Was passiert mit einer Gesellschaft, die sich zwar über Arbeit definiert, in der es aber schon längst nicht mehr Arbeit für alle gibt? Dies ist eine der großen Fragen unserer Gegenwart. Michel Hirsch bedient sich in seinem bei Springer VS erschienenen Buch Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft sich eben damit zu beschäftigen, er folgert: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus – und bisher gibt es keinen Weg aus diesem Dilemma!
Wie sind wir überhaupt in diese Falle geraten? Hirschs Antwort: „Unsere Gesellschaft definiert die soziale Identität eines Menschen primär über seine Stellung im Erwerbsprozess, soziale Unterschiede zwischen verschiedenen Positionen symbolisieren einen unterschiedlichen Wert von Personen. Darin liegt eine folgenschwere Festlegung unserer Gesellschaftsordnung auf drei verschiedenen Ebenen: der metaphysischen Ebene des Denkens über den Menschen, der Ebene der herrschenden Arbeitszeit- und Lebensverlaufsmodelle und der unserer Sozialstaatsmodelle. Alle drei Ebenen müssen heute revidiert werden.“
Die Verlierer des bisherigen Systems sind nicht nur arbeitslose Hartz-IV- Empfänger und Prekäre am unteren Rand des gesellschaftlichen Spektrums. Es sind mittlerweile fast alle Gesellschaftsmitglieder, die von wachsenden Unsicherheiten, vom Zwang zur Überbeschäftigung und einem immer härter werdenden Kampf ums Dasein erfasst werden. Hirsch sieht das Streben nach Vollzeitbeschäftigung und die Umsetzung der Hartz-Reformen kritisch: „Das Festhalten an der Hegemonie der Erwerbsarbeit hat eine Ideologie der Beschäftigung und einen Staat der Arbeitsbeschaffung hervorgebracht“, sagt der Autor. „Dies bedingt einen zentralen Entwicklungsengpass unserer Gesellschaft. Es entsteht eine Regierung sozialer Unsicherheit, die Gehorsam und Arbeitsdisziplin erzwingt nach dem Motto `Jede Arbeit ist besser als gar keine´. Die Angst vor dem sozialen Abstieg wird zum legitimen Herrschaftsinstrument. Als Folge wird die Demokratie insgesamt geschwächt.“
Hirsch fordert vor diesem Hintergrund eine Demokratisierung der Arbeit – eine Sozialordnung, die auf einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf alle Mitglieder der Gesellschaft beruht. Als Voraussetzungen für die praktische Umsetzung nennt er eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens und eine Revision unserer Geschlechterordnung und ihrer männlich dominierten Bewertungsmaßstäbe. Er formuliert so nicht nur eine umfassende Kritik der Arbeitsgesellschaft, ihrer ideologischen Grundlagen und politischen Funktionslogik. Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft soll vielmehr aufzeigen, wie sich zahlreiche Dilemmata der Arbeits- und Sozialpolitik, der Familien- und Geschlechterpolitik, der Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturpolitik fortschrittlich auflösen lassen. Die Publikation zeichnet damit gleichzeitig auch den Grundriss einer möglichen emanzipatorischen Alternative.
Dr. Michael Hirsch ist Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen, Dozent an der Münchner Volkshochschule und freier Autor.
Michael Hirsch
Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft
Eine politische Philosophie der Arbeit, 272 S.
Softcover € 34,99 (D) | € 35,97 (A) | sFr 37.00 (CH)