinnerungen …
Kann ein Christ Kommunist sein? Entschieden nein, sagte (1951) Helmut Gollwitzer. Der evangelische Pfarrer war zwei Jahre zuvor aus Russland zurückgekehrt, Hunderttausende Leser ließen sich von seinem Buch „… und führen, wohin du nicht willst“, in dem er die Erfahrungen seiner Kriegsgefangenschaft zusammenfasste, berühren. Jahre später begann sein messerscharfes Urteil zu wanken. Gollwitzer, nach einer Zwischenstation in Bonn seit 1957 Professor für Systematische Theologie an der Freien Universität (FU) Berlin, unterstützte in den unruhigen Jahren nach 1968 die Pfarrer und Vikare, die sich für die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und deren „Friedenspolitik“ engagierten.
Der „Lehrling Luthers“ und Schüler Karl Barths
gab sich dem Irrtum hin, Atheismus gehöre nicht konstitutiv zur marxistisch-leninistischen Idee; er hielt eine Ablösung von der atheistischen Tradition für durchaus möglich. Gollwitzer wurde der politische Theologe der 68er Generation. Er entdeckte den „Revolutionär“ in Jesus. In seiner Definition ist das Reich Gottes die „Durchsetzung des gnädigen Willens Gottes gegen alle Widerstände“; Gottes Wille geht auf das „gute Leben der Menschen, und zwar jetzt schon in der Vorläufigkeit des gegenwärtigen Lebens, vorausblickend auf die künftige Vollendung“.
Während der Besetzung der FU 1968 diskutierte er mit den Studenten, er sympathisierte offen mit deren revolutionären Zielen.
„Ein Christ muss Sozialist sein. Ein Sozialist kann Christ sein“
– mit solchen Parolen erwarb sich Helmut Gollwitzer die Verehrung der Demonstranten auf den Straßen. Seinen Anhängern galt er wie Heinrich Böll als „Gewissen der Nation“. Bekenntnistreue Christen hingegen sehen in ihm dagegen eine der Leitfiguren des Linksprotestantismus, mitverantwortlich für die Austrittsbewegung aus den evangelischen Kirchen.
Der Pastorensohn aus dem fränkischen Pappenheim
trat nach 1933 mutig für die Bekennende Kirche ein, unterrichtete an deren illegaler Hochschule und wurde Nachfolger von Martin Niemöller als Pfarrer in Berlin-Dahlem. Er protestierte öffentlich gegen die Synagogen-Schändungen, sein Kontakt zu Mitgliedern des Widerstands brachte ihm Verhaftung und Redeverbot ein.
Wie Niemöller propagierte Gollwitzer nach 1950 ein neutrales, entmilitarisiertes Deutschland, er kämpfte gegen die Aufstellung der Bundeswehr, gegen die Notstandsgesetze, er geißelte den Vietnamkrieg der USA. Schon 70 Jahre alt, beteiligte er sich an Sitzblockaden gegen die Raketenstationierung in Mutlangen.
Der „nüchterne Alltagschrist“ (Gollwitzer über Gollwitzer)
hielt 1976 im Abstand von wenigen Wochen zwei vielbeachtete Grabreden: erst für seinen Freund Gustav Heinemann, dann für Ulrike Meinhof. Dass er die Trauerfeier für die RAF-Terroristin hielt, nahmen ihm viele übel. „Ein Tod verpflichtet zur Versöhnung“, entgegnete er den Kritikern.
Auch Rudi Dutschke wurde von ihm beerdigt.
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Hoher Meißner 1963: Rede von Professor Dr. Helmut Gollwitzer
Für uns Ältere ist dieser Tag ein Fest der Dankbarkeit und der Prüfung zugleich; für euch Junge ist es ein Tag des Hörens auf Vergangenes und des Vorausschauens auf eure Zukunft. Wie kann unser Vergangenes eurer Zukunft dienen? Das ist heute die Frage! Man spricht vom „Erbe der Jugendbewegung“, – aber das Bild vom Erbe ist in vielen Fällen, in denen wir es anwenden, ein schiefes Bild. Einen Bauernhof, eine Firma kann man vererben; mit der Erbschaft übernimmt der, der sie bekommt, Vorentscheidungen und Verpflichtungen, er ist gebunden durch sein Erbe. Geschichtliche Bewegungen aber lassen sich nicht vererben. Sie haben ihre Zeit, ihre Blüte, ihr Vergehen und was sie als Erbe hinterlassen, sind Gedanken, Beispiele und Wirkungen, die von den folgenden Generationen in freier Auswahl und Ent-scheidung übernommen werden. Es gibt hier nicht testamentarische Verfügungen, die den Erbgang regeln und die Zukunft festlegen können. So erzählen wir heute von dem, was war, von unseren Reichtümern und unseren Irrtümern, um es euch Jungen vorzulegen zu freier Verwertung für euer Leben.
Der heutige Tag lenkt unseren Blick auf die Anfänge zurück,
die unser aller Anfänge waren, auch für die später Geborenen und später Hinzugekommenen, bis zu euch Jungen hier und heute, die ihr in die Tradition dieser weit wirkenden Anfänge ebenso eingetreten seid, wie etwa wir von der bündischen Jugend, von der zweiten Welle der Jugendbewegung in den zwanziger Jahren, misstrauisch beäugt von den älteren Wandervögeln, die mit Grund zweifelten, ob wir jene Anfänge legitim weiter trügen.
Mit dem Wandern fing es an.
Wie kann Wandern solche großen Dinge tun? Gewandert sind junge Menschen zu allen Zelten. Auch diesmal, in den Jahren um die Jahrhundertwende, als in Berlin und Hamburg jene für uns schon legendären Wandergruppen junger Menschen entstanden, konnte niemand ahnen, was dann daraus geworden ist. Von niemanden geplant, durch Zusammentreffen von historischen Umständen und unberechenbaren geistigen Bewegungen, als Frucht eines für uns nicht wiederholbaren Kairos der Geschichte, entstand aus dem gemeinsamen Wandern junger Menschen, was sonst noch nie daraus entstanden war:
Aus der Wanderpartie als Freizeitvergnügen wurde eine Lebensform,
die immer weiter greifende Konsequenzen hatte. Zunächst ein neuer Stil des Wanderns: die Wirtshäuser wurden gemieden, bisher unbesungene Landschaften entdeckt; dass man sich selbst verköstigte, wenig Geld hatte, beim Bauern oder im Freien übernachtete, machte die langen Hosen, die Schirme und Hüte lästig, eine zünftige Kluft wurde erfunden und zum Kennzeichen.
Der Reiz des einfachen Lebens,
der Verzicht auf Alkohol und Nikotin und die Lust an Strapazen schufen ein neues Selbstbewusstsein, ein stolzes Bewusstsein des Gegensatzes zu den Alkohol-Philistern, den Vergnügungen bei Bierdunst und zotigen Witzen, mit denen die Gleichaltrigen den Erwachsenen nacheiferten; gemeinsame neue Erlebnisse draußen, außerhalb der Städte, den anderen unbekannt, schlossen die Gruppen zu Gemeinschaften zusammen, die von Freundschaft durchwirkt waren.
Aber Freundschaft schloss nicht mehr ab, sondern war eingefügt in die Verantwortung für einen größeren Kreis und verlor damit die Enge und die Flüchtigkeit sonstiger Jugendfreundschaften.
Von den Erwachsenen konnte man nur wenige brauchen,
nur solche, die sich als jung geblieben erwiesen durch ihre Mitfreude an diesem neuartigen Treiben. An die Stelle der Imitation trat die Kritik an der Welt der Erwachsenen, eine jugendliche, also eine reichlich ungerechte und selbstbewusste, aber auch scharfsinnige und zu Recht fordernde Kritik.
Am Maßstab der eigenen Entdeckung, des eigenen neuartigen Lebens erkannte man, was der Umwelt fehlte, sagte Nein zu ihr und schaute voraus auf eine erneuerte Gesellschaft der Zukunft; sie zu erkämpfen enthüllte sich als die Aufgabe, die das herrliche Erlebnis des neuen Wanderns stellte. So wurde aus dem neuen Wanderstil ein neuer Lebensstil und der erschien als Verheißung einer neuen Gesellschaft und als der Auftrag, sie heraufzuführen.
Die Zeit muss eigenartig reif dafür gewesen sein;
denn dies breitete sich aus wie eine Ansteckung. Es konnte keine Mode werden; dazu waren die Anforderungen zu streng; nur eine Minderheit, eine Auslese ließ sich davon anlocken. Diese Auslese aber fand sich überall, wo die Erwachsenen Jugendpflege betrieben, aus Fürsorge für die Jugend wie zur Propagierung ihrer jeweiligen Ideen. Bei den „Bündischen“ wie bei den konfessionellen Jugendverbänden, bei den Jugendorganisationen der Sozialisten wie bei denen der Konservativen ergriff der neue Lebensstil junge Gemüter, machte sie aufsässig gegen die Regie der Erwachsenen, sprengte den Verband und zog ihn als ganzen ins neue Fahrwasser.
Mich hatte man als Dreizehnjährigen 1922 für die eben gegründete Ortsgruppe
des „Deutsch-Nationalen Jugendbundes“ in Lindau geworben. In sauberem Matrosenanzug saß ich sittsam bei den Ortsgruppenabenden und hörte die Ansprachen des Herrn Vorsitzenden über den Schandantrag von Versailles und die Bosheit der Novemberverbrecher an. Ab und zu kamen pensionierte Generale, predigten bei Kaffee und Bier den Kampf für Deutschlands Wiederaufstieg zu einstiger Größe und gedachten des allerhöchsten Kriegsherrn in Doorn. Mit Entrüstung vernahmen wir die Gerüchte von einer Absplitterung, hervorgerufen durch „rötlich infizierte“ Leute. Bevor wir noch recht erfassten, worum es bei dieser Absplitterung – es war der „Jungnationale Bund“ – ging, breitete sich durch ein paar Neuankömmlinge das neue Wesen auch bis zu uns aus, die Gruppe veränderte sich äußerlich und innerlich, und nach zwei Jahren der Auseinandersetzung zwischen „Jugendbewegten“ und „Alten“ war auch dieser Bund aufgesogen, gab sich einen neuen Namen und war „jugendbewegt“.
So ging es den evangelischen Bibelkränzchen
mit und nach der Abspaltung der Köngener, so ging es in der katholischen Jugend bei der Entstehung des Quickborn, so bei der Sozialistischen Arbeiterjugend, so bei den Guttemplern, so bei der Separation der „Neupfadfinder“. Nichts einte diese „Bewegung“ als der neue Lebensstil, der die äußere wie die innere Haltung prägte. Er aber genügte, damit wir uns wieder erkannten als verwandten Geistes über die Zäune der Anschauungen hinweg, die wir von den Älteren übernommen hatten. Seinetwegen fühlte ein Junge aus den rechts stehenden Gruppen der Bündischen Jugend sich den jugend-bewegten Sozialisten näher als den Angehörigen der Bismarckjugend und der Hitlerjugend.
Der Graben lief zwischen „Jugendbewegung“ und „Jugendpflege“,
wie unsere Schlagworte lauteten; innerhalb der Jugendbewegung verband der Lebensstil mehr, als die Anschauungen und die Streitigkeiten trennten.
Deshalb verfehlen die heutigen Vorwürfe, die Jugendbewegung habe Führerkult betrieben,
sei einerseits zu wenig politisch gewesen und habe andererseits durch ihre völkische Ideologie den Hitlerismus vorbereitet, den Adressaten. Die Jugendbewegung, die dies hätte tun können, hat es nie gegeben. Die Vorwürfe treffen zu recht einige Gruppen in ihr; denn in der Jugendbewegung gab es alles, was es bei den Erwachsenen auch gab. Wir teilten deren Weltanschauungen, deren Ressentiments und Beschränktheiten; wir waren, so sehr wir uns ihnen überlegen fühlten, genau so der Zeit unterworfen, genau so dumm und blind wie sie. Es gab keinen Richter, der die Grenze hätte ziehen und irgendeiner Gruppe die Zugehörigkeit zur Jugendbewegung hätte absprechen können, weil sie zu nationalistisch oder zu konfessionell gewesen wäre. Auch die alten Freideutschen von 1913 als die Zeugen der Anfänge hatten dazu nicht die Macht und mit Recht rief ihnen Wilhelm Stählin schon 1921 den Vers zu:
„Der Blitzstrahl, der dies Feuer angezündet, fiel nicht herab auf uns allein;
am Himmel hat’s der Widerschein verkündet, er schlug auch anderer Orten ein“.
Die Richter waren wir selbst
und das Kriterium war nicht eine gemeinsame Ideologie, die wir nicht hatten, sondern war das Wiedererkennen, das sich von selbst vollzog, dort, wo wir an der so schwer zu umschreibenden Einheit von äußerem Lebensstil und innerer Haltung fest-stellten, dass auch die anderen in dem gleichen Bewegtsein standen, das wie ein Naturereignis uns über alle Trennungen hinweg ergriffen hatte. Das ist so geblieben bis zum heutigen Tage, bis zu der bunten Zusammensetzung, in der ihr Jungen heute hierher gekommen seid.
Dieses Ereignis war der Reichtum unserer Jugend, – darum ist uns der heutige Tag ein Fest der Dankbarkeit. Reich an Freundschaften, reich an Erlebnissen der Natur und der Landschaft, reich an uns gemäßen Verantwortungen, dem Geiste verschworen, auf uns selbst, auf unsere eigenen Beine gestellt.
So trugen wir den Kopf hoch und heute noch möchte keiner von uns aus seinem Leben diese Epoche missen, diese reiche Jugend, die ihn fürs Leben geprägt hat.
Wäre nicht mehr zu sagen,
dann könnten wir Alten uns jetzt am freideutschen Stammtisch treffen und in Erinnerungen schwelgen, wie es alt werdende Menschen seit jeher getan haben. Was soll man damit die Öffentlichkeit behelligen in einer veränderten Zeit und wozu wollen wir euch Junge damit langweilen? Wollen wir euch nur neidisch machen mit unseren Erzählungen oder wollen wir euch unsere Formen und Ideen aufnötigen, damit ihr sie zu unserer Erbauung weiter kultiviert? Das wäre die gleiche Zumutung der Alten, gegen die wir uns, als wir jung waren, so heftig gewehrt haben.
Darum also darf es sich nicht handeln. Wir sind nicht ewige Wandervögel und wir proklamieren nicht die ewige Jugendbewegung.
Wohl aber hat es Notwendigkeit und Sinn, uns Rechenschaft zu geben,
was heute zu lernen sei aus dem damaligen Aufbruch deutscher Jugend, aus seinen Erfahrungen und seinem Verlauf, aus seinem Gewinn und aus seinen Irrtümern.
Was ist aktuell von heute, für die Jugend von 1963, die vorausschaut auf die nächsten fünfzig Jahre? Es wäre aber Flucht vor der Härte der Wirklichkeit, wenn wir uns scheuten, uns diesen schönen Sonnentag durch harte Worte verderben zu lassen.
Ich versuche, einiges nach dem Maße meiner Einsicht herauszuheben:
1. Städtische, bürgerliche Jugend lief hinaus in die Wälder,
lag am nächtlichen Feuer, erlebte Wetter und Jahreszeit, Heuboden und Sonnenaufgang. Es war ein Reichtum des Erlebens der Natur in ihrem eigenen Sein, den ihr Junge ebenso kennt. Unsere Illusion war zu meinen, von hier aus ließe sich die Gesellschaft erneuern; wir verkannten die Obermacht der städtischen Zivilisation, aus der wir flohen, als sei sie nicht unentrinnbar unsere Welt.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass wir uns geirrt haben
und jedem Soziologiestudenten im ersten Semester ist erlaubt, über unsere Torheit zu lächeln. Aber war da nicht etwas, was wir heute, desillusioniert, aufs Neue ergreifen müssen? Mehr und mehr schwindet unter der rapiden Bevölkerungszunahme und unter der rapiden Motorisierung Unberührtheit und Einsamkeit der Natur, die uns damals noch so leicht erreichbar war. Darf sie ganz verschwinden? Was wird dann mit ihr verschwinden und absterben? Nicht zufällig finden sich in den Naturschutzbestrebungen viele alte Jugendbewegte zusammen und wir danken zum Beispiel Knud Ahlborn für den Kampf, den er seit Jahren um das Bestehen des Hohen Meißner führt. Aber es geht nicht nur um die Erhaltung einiger Oasen von Natur, so unentbehrlich sie auch sind, es geht um den Widerstand gegen die maßlose und vernunftlose Verschleuderung von Natur und Landschaft, die in den letzten Jahrzehnten bei uns in Deutschland betrieben worden ist, gegen die große Landzerstörung, mit der wir die Erde für die kommenden Generationen unbewohnbar machen. Eine Gefahr, nicht geringer als die Gefahr des Atomkrieges!
Ihr lebt in einer Kultur des Raubbaues!
Wer den – der Technik wegen – für unaufhaltsam erklärt, der erklärt die Entmenschlichung durch die Technik für unaufhaltsam. Ihr Jungen aber habt einzustehen für die Zukunft des Menschen, für eure eigene Zukunft als Menschen. Wer von euch jetzt noch auf Fahrt und Lager Natur erleben darf, ist damit verpflichtet, mit zu arbeiten sein Leben lang an der Eindämmung des Raubbaues und der Erhaltung von Gottes Schöpfung für das Leben der Menschen.
2. Was zog uns an am Volkslied, am alten Volksgut?
Dass es nicht mehr lebendig gemacht werden kann, wissen wir heute. Aber streicht die romantische Schwärmerei und die uns so restlos ausgetriebene Deutschtümelei weg – bleibt dann nicht doch noch etwas, was der Be-achtung wert ist? Hier deckten sich ohne Bruch Leben und Ausdruck. Die schlichte Lebens-echtheit des Volksliedes steht im Widerspruch zur gesuchten Manier und zur unechten Kulisse. Hier lernten wir die Unterscheidung des Echten vom Unechten, hier fanden wir Mittel, selbst schöpferisch zu werden zur Gestaltung unserer Zusammenkünfte und Feste. Die Mittel können nicht die gleichen bleiben, aber der Drang zur Selbstgestaltung muss bleiben, heute erst recht, wo die Zeitgenossen glotzend vor dem Fernsehschirm sitzen, ihre Reisen von Touropa organisieren lassen, statt Hausmusik zu treiben Schallplatten sammeln und ihr Verständnis zur bildenden Kunst durch Besuch von Picasso-Ausstellungen befriedigen. Der ganze Mensch, die Einheit von Empfangen und Tun war die Sehnsucht der Jugendbewegung, eine Sehnsucht von großer Wahrheit. Der ganze Mensch ist verloren, wo der Mensch nur noch passiv konsumiert, was Massenmedien ihm wohl präpariert darbieten. Wie weit wird der junge Mensch in euren Gruppen aktiv, in Aktivität eingeübt, so dass er fürs ganze Leben Geschmack bekommt am eigenen Gestalten seines Lebens? Wieweit sind eure Gruppen Inseln und ansteckende Bei-spiele, Zellen schöpferischen Lebens inmitten des großen, hohlen, lärmenden und lähmenden Kulturkonsums unserer Zeit?
3. Unser Stolz von damals war auf uns selbst gestellt zu sein.
Die Lust am einfachen Leben kam aus dem Stolz auf die Unabhängigkeit. Daher die Freude an der Bedürfnislosigkeit, am Ertragen von Strapazen, am Zusammensparen der paar Mark für die nächste Fahrt. Inzwischen korrumpiert der Bundesjugendplan, vor einem Jahrzehnt mit so guten Hoffnungen begonnen, durch seine Geldschwemme die heutigen Jugendbünde, die Führer werden zu wohlbestallten Managern, die großen Verbände zu Herdenviehorganisationen unter der Aufsicht von Parteien, Kirchen und Behörden; die finanzielle und die geistige Unselbständigkeit entsprechen sich auf genaueste. Gelobt sei jede von euren Gruppen, die eifersüchtig auf ihre Unabhängigkeit bedacht ist und die von nichts leben will als von dem, was sie selbst auf die Beine stellt. Ihr tragt dadurch dazu bei, dass die gute Grundidee des Bundesjugendplanes wieder zum Vorschein kommt.
Auch das hat heute eine weite Perspektive für die Lage der Gesellschaft:
Wir lassen uns mit Wohlstandsgütern überschütten, werden immer abhängiger von dem, was wir haben, die Reklame peitscht uns von Bedürfnis zu Bedürfnis, in Sonntagsreden jammern wir über den Materialismus, dem wir am Werktag wie am Sonntag verfallen sind. Die Soziologen sagen uns, nur eine neue Askese, eine Bereitschaft zum freiwilligen Verzicht auf möglichen Konsum könne uns aus diesem hektischen Tanz ums Goldene Kalb herausführen.
Aber wo könnte eine so nützliche Mode anders anfangen als bei kleinen Kreisen? Höchst aktuell also die Erinnerung an eine Jugend, die es als jugendgemäß empfand, auszutreten aus dem Erfolgsdenken, dem Besitzdenken, dem Zweckdenken, das sie um sich her regieren sah, die die Freuden und Erregungen des Geistes über die Genüsse stellte, die man sich mit Geld kaufen kann, und die den Wert des Menschen nicht nach seinen Besitztümern, sondern nach seiner Bewährung in der Gemeinschaft bemaß. Frage an uns alle hier: Wie weit hat sich diese Art zu leben und zu werten bei uns in den von uns bestimmten Familien und Gruppen durch-gehalten? Konkrete Frage an euch Junge: Wie viele von euch lassen sich rufen zu den ent-behrungsreichen Diensten, also: ihr Mädchen in das diakonische Jahr, ihr Studenten in die studentische Selbstverwaltung, ihr alle in den unauffälligen, selbstlosen Dienst in den Verbänden aller Art? Wie viele von uns gehen zum Lehrpersonal in der Entwicklungshilfe, zum Friedenskorps, zu Danilo Dolci und Tullio Vinay nach Sizilien, zu den Arbeitslagern der „Aktion Sühnezeichen“ – überall dorthin, wo anstelle unseres Überflusses wachsendes Elend herrscht?
Muss man nicht dort das Abenteuer der Fahrt adäquat fortsetzen, wenn ihr älter geworden seid?
4. Die Jugendbewegung war ein großes pädagogisches Ereignis,
das ist auch bei ihren Kritikern unbestritten. Ihre pädagogischen Erfahrungen und Muster sind noch längst nicht ausgewertet, geschweige denn überholt. Hier war aber die Jugend nicht nur das Objekt der Pädagogik, sondern zugleich ihr Subjekt. Paidagogos heißt Knabenführer. Wir waren alle Pädagogen, Knaben und Jünglinge, zu anderen Zeiten durch eine tiefe Kluft getrennt, waren in der Gruppe zusammengeschlossen, kümmerten sich umeinander und auf jeden legte die Gruppe erzieherische Verantwortung, jeden leitete sie zur Selbsterziehung an.
Denn nichts anderes als eine Umschreibung von Selbsterziehung bedeutet unsere Formel: Jugend soll durch Jugend geführt werden. Sie war eine revolutionäre Formel in einer Zeit, in der die Autorität von Elternhaus, Schule und Staat noch ungebrochen schien.
Was ist daraus geworden? Die Autoritäten sind zerbrochen,
aber das Elend ist immer noch da:
das Elend der Schule mit ihrer Öde, ihrem zusammenhanglosen Wissensstoff, ihren abgestumpften Lehrern. Manches ist zum Glück besser geworden, aber die Menschen mit pädagogischer Leidenschaft sind rarer denn je. Wer von euch in der Gruppe jugendgemäßes Leben erlebt, dem muss daraus eine Verantwortung für die Schule entstehen, dem müssen die Schulfragen sein Leben lang zu den brennendsten Fragen der Nation gehören, der muss wissen, was die Schule nicht leistet, das kann in der Kaserne nicht gerettet werden.
5. Selbsterziehung heißt Selbstdisziplin.
Die Gruppe forderte sie für das Gebiet, dessen Disziplinierung nicht nur dem jungen Menschen schwer fällt: die Geschlechter fanden sich in einer merkwürdig unerotischen Kameradschaft.
Das erotische Erlebnis wurde damals verzögert, heute ist es verfrüht. Beides ist fragwürdig.
Aber das Heutige ist schlimmer als das Damalige. Und immerhin: Wir rissen die alten Tabus nicht nur ein, sondern errichteten neue. Wir spürten, dass ohne Zucht des geschlechtlichen Lebens einer den anderen und zugleich sich selbst verdirbt. Wer heute zum Angriff auf Tabus aufruft, rennt offene Türen ein. Wie aber steht es mit der Aufrichtung echter Konventionen, mit der Verbindung von Freiheit und Zucht als dem Geheimnis des menschlichen Lebens, mit dem Beitrag eurer Gruppen zur Bildung neuer Moral in einer Zeit, in der Ungezählte durch den Zusammenbruch der bisherigen Konventionen ratlos zu Schaden kommen?
6. Das neue Singen war eines der großen Ereignisse in unserem Leben
und ist es geblieben, wie diese Tage bewiesen haben. Aber wir sangen und singen doch nicht nur für uns selbst. Unser Ziel war, unserem Volke das Singen zurück zu gewinnen. Wie sehr die Hoffnungen der Jugendbewegung gescheitert sind, zeigt sich daran, dass dies nicht gelungen ist. Das ist nichts Geringfügiges. Eine noch so zusammen gewürfelte Schar von Franzosen, Russen, Engländern, Israelis hat genug Lieder, fröhliche und festliche, zum gemeinsamen Singen. Wie unser Volk heute bis in die Wurzel getroffen ist, wie nur scheinbar und äußerlich der westdeutsche Wiederaufstieg der letzten 15 Jahre ist, wie unverändert ein schweres Gericht über uns Deutschen liegt, das ist nicht nur an der Mauer in Berlin und an dem Stacheldraht wenige Kilometer von hier zu sehen, sondern auch an der scheinbar winzigen Tatsache, dass wir nur rasch verfliegende Schlager haben, aber kein Lied mehr, das in Deutschland Menschen verschiedener Generationen und verschiedener Schichten spontan und auswendig mit einander singen könnten.
In ein tiefes Verstummen ist unser Volk geraten
und es wird erst dann geheilt sein, wenn es wieder ein singendes Volk ist. So haben wir denn auch kein Lied, mit dem wir diese Stunde heute so beschließen könnten, wie sich’s gebührt. Die Freunde, die dieses Fest vorbereitet haben, haben sich lange genug den Kopf zerbrochen. Alle Lieder, die in Frage kamen, erwiesen sich als durchgestrichen durch den inneren und äußeren Zusammenbruch.
Dann griff man zur dritten Strophe des Deutschlandliedes. Dass wir in Westdeutschland eine Nationalhymne haben, die auch längst nicht mehr stimmt und auf der durch ihre Verkoppelung mit dem Horst-Wessel-Lied eine dunkle Erinnerung liegt, das ist für unsere innere Lage bezeichnend genug. Wer hätte im Oktober 1913 gedacht, dass man ein freideutsches Treffen mit dem Deutschlandlied schließen werde! Wenn wir nun diese dritte Strophe, als die einzige erträgliche unserer Nationalhymne, meinen singen zu sollen, dann sollen wir dabei auch daran denken, dass die Deutschen vor kurzem der Einigkeit das Recht und die Freiheit geopfert haben, dass das die fürchterlichsten Folgen gehabt und dass wir in Zukunft immer nur im Recht und in der Freiheit einig sein wollen und nie ohne sie.
7. Der gemeinsame Lebensstil schuf eine großartige Toleranz.
Fanatismus war uns abscheulich. An den Kommunisten und den Nazis war uns ihr Absolutheitsanspruch am fremdesten. Nicht vom Politischen, sondern vom Pädagogischen her versprachen wir uns Deutschlands Erneuerung, also nicht vom Sieg einer Partei, sondern von einer inneren Wandlung der Menschen. Auch dabei war viel Illusion und Träumerei. Am schlimmsten aber war:
Nur ein Teil von uns erkannte, dass die angemessene staatliche Form für diese Vielfalt, für dieses aufmerksame Dulden verschiedener Wege, für dieses Glück des bewegten Gesprächs, für dieses Ideal der eigenen freien Meinungsbildung, für diese Lust an den Spannungen und Gegensätzen des Geistes, für diese Bevorzugung der Qualität vor der Quantität heute die Demokratie ist.
Weil vielen von uns Wort und Sache der Demokratie von törichten Erwachsenen madig gemacht worden war, haben sie nicht zu ihrer Erhaltung und Ausgestaltung, sondern zu ihrem Untergang beigetragen.
Die Meißner-Formel ließen wir Bündische oft als individualistisch verleumden, statt zu erkennen, dass man sie als die Kernformel eines demokratischen Bewusstseins verstehen kann. Heute scheint sich das herrlich geändert zu haben. An Bekenntnissen zur Demokratie überbieten sich Hitlergenerale, Franco-Liebhaber und alle Bürokraten, die ungeniert wie zu Führers Zeiten den Staat und die Regierung mit einander gleichsetzen.
Zur Demokratie bekennt sich der Verfassungsschutz,
wenn er das Grundgesetz, das er schützen soll, missachtet;
zur Demokratie bekennt sich die Regierung, wenn sie Notstandsgesetze von der Art vorlegt,
dass mit ihnen im Anwendungsfall die demokratische Ordnung, die man zu schützen vorgibt, beseitigt wird;
zur Demokratie bekennen sich Führer der Vertriebenenverbände,
wenn sie sogenannte Verzichtpolitiker ins Gefängnis bringen wollen.
Das Bekenntnis zur Demokratie ist die bequemste Sache der Welt, die Demokratie selber aber ist die schwierigste, unbequemste und riskanteste Staatsform, die sich denken lässt.
Warum wollen wir Demokratie trotz aller Ihrer Nachteile?
Weil sie die Staatsform für erwachsene Menschen ist!
Wer sie will, darf also den Staat nicht als Kindergarten und nicht als Kaserne wollen.
Er darf den Untertan und die Uniformierung der Köpfe nicht wollen.
Er muss den Menschen wollen, der sein Leben „nach eigener Bestimmung,
vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit“ führen will.
Er muss die Freiheit des aufrechten Bürgers, das heißt aber die Freiheit des Andersdenkenden,
die Freiheit des Außenseiters, die Freiheit des Ketzers wollen und zwar nicht nur dessen innere,
sondern dessen äußere, reale Äußerungs- und Aktionsfreiheit.
Wer diese Freiheit und diesen Menschen will, der muss in der Demokratie für die Demokratie kämpfen,
jeden Tag, gegen die totalitären Tendenzen in der eigenen Partei, gegen die Uniformierung der öffentlichen Meinung,
für die Spielräume der Selbstbestimmung. <
Wollt ihr das? Tut ihr das? Wir haben die Demokratie in Westdeutschland noch nicht gewonnen, wir haben sie noch kaum begonnen und schon fürchten viele, sie sei wieder im Schrumpfen. Leidenschaft für Demokratie als Lebensform, das gehört – wie präsentiert durch Namen wie Ernst Backe, Adolf Reichwein, Hermann Schafft – zum besten Erbe der Jugendbewegung.
8. Well gerade das Wort „Ketzer“ fiel: es kommt aus dem kirchlichen Bereich.
Die Kirchen stehen heute äußerlich hoch im Kurs und sogar bei diesem Meißnerfest finden Gottesdienste statt, woran vor 50 Jahren bezeichnenderweise niemand gedacht hat. Wo die Kirchen so ins Ansehen kommen, da muss man – das sage ich als einer, der mit allen Fasern seines Lebens in der christlichen Kirche lebt – um die Freiheit wie ums Christentum besorgt sein.
Die religiösen Äußerungen der alten Jugendbewegung waren ein seltsames Gebräu unausgegorener Ideen, mit Ästhetizismus und lyrischem Mystizismus naiv durchmischt. Aber in ihnen sprach sich wie im ganzen neuen Lebensstiel doch ergreifend das Verlangen aus, aus „entseelter Arbeit“ und „entseeltem und entseelendem Genuss“ (wie Knud Ahlborn 1913 in seiner Feuerrede sagte) und ebenso aus entseelter religiöser Konvention herauszukommen zu durchseeltem Leben in eigener Verantwortung, und ebenso die Erwartung, es könnte ein ernst genommenes Christentum noch eine neue, rettende Kraft werden.
Für die innere Erneuerung der Kirche schlug unser Herz,
soweit wir zu ihr gehörten, für ihre äußere Macht hatten wir nichts übrig.
Heute stehen die Kirchen mitten im großen gegenseitigen Geschäft: Regierung, Parteien,
Bürokratie, Kapital, Militär und Kirche – alle diese Hände waschen sich gegenseitig und spielen
sich die Profite zu – genau wie damals 1913.
Was dabei aus dem Christentum wird, lehrt jeder Blick hinter die Fassade :
Darum sei euch Jungen gesagt, soweit ihr euch zur christlichen Kirche haltet:
Verlangt das Christsein von euch selbst und nicht von den anderen!
Seid die Unruhe in euren Kirchen! Seid jedem Zwang in Glaubenssachen feind und beweist,
dass Glauben und Freiheit zusammen gehören und nicht gegeneinander stehen!
Gustav Wyneken, der alte Löwe mit seinen 88 Jahren, ist diesem Feste grollend ferngeblieben, weil er aus den Gottesdiensten und den Namen zweier evangelischer Theologen auf dem Programm entnahm, auch hier marschiere wie sonst in der Bundesrepublik die Klerikalisierung und statt einer freien Jugend werde hier gezähmtes Wandergeflügel unter Assistenz der Kirchen für den nächsten Heldentod abgerichtet. Wir grüßen den alten, unermüdeten Streiter, der wie wenige andere in dieser Stunde an diese Stelle gehört hätte und hoffen, dass er von diesem Tage einiges vernimmt, was seinen düsteren Vermutungen widerspricht.
9. Jawohl, für den nächsten Heldentod abgerichtet.
Ist das nicht schon zweimal geschehen? War die Jugendbewegung daran nicht kräftig beteiligt? Stimmen nicht alle Zitate, mit denen man heute beweist, wie der Weg der Bündischen Jugend zielsicher ins dritte Reich einmündete?
Jawohl, sie stimmen! Die Seuche des Nationalismus und des Antisemitismus war unter uns ebenso verbreitet wie unter den Erwachsenen. Die völkische Selbstanbetung fand auch unser Gefallen und der Arierparagraph spukte schon früh in einigen Wandervogelgruppen. Es ist zu unserer besonderen Beschämung geschehen, dass die gesellschaftlichen Visionen der Jugendbewegung, die uns in Deutschland zerstoben sind, von jungen jüdischen Menschen in Israel heute in die Wirklichkeit übersetzt sind wie sonst nirgends in der Welt. Wenn sie uns erlauben, dann möchten wir von hier aus diese Menschen, die zu uns gehörten und aus unserem Lande vertrieben worden sind, von Herzen grüßen! Wir wollen uns hüten, unsere Irrtümer mit unserer damaligen Jugend zu entschuldigen. Den Wahnsinn des Krieges und die Gräuel der Juden-, Zigeuner- und Polenermordung haben auch wir auf unsere Weise, ohne die Konsequenzen zu ahnen und zu wollen, in Torheit und Blindheit mit vorbereitet. Soweit wir (wie auch ich) daran beteiligt waren, wollen wir das nicht uns selbst verzeihen, sondern nur Gott und die betroffenen Völker um Vergebung bitten können.
Was aber wäre diese Bitte ohne den entschlossenen Bruch mit jenen Torheiten von damals und ohne Aufbruch zu neuen Wegen? Was ist geschehen seither? Die Gräuel Hitlers und der Seinen haben sich fortgesetzt in Hiroshima und Algerien – und keiner weiß, welche entsetzlichen Wiederholungen sie in diesem Jahrhundert noch finden werden.
In unserem Vaterlande aber haben es die deutschen Politiker unter eifriger Mitwirkung von Jugendbewegten auf beiden Seiten fertig gebracht, die deutsche Jugend wiederum in Uniformen zu stecken, diesmal aber auf den Wunsch auswärtiger Mächte gegeneinander, gegeneinander geschult, zu neuen Entsetzlichkeiten bereit. Was für eine grauenvolle Bilanz, nicht geahnt von denen, die sich vor 50 Jahren hier oben sammelten in der Hoffnung auf „eine neue Zeit deutschen Jugendlebens“, wie der Aufruf damals sagte. Dieses Jugendleben fand dann im Massengrab statt, zweimal hintereinander, mit Hinopferung bester Auslese deutscher Jugend.
Deshalb muss der Tag des Hohen Meißner 1963 auch ein Tag trauernden Nachdenkens sein
über das zweimalige Scheitern einer herrlichen Bewegung deutscher Jugend, – und zwar ja nicht in einer verklärenden Trauer, sondern in einer schonungslosen:
Sie haben in ernstem, gläubigem, aber erkenntnislosem Idealismus sich führen lassen zu sinnlosem Morden. Nicht in Langemarck haben wir, wie wir es törichterweise getan haben, die Manifestation der politischen Sendung deutschen Jugend zu suchen, sondern in einem leider ziemlich einsamen Dokument, in dem Telegramm nämlich, das am 28. Juli 1914, ein Jahr nach dem Hohen Meißner, der Bundestag der „Deutschen akademischen Freischar“ auf die Nachricht von der drohenden Kriegsgefahr an den Kaiser sandte:
„Schützen Sie die Jugend der ganzen Welt vor dem entsetzlichen Unglück eines Krieges! Machen Sie in letzter Minute die äußerste Anstrengung für die Erhaltung des Friedens!“ Das ist die vernünftigste politische Äußerung aus der ganzen Geschichte der Jugendbewegung: keine Phrase vom Opfer fürs Vaterland und vom geschlossenen Stehen hinter dem Kaiser ect., sondern
Solidarität mit der Jugend der anderen Länder und Notschrei für den Frieden!
Einige Tage darauf ging das alles in der Kriegsbegeisterung unter. Für uns heute aber, nach dem zweifachen Gemetzel, in das sich die europäische Jugend hat hineintreiben lassen, muss klar sein:
1. Diese Todesopfer waren sinnlos und die nächsten, für die man euch heute einübt,
werden noch sinnloser sein.
2. Der Zusammenbruch Deutschlands fand nicht 1945, sondern 1933 statt,
unter kräftiger Mitwirkung vieler Jugendbewegter.
3. Darum ist heute das Gebot, wie jenes Telegramm sagte:
„die äußerste Anstrengung für die Erhaltung des Friedens“.
Das ist das Kriterium, an dem ihr Politiker, Programme und Regierungen messen soll und es ist zugleich die Verpflichtung, mit dem Erwachsenwerden in die politische Arbeit einzutreten, in die zähe, nüchterne Arbeit, viel bewusster, als wir es damals getan haben – aber mit diesem Ziel vor jedem anderen.
4. Und dies in Solidarität mit der Jugend der ganzen Welt. Denn eure Zukunft werdet Ihr westdeutsche und westliche Jugend nur gewinnen können zusammen mit der Jugend der anderen Völker und nicht gegen sie: also, was auch die Hetzer des Kalten Krieges in allen Lagern predigen mögen, nur mit der kommunistischen Jugend der Sowjetunion, nur mit den jungen Kommunisten und Nichtkommunisten in Polen und den anderen Ostblockstaaten, nur mit der „Freien deutschen Jugend“, wie sie sich selbst nennt, ohne es leider zu sein, mit den jungen SED-Leuten und den jungen Christen in der DDR – und sicher auch nur zusammen mit der Jugend Chinas und der farbigen Völker.
Darum sucht Verbindung mit ihnen allen, lernt sie kennen, sprecht mit hinein, auch wenn euch einer hüben und drüben daran hindern will, dann wisst ihr, was ihr von ihm zu halten habt: Er ist ein Feind eurer Zukunft! Habt den festen Willen, an den Trennungen der alten Generation nicht wieder einmal die Zukunft zu Schanden werden zu lassen. Es lohnt sich nicht zu töten und zu sterben für eines der beiden Systeme, die heute die Welt zerreißen, die beide falsch sind und die beide tief verändert werden müs-sen, wenn die Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts gemeistert werden sollen. Es lohnt sich aber zu kämpfen und zu leben für die Meisterung dieser Probleme.
Dies ist sicher: Wenn jemand in 55 Jahren im Jahr 2018
noch das Bedürfnis empfinden sollte, hier oben des Aufbruchs deutscher Jugend zu gedenken, dann werden Kapitalismus und Kommunismus wenig mehr dem gleichen, was sich heute so nennt – und dann wird ein solches Gedenken nur möglich sein, wenn die europäische Jugend sich nicht aufs neue hat den Torheiten der älteren Generation zum Opfer bringen lassen.
So schaut zurück auf die, die vor euch aufgebrochen sind, befreit euch von unseren Irrtümern, nehmt dankbar auf und entwickelt weiter, was zukunftsträchtig gewesen ist an unserem Leben und Wollen, schaut auf uns zurück, um dann desto besser vorwärts zu schauen und vorwärts zu gehen!
Helmut Gollwitzer